Die guten Menschen aus Europa

Gemeinsam mit Saddam Hussein mobilisieren europäische Intellektuelle gegen die Vormachtstellung der USA im Nahen Osten.

Saddam Hussein hat die Gunst der Stunde erkannt. Der irakische Staatschef macht seit Monaten gegen die UN-Sanktionen mobil - mit dem Argument, sie träfen einzig die Zivilbevölkerung des Landes. Vergangