Zehn Jahre Deutsche Einheit

Widerstand ist machbar

Auf ihrer Suche nach den Fehlern der Neunziger fällt die Linke hinter die Kritik der Siebziger zurück. Vielleicht liegt ja ein Ausweg aus der Krise in der Besinnung auf das »noch nie Dagewesene«.

So richtig es ist, dass Felix Klopotek und Gaston Kirsche der bloßen Feststellung des Niedergangs der Linken - »Widerstand war zwecklos« (Stefan Wirner) - die Forderung entgegensetzen, kritisch zu rekonstruieren, wie es dazu kommen konnte, so schade ist es, dass beide lediglich »Beschreibungen des Faktischen« (Klopotek) liefern. Kirsche geht über Klopotek insofern noch hinaus, als er die Praxis der gewesenen Linken wenigstens ins Auge fasst, während Klopotek deren Scheitern schon in ihrem Einlassen auf politische Praxis überhaupt erkennt. Konsequent hält er den Protagonisten der Aktion jene Praxis-Abstinenz entgegen, mit der seine Kronzeugen aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung bereits 1967/68 verfehlten, was historisch möglich gewesen wäre.

Das ehedem Mögliche aber entgeht jeder »Beschreibung des Faktischen«, weil diese nur das zu fassen vermag, was gerade »rekuperiert« wurde. Mit dem Begriff der Rekuperation versuchten die Situationisten jenen Prozess zu fassen, in dem subversive Praxis für die Modernisierung der bestehenden Verhältnisse funktionialisiert wird. Dazu kommt es, wenn die Subversion die Möglichkeiten nicht ausschöpft, die ihr historisch gegeben sind. Indem sie ihre historische Kritik auf das lenkt, was möglich war, aber unausgeführt blieb, erscheint Aufklärung über die Rekuperation immer fruchtbarer als das selbstgerechte Verrechnen der Fehler der anderen. Will man die Möglichkeiten in den Blick nehmen, die verspielt wurden, muss man, soweit ist Klopotek zuzustimmen, von der Zäsur von 1989 auf jene von 1968 zurückgehen.

Um zu Beginn Kirsches berechtigter Forderung nachzukommen, jede Kritik habe mit der eigenen Geschichte zu beginnen, sei angemerkt, dass ich meine Politisierung der Frankfurter Gruppe Revolutionärer Kampf verdanke, die bedauerlicherweise die widerwärtigsten Charaktermasken der linken Niederlage hervorgebracht hat. Ihre Entstehung ebenso wie ihre Praxis aber stehen durchaus stellvertretend für die drei entscheidenden Konstellationen linker Politik seit dem Hervortreten der Neuen Linken.

Das wirklich Neue an der Neuen Linken war zunächst einmal ihre politische Positionierung. Quer zu sozialdemokratischen und parteikommunistischen Traditionen griff sie anarchistische und syndikalistische Impulse ebenso auf wie solche linkskommunistischer Herkunft - Momente, die in der Arbeiterbewegung immer randständig geblieben waren. Damit zusammen hängt auch die zweite Neuerung: Zirkel wie die Gruppe Spur oder die Subversive Aktion versuchten schon früh, die sozialen Verkehrsformen selbst zu politisieren. Ihr Angriff zielte auf die Beziehungen und Verhältnisse des Alltagslebens - und richtete sich gegen die herrschende Moral ebenso wie gegen ihre ideologischen Apparate: Familien, Schulen, Universitäten und Betriebe also.

Mit der diffusen Verbreitung solcher Praxen während der sechziger Jahre entstanden neue öffentliche Räume, sub- oder gegenkulturelle Kommunikationsformen, die zu qualitativ anderen Organisationsweisen sozialen Protests führten. Zur wesentlichen politischen Dimension des subversiven Handelns wurde jetzt, was für die Alte Linke bloß »vorpolitisch« gewesen war. Zwar hatte auch die Arbeiterbewegung diesen Raum besetzt und eigene Parallelinstitutionen geschaffen - von den informellen Nachbarschaftsbeziehungen und den Sportvereinen über Konsum- und Wohnungsbaugenossenschaften bis zu Kultur- und Bildungsorganisationen -, doch gelang es den Parteifunktionären immer wieder, diese Netze erfolgreich dem unterzuordnen, was sie für das »eigentlich Politische« hielten und verwalteten.

Die Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre erreichten hier eine entscheidende Verschiebung: Die direkte Aktion, in der subjektive Autonomie, soziales Bedürfnis und kollektive Organisation zusammenfallen sollten, wurde als eigentliches Moment der Politisierung verstanden - und barg per se eine radikale Kritik der Politik in sich.

Auch dieser Verschiebung ist es zu verdanken, dass die jahrzehntelange Hegemonie der Adenauer-CDU ein Ende fand und die sozialliberale Koalition Anfang der siebziger Jahre mit der Reform nahezu aller ideologischen Apparate beginnen konnte. Die veränderten Verhältnisse eröffneten eine neue Konstellation, die unterschiedlichen sozialen Bedürfnissen breite Spielräume schuf. Zum Teil erfand sie diese Bedürfnisse sogar erst. In Formeln wie jener von der »Politik in der ersten Person« oder der vom politischen Charakter des Privaten fanden diese Bedürfnisse ihren Ausdruck.

In der Folge begann eine vielfältige Suche nach Organisationsweisen, die der veränderten Konstellation angemessen sein sollten. Es formierten sich die Neuen Sozialen Bewegungen der Jugendlichen, Frauen, Lesben und Schwulen, die Ökologie- und die Dritte-Welt-Bewegung. In einer Vielzahl von Auseinandersetzungen in Schulen, Universitäten, Betrieben und Stadtteilen wurde lokale Organisation mit überregionalen Kampagnen verbunden. Gleichzeitig schlossen sich Hunderttausende der SPD, der DKP und den diversen maoistischen und trotzkischen Parteiprojekten an und/oder begaben sich auf den »Marsch durch die Institutionen«. Andere setzten auf die Strategie bewaffneter Konfrontation. Der Logik historischer Praxis wäre es völlig unangemessen, diesen Differenzierungsprozess in einen Streit zweier Linien zu verfälschen, der die beteiligten Akteure nach Gut und Böse - etwa in Autonome und Traditionalisten - sortierte.

Dennoch kommt es jetzt zu einem Rückfall hinter die zuvor erreichte Kritik an der Spaltung von politischer und vorpolitischer Sphäre. Dem entspricht die konfrontative Fixierung auf den Staat, der diese Spaltung vorgibt und beständig reproduziert. Sämtliche Strömungen der Post-68er-Linken, auch die autonomen, sind davon ergriffen und verschenken damit die Möglichkeit, eine quer zur staatlichen Politik wie zur klassischen Oppositionspolitik verlaufende Subversion der alltäglichen Verkehrsformen zu entwickeln.

In gewisser Weise bekommt Klopotek jetzt Recht, weil nun zu Identitätspolitik gerinnt, was zu etwas anderem hätte werden können. Allerdings gilt auch hier, worauf Manuela Bojadzijev, Serhat Karakayali und Vassilis Tsianos am Ende ihres Beitrags verweisen: Selbst die scheiternde Praxis birgt in sich noch Möglichkeiten, die identifikatorischen Elemente zu überwinden.

Die dritte Konstellation schließlich, die der Kürze halber nur mit den Schlagworten von der »postfordistischen Transformation« und dem »Epochenbruch von 1989« angesprochen werden soll, bringt uns in die Gegenwart. Die sozialen Bedürfnisse, die sich vom Aufbruch 1968 bis zu den Neuen Sozialen Bewegungen der achtziger Jahre weiterentwickelt haben, werden heute nicht etwa unterdrückt, sondern - und das erst macht die Niederlage aus - zu einem erheblichen Moment in die Rekonstruktion von Herrschaft investiert. Exemplarisch zeigen lässt sich das an den gegen das fordistische Arbeitsregime gerichteten Bedürfnissen, die in den frühen siebziger Jahren ihre Artikulation in Fabrikrevolten fanden und später Motoren der Alternativ-Ökonomie- und Jobber-Bewegung waren. Heute jedoch begeistert diese sich für die postfordistischen Arbeitsverhältnisse.

Auf der Ebene des formell Politischen fand diese Rekuperation ihren Ausdruck in der Gründung der Grünen, der die anderen Strömungen der Linken nichts entgegenzusetzen wussten. Ihren Abschluss findet sie in der Eroberung der kulturellen Hegemonie durch die Neue Mitte; politisch artikuliert sie sich in der Symbiose von Menschenrechtsimperialismus und rassistischer Modernisierung - ein Projekt, das in seiner gegebenen Form nur von der rot-grünen Regierung durchzuführen war.

So richtig es ist, dass die gesellschaftlich momentan völlig irrelevante Linke sich demgegenüber primär als antinationale und antirassistische Bewegung zu bestimmen versucht, so notwendig ist es, Möglichkeiten zu finden, in denen diese Orientierungen zum sozialen Bedürfnis werden können. Da solche Gelegenheiten sich nicht einfach durch Einsicht in die schlechte Fortdauer des Gegebenen herbeizwingen lassen, ist die Linke aufgefordert, eine Art Übergangspraxis zu entwickeln, die diese Möglichkeiten wenigstens offen zu halten vermag. Dazu gehört zunächst, sich von dem nicht abtrennen zu lassen, was unerfüllt geblieben ist. Ein Aktivismus, der die Tiefe des Bruchs verhehlt, und eine allein um Selbstbeweihräucherung bemühte Kritik sind dabei lediglich die beiden Backen des Arsches, der sich in der Niederlage nur noch platt sitzen kann.