Sozialhilfe und Zwangsarbeit

Arbeit macht arm

Die Sozialhilfe soll künftig nur noch bei entsprechender Aufopferung für die Gemeinschaft gewährleistet werden.

Das Papier war Programm. »Moderne Sozialdemokraten«, schrieben Tony Blair und Gerhard Schröder in ihren Thesen zur Neuen Mitte im Sommer letzten Jahres, »wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln.« Seither ist man bemüht, die deutsche Sozialhilfe zurechtzustutzen.

Erst Ende Oktober hatte die 77. Konferenz der Arbeits- und Sozialminister der Länder (ASMK) einen von Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen vorgelegten Leitantrag »zur Überwindung von Sozialhilfebedürftigkeit« zugestimmt. In einer »konzertierten Aktion«, heißt es da, müsse die Sozialhilfe zur »Leistungsbeziehung auf Gegenseitigkeit« ausgestaltet werden, damit dem im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) verankerten »Hilfeanspruch rechtlich und tatsächlich die Mitwirkungspflicht der Hilfeempfänger gleichgewichtig gegenüber« gestellt werden könne.

Die schleswig-holsteinische Sozialministerin Heide Moser drückte es deutlicher aus: »Mit fadenscheinigen Begründungen soll sich niemand der Eingliederung in den Arbeitsprozess widersetzen.« Deshalb, so Moser, müssten Arbeitsanreize und Sanktionen miteinander verbunden werden.

Die Fixierung auf die Lohnarbeit war schon immer zentral für das deutsche Sozialsystem: Keine Rente ohne Arbeit, kein Arbeitslosengeld ohne Maloche. Einzig die Sozialhilfe vermittelte den Anschein, frei von auf »Lohnarbeit zentrierten Vorbehalten« zu sein. Als »Ausfallbürge für die Fälle sozialer Notlage« bezeichnete die Adenauer-Regierung 1960 die Sozialhilfe in ihrem Gesetzentwurf. Niemand ging ernsthaft davon aus, dass das neue Gesetz, mit dem erstmals ein individueller Rechtsanspruch auf Fürsorge geschaffen wurde, vielfach in Anspruch genommen werden würde. Schließlich herrschte Vollbeschäftigung: Die Arbeitslosenquote lag 1960 bei 1,3 Prozent und sank in den folgenden sechs Jahren auf 0,7 Prozent.

Leistungen wurden von Anfang an nach Bedarf, aber nicht vorbehaltlos gewährt. Katholische Soziallehre und protestantische Ethik standen Pate bei der Übernahme des Subsidiaritätsprinzips - hilf dir selbst, bevor der Staat dir helfen muss - auf der einen und der Prüfung des Arbeitswillens auf der anderen Seite. So sah das Bundessozialhilfegesetz bis 1974 bei »Arbeitscheu und unwirtschaftlichem Verhalten« die »Unterbringung in einer Arbeitseinrichtung« vor.

Im Einzelnen zielt der Beschluss der Sozialminister auf die im Sozialhilfegesetz verankerte Hilfe zur Arbeit (HzA), die von der Beschaffung tariflich entlohnter, sozialversicherungspflichter Tätigkeit bis hin zu gänzlich verherrschaftlichten oder pädagogisierten Beschäftigungen reicht, darunter auch die so genannte gemeinnützige Arbeit. Bis heute wirkt die HzA als zweite Bedarfsprüfung. Das heißt, wer wirklich bedürftig ist, nimmt auch automatisch die HzA an.

Obwohl im Berliner Bezirk Wedding bereits Mitte der siebziger Jahre Arbeitszwangsstellen geschaffen wurden, begann die flächendeckende Anwendung der HzA-Paragrafen erst Anfang der achtziger Jahre. Im Winter 1981/82 mussten pakistanische Asylbewerber Granulat von Berlins Straßen fegen. Als Lohn erhielten sie eine Mehraufwandsentschädigung von zunächst 1,60 Mark, später dann drei Mark pro Stunde. Wer sich weigerte, bekam weniger Sozialhilfe und Schwierigkeiten im Asylverfahren. Auch seit der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes 1993 müssen AsylbewerberInnen weiterhin an Arbeitszwangsmaßnahmen teilnehmen. Sie erhalten dafür maximal 75 Prozent der ohnehin nicht mehr das sozio-kulturelle Existenzminimum sichernden Sozialhilfe und zusätzlich noch zwei Mark Stundenlohn.

Die per Pass anerkannten Mitglieder der deutschen Gemeinschaft soll die Hilfe zur Arbeit in den Arbeitsmarkt reintegrieren. In Wirklichkeit aber sind viele HzA-Maßnahmen eine Reaktion darauf, dass die Kosten der Arbeitslosigkeit zunehmend kommunalisiert worden sind. HzA fungiert so als finanzieller Verschiebebahnhof. Ein sozialversicherungspflichtiger HzA-Job hat den Vorteil, dass die verpflichtete Person nach einem Jahr getrost arbeitslos werden kann. Dann hat sie Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung - und die wird vom Bund ausgezahlt.

Worüber die Sozialämter zunächst selbst entscheiden durften, gilt seit der Sozialhilfereform von 1996 als verpflichtend: Wer zumutbare Arbeit - also alles, was Menschen im halbwegs gesunden Zustand verrichten können - ablehnt, wird vom Amt belehrt und muss dann auf ein Viertel seiner Sozialhilfe verzichten.

Aber moderne SozialdemokratInnen wollen noch mehr. Bundesarbeitsminister Walter Riester etwa signalisierte auf der ASMK, bei der nächsten Sozialhilfereform auf die Forderungen seiner Länderkollegen eingehen zu wollen, die Sozialministerin Moser exemplarisch formulierte: »Weg von der effizienten Abwicklung von Zahlungsvorgängen hin zu einer vorrangig aktivierenden und fördernden Hilfe.« Neben weiteren Repressionen plant die ASMK den Ausbau des sozialhilferechtlich geförderten Niedriglohnsektors, um den Arbeitsanreiz zu vergrößern.

Die Entwicklung geht vom Recht auf existenzielle Sicherung zur staatlich animierten Pflicht gegenüber der Gemeinschaft. Das Leitbild ist der aktivierende Staat: Sozialämter als Profitcenter, SozialhilfeempfängerInnen als KundInnen eines erfolgsorientierten Dienstleistungsangebots für Bedürftige. Die notwendige Modernisierung des öffentlichen Sektors läuft darauf hinaus, immer mehr Bereiche nach betriebswirtschaftlichen Kriterien zu verändern. Benchmarking, eine Lieblingsvokabel der Neuen Mitte, bringt es begrifflich auf den Punkt: Wettbewerb in und zwischen den Ämtern und Kommunen. Wer die best practices findet, hat gewonnen. Aber was?