Bürgerliche und linke Presse

Konsequenzen? Selbstkritik!

Die Linke kann ihren Gegner nicht besiegen, solange sie seine Sprache spricht.

Worin denn die Existenzberechtigung der linken Presse und insbesondere der Jungle World heute noch bestehen könne, da doch der Kapitalismus auch in den Feuilletons der Bürgerpresse immer öfter und manchmal ganz schön heftig kritisiert werde, fragte vor einer Woche Diedrich Diederichsen. Seine erste vorläufige Antwort lautete, immerhin sei die Jungle World das einzige an jedem Kiosk erhältliche Blatt, in dem noch das böse Wort »Ausbeutung« vorkomme.

Neuerdings ermöglichen es die Internet-Archive aller bedeutenden und nicht so bedeutenden Zeitungen und die dazugehörigen Suchmaschinen, eine präzise Ausbeutungsstatistik zu erstellen und aus ihr den jeweiligen Ausbeutungskoeffizienten zu errechnen. Wenn man die Zahl der einschlägigen Fundstellen (171) durch die Zahl der Ausgaben (übern Daumen 200) dividiert, die im Archiv erfasst sind, so ergibt sich für die Jungle World ein Ausbeutungskoeffizient von 0,855. Einen höheren Wert erreicht und kapitalismuskritischer ist deshalb, man glaubt es kaum, die taz, auf deren Seiten 1,42mal wöchentlich ausgebeutet wird.

Ganz schlecht schneiden ab und schämen müssen sich die Zeit (0,18) und der Spiegel (0,01). Die Jungle World belegt demnach und Diederichsens Vermutung zum Trotz nur einen mittleren Tabellenplatz, knapp unter der FAZ (0,866). Der Einwand, dieses letztere Organ meine doch, wenn es von der Ausbeutung spricht, immer nur die Kunstgeschichte, irgendwelche Erdölvorkommen, die Kinderarbeit in Indien oder die DDR, interessiert den Statistiker nicht.

Was soll's also? Wenn selbst einem Fritz J. Raddatz »anlässlich des Kapitalismus an und für sich der Arsch auf Grundeis« geht (Diederichsen), wozu brauchen wir dann noch einen Robert Kurz? Zumal dieser den Kapitalismus ja auch überall dort kollabieren lässt, wo es der Unterhaltung dient und bezahlt wird, zuletzt in der nächtlichen Kaminrunde des ZDF? Wozu brauchen wir, da man offenbar überall alles sagen kann, noch eine linke Presse?

Zu vermuten ist, dass es nicht der Kapitalismus war und schon gar nicht der Kapitalismus an und für sich, anlässlich dessen Raddatzens Arsch auf Grundeis ging, dass es nicht einmal sein Arsch war und auch kein Grundeis. Die Lektüre des einschlägigen Artikels bestätigt diesen Verdacht. »Das gute alte Marx-Wort Entfremdung ist aktueller denn je«, rührt Raddatz die Leserschaft auf, denn wir alle erfahren die Entfremdung tagtäglich »beim Autokauf, beim Reiseveranstalter, beim Reklamieren nachlässig zusammengeschusterter Ware, beim Lügen der Politiker und beim Mogeln der Medien«. Schlimm ist »der manipulierte Mensch«, schlimmer der Neoliberalismus, »denn es handelt sich nicht um eine neue, avancierte Form von liberal«, sondern »um die fälschend etikettierte Rücknahme liberaler Ideen und Strukturen«, am schlimmsten aber das »Hauptprodukt des zeitgenössischen Kapitalismus«, nämlich der »Demokratieverdruss«, denn er ist »der tödlichste Feind der Demokratie«.

So liest sich die Kritik derjenigen, die den Kapitalismus für ein Übel, die Marktwirtschaft aber für ein Menschenrecht halten, die den Kapitalismus abschaffen wollen, um die Demokratie zu retten. Wagten sie nun noch den letzten kleinen gedanklichen Schritt zur Einsicht, dass mit dem Kapitalismus auch die Demokratie aufhört, dann müssten wir wohl erblassen. Sie möchten es uns aber partout nicht antun. Und deshalb brauchen wir - so viel Arroganz muss sein - eine Gräfin Dönhoff oder einen Heribert Prantl nicht zu fürchten. Kapitalismuskritik, wenn sie denn gewünscht wird, können wir besser.

Diederichsen ergründet die besondere Qualität, die einen Artikel der Jungle World davor bewahrt, in der bürgerlichen Presse nachgedruckt zu werden. Als vor ein paar Monaten landlose Bauern die Fazienda des brasilianischen Präsidenten besetzten, um ihre Forderung nach einer Landreform auf illegale Weise zu bekräftigen, fand ihr Anliegen auch hierzulande Verständnis, sie wurden aber daran erinnert, dass sie in einer Demokratie leben, dass sie folglich die Gesetze zu respektieren haben und dass jede Gewaltanwendung sie zu gewöhnlichen Kriminellen machen würde.

