Staatlicher Kampf gegen BSE

Unklarheiten umsetzen

Vor drei Wochen ist BSE in Deutschland angekommen. Seither wird gehandelt - schnell, aber kopflos.

BSE soll durch die Verfütterung von Tiermehl verursacht worden sein, aber die Kuh, die zum ersten deutschen BSE-Fall deklariert wurde, hat kein Tiermehl gefressen. Über das Fleisch von Rindern, die an BSE erkrankt sind, sollen Prione auf den Menschen übertragen werden, die eine neue Form von Creutzfeld-Jacob (vCJK) auslösen können, aber in England und Frankreich sind jüngst Vegetarier erkrankt. Diese Widersprüche sind nur zwei Beispiele für die Unsicherheiten, die auch von den zahllosen Experteninterviews, die deutsche Medien während der letzten drei Wochen führten, nicht beseitigt wurden.

Wie aber können politische Entscheidungen im Schnellverfahren getroffen werden, wenn keine klaren Kriterien vorhanden sind? Selten lässt sich die sonst eher versteckte Problematik, wie in der kapitalistischen Technokratie wissenschaftliche Expertise die politische Entscheidungsfindung beeinflusst, besser beobachten als zur Zeit.

Wenn Gesundheitsministerin Andrea Fischer darüber nachdenkt, Personen, die längere Zeit in Frankreich oder England gelebt haben, vom Blutspenden auszuschließen, erscheint das ähnlich bizarr wie die Beschreibung der Rindfleisch-Problemzonen: Hirn, Augen und Rückenmark seien möglicherweise tödlich. Steaks hingegen seien beruhigend weit weg von diesen gefährlichen Zonen. Auch Milch sei unbedenklich, manche Jogurte dagegen nicht - wegen beigegebener Gelatine aus Rinderknochen. Arzneimittel, die größtenteils Rinderbestandteile enthalten, sollen aber wiederum ungefährlich sein. Vielleicht sind die Weiden vergiftet, aber nur vielleicht.

Dass ein einzelner Fall eines BSE-Nachweises eine Lawine von Erklärungen und Eilverordnungen auslösen konnte, zeigt, wie krampfhaft die Fiktion aufrecht erhalten wurde, BSE sei kontrollierbar. Seit dem 2. Dezember gilt ein allgemeines Verfütterungsverbot von Tiermehl. Ein Düngeverbot soll folgen. Tierfette wurden einen Tag später als Kälberfutter wieder zugelassen. Gleichzeitig müssen alle Rinder über 30 Monate auf BSE getestet werden. Andrea Fischer und die nordrhein-westfälische Landwirtschaftsministerin Bärbel Höhn halten das für unzureichend und fordern, dass alle geschlachteten Rinder getestet werden.

In Gang gesetzt wurde die neue Phase der BSE-Krise, nachdem in England und Frankreich die Zahl der Creutzfeld-Jacob-Erkrankungen weiter gestiegen war. Aber seit wann reagieren die Gesellschaften so empfindlich? Warum einigten sich in Deutschland Bund und Länder nach einem einzigen nationalen BSE-Präzedenzfall innerhalb weniger Tage auf ein allgemeines Tiermehlverbot? Letzte Woche strahlte der WDR eine Sendung über den Forscher Arpad Pusztai aus, der im Experiment nachweist, dass genetisch veränderte Kartoffeln die Organe von Ratten schrumpfen lassen und krebsähnliche Veränderungen auslösen. Diese Entdeckung kann aber kaum verhindern, dass Tiermehl nun zum Teil durch genmanipulierte Raps- und Sojasorten ersetzt wird.

Seit weit über zehn Jahren ist BSE ein zentrales Problem der landwirtschaftlichen Tierproduktion. Trotz HighTech-Medizin ist die Krankheit weder zu behandeln noch epidemiologisch endgültig unter Kontrolle zu bringen. Das erstaunt angesichts eines Tierbestands, der wie ein Bio-Aggregat in Computer-gesteuerter Stallverwaltung mit Nährstoff- und Antibiotika-Infusionen gehalten wird.

Seit 1982 sind in England Fälle von BSE bei Milchkühen und Mastvieh bekannt. 1987 kam eine epidemiologische Studie zu dem Schluss, dass Kraftfutter, das Fleisch- und Knochenmehl enthält, für die Übertragung der Krankheit in Frage kommt. Unter den verarbeiteten Tierbeständen hatten sich möglicherweise von Scrapie - einer BSE-ähnlichen Erkrankung - befallene Schafe befunden. Im Juni 1988 wurde es in England verboten, Wiederkäuern tiermehlhaltiges Futter zu geben. Trotzdem hören auch nach der Tötung von vielen Millionen Rindern die Neuerkrankungen nicht auf. Woran liegt das? Wie beim ersten deutschen BSE-Fall ist nicht auszuschließen, dass das selektive Tiermehlverbot nicht kontrollierbar ist und illegale Mehlbeimischungen vorkommen. Oder wird BSE doch über Weiden übertragen? Oder haben BSE, Scrapie, Creutzfeld-Jacob und andere degenerative Erkrankungen eine andere gemeinsame Ursache? Haben sie zum Beispiel mit Antibiotika oder Phosphaten zu tun?