Die lateinamerikanische Geschichte der letzten hundert Jahre, so hätte man einwenden können, beweist allerdings die Unmöglichkeit, eine Landreform mit friedlichen Mitteln durchzusetzen, denn alle bisherigen Versuche wurden gewaltsam unterdrückt. Notfalls wurde Demokratie durch Faschismus ersetzt. Ein Kommentar hätte am aktuellen Beispiel wieder einmal den identischen Klassencharakter dieser beiden im liberalen Verständnis vollkommen gegensätzlichen Herrschaftsformen entlarven können, und er wäre in der Jungle World, kaum aber in der Süddeutschen Zeitung erschienen. Dass er auch in der Jungle World nicht erschienen ist, lag wirklich nur an einer vorübergehenden Krankheit des zuständigen Redakteurs.

Es sei aber gar kein besonderer Inhalt, der die Jungle World von den Blättern der Bürgerpresse unterscheidet, meint Diederichsen, es sei vielmehr der Stil. »Man spricht auf eine bestimmte Weise, weil man - wie restbeständig auch immer - mit dem, worüber und wie man spricht, lebt. Diese irreduzible Verbindung von Leben und Argument, wie metaphysisch ihre Konstruktion auf den ersten Blick auch erscheinen mag, ja wie romantisch, ist tatsächlich der nicht exportierbare Rest, das Spezifikum. Aber dementieren dies nicht wiederum Sonderfälle der bürgerlichen Presse wie die Berliner Seiten der FAZ?« Nun könnte allerdings nicht sonderlich substanziell sein, was sich von den Berliner Seiten dementieren ließe. In der Jungle World findet man zwar hin und wieder einen Artikel, der sich vom alltäglichen Mediengerede absetzt, ob aber der Autor mit dem, worüber und wie er spricht, auch lebt, bleibt meistens sein Geheimnis. So etwas wie ein kollektiver Stil spricht sich allenfalls neuerdings in den Kleinanzeigen aus, und es ist ziemlich infantil und nur schwer erträglich.

Die Autoren und Redakteure der Jungle World stecken in keinerlei besonderen Lebenszusammenhängen, aus denen ein besonderer Stil entstehen könnte. Deshalb wird der Stil, der »nicht exportierbare Rest«, für gewöhnlich aus der Bürgerpresse importiert, und dem Produkt, das auf diese Weise entsteht, sieht man allzu oft an, dass es sich liebend gern exportieren ließe. Es ist aber bloß deshalb nicht exportierbar, weil es ihm an der nötigen handwerklichen Qualität mangelt. Die Macken, Marotten, Moden und Dummheiten des bürgerlichen Journalismus werden auf bescheidenem Niveau imitiert, denn man hält die gängige Schreibe für professionell. Sie ist aber einfach nur blöd. Unbeeindruckt von diesem Stil bleiben nur die Beiträge der akademischen Linken, aus denen seit dreißig Jahren derselbe betäubende Kalk rieselt. (Und da der Feminismus heute wohl nur noch an den Universitäten betrieben wird, rieselt es aus ihm ganz ähnlich.)

Über den Stil der Jungle World, wenn man ihn sich wünschen dürfte, ließe sich wohl nur sagen, dass er nicht mitmacht. Denn wir werden den Gegner nicht besiegen können, solange wir seine Sprache sprechen. Die Gewerkschaft der Eisenbahner heißt neuerdings transnet, sie verkauft aber trotzdem keine Flatrate. Der neue Name enthält die Botschaft: Es ist uns inzwischen oberpeinlich, dass es uns noch gibt. Wir wollen auch ein Start-up sein, wir wollen auch an die Börse! Deshalb sind wir ab sofort keine Interessenvertretung der Lohnabhängigen mehr, sondern ein Unternehmen der New Economy, das Tarifverhandlungen als Dienstleistung anbietet, demnächst auch online. Selbstredend könnte auch Herr Mehdorn unser Kunde sein, warum denn nicht? Auch die Bundesregierung leidet offenbar sehr darunter, dass sie sich selbst nicht privatisieren kann, ersatzweise veröffentlichte sie in diesem Jahr erstmals einen Geschäftsbericht, und bald wird sie sich wohl BundesRegierung.de schreiben. Das ist der Stil einer Kapitulationserklärung.

Um zur Ausgangsfrage zurückzukehren: Wie muss ein Text beschaffen sein, will Diederichsen wissen, damit er von der Jungle World, auf keinen Fall aber von der Bürgerpresse gedruckt werden kann? So wie dieser hier zum Beispiel, der das Blatt madig macht, in dem er erscheint.