Die wissenschaftliche Expertise über Ursachen und Verlauf von BSE kann sich aber angesichts so vitaler Fragen wie der Krankheitsübertragung auf den Menschen nicht im Unentschiedenen aufhalten. Hier muss aus Nichtwissen Wissen gemacht und in Entscheidung übersetzt werden. Die BRD-Gesundheitspolitik hat nun in Abstimmung mit der EU zuerst einmal die Tiermehlthese zur Handlungsmaxime erklärt. Gestritten wird in der EU über die Sechs-Monats-Frist für ein Tiermehl-Verfütterungsverbot und die Entscheidung, den Bauern 70 Prozent ihrer Einnahmeausfälle zu erstatten.

Das trägt aber nichts bei zur »Wahrheitsfindung« in Sachen BSE, für den Veröffentlichungspolitik und Länderinteressen eine entscheidende Rolle spielen. Die wissenschaftliche Unentscheidbarkeit ist in die politische verstrickt. So ist nicht einmal geklärt, ob in England die vCJK-Erkrankungen tatsächlich zunehmen, oder ob nur mehr Fälle diagnostiziert werden. Der Münchner BSE-Experte Hans Kretzschmar vermutet, dass sich in Deutschland noch viele Fälle der neuen CJK hinter einer Alzheimer-Diagnose verstecken.

Was aber unterscheidet die BSE-Krise von Berichten über Leukämiefälle im Umkreis von Reaktoren, von Studien über die Zunahme von Hautkrebs oder von der Unfallstatistik der automobilen Gesellschaft, die bisher keine technokratischen Schnellmaßnahmen auslösten? Erstens ist der politische Ursachen-Wirrwarr nicht vom biowissenschaftlichen Thesendschungel zu trennen. Die wissenschaftlichen BSE-Thesen erwiesen sich als inkonsistent. Dieser Riss im Wahrheits- und Machbarkeitsversprechen der Wissenschaft schürte Panik. Eine besondere Rolle dürften zudem die ökonomischen Interessen spielen, die national zu verorten sind und nicht bei multinationalen Unternehmen liegen. In der BRD galt lange Zeit die wettbewerbsstaatliche Gleichung BSE=Großbritannien. Drittens ist die Landwirtschaft noch relativ stark mit dem tradierten Phantasma von uns, unserem Boden und unseren Kühen verbunden. Viertens zeichnet sich in der BSE-Krise die höhere Sensibilität neoliberal ausdifferenzierter Märkte ab: Auch Ökobewusstsein schafft Nachfrage. So hat die AG der Verbraucherverbände letzte Woche als erste die Auflösung des Landwirtschaftsministeriums gefordert. Und Eon zeigt im Moment, wie sich diese ausdifferenzierten Konsumtionsmöglichkeiten - roter, blauer, gelber Strom - populär bewerben lassen.

Die Erfindung des Kontinents »Proteine« entspricht der Notwendigkeit, nach der Entschlüsselung des Genoms ein neues Feld zu eröffnen, auf dessen Erforschung sich wieder Projektionen der Heilung und der technischen Machbarkeit richten lassen. Entsprechend hat Craig Venter bereits vor einigen Wochen erklärt, Celera Genomics werde jetzt die Proteine erforschen. Die durch BSE berühmt gewordenen Prione sind deren Spezialfall.

Die von dem US-amerikanischen Biochemiker Stanley Prusinger Anfang der achtziger Jahre entwickelte These von sogenannten Prionen fand bis zur BSE-Krise kaum Beachtung. Sie liegt weder auf der Ebene von Bakterien, die im 19. Jahrhunder die medizinische Revolution eines Pasteur und eines Koch prägte, noch auf der Ebene von Viren bzw. Retroviren, die zum Revolutionsarsenal der Gentechnologie zählen. Proteine werden nach dieser Theorie wegen der »Faltung« ihrer molekularen Elemente, der Aminosäuren, zu Prionen. Dass Proteine sich nicht nur in ihrer molekularen Zusammensetzung voneinander unterscheiden, sondern auch wegen ihrer räumlichen Struktur, ist schon länger biologisches Wissen. Einer »falschen Faltung« jedoch eine hochgradig ansteckende Wirkung zuzuschreiben, die eine Degeneration der Gehirnmasse auslösen soll, reizt die Faltungsthese weit aus. Sie bleibt bis heute eine Annahme, die nur von Experimenten gestützt wird, in denen »krankes« Hirnmaterial Tieren ins Gehirn injiziert wurde. Es ist im Experiment bisher noch nicht gelungen, durch falsche Nahrung BSE auszulösen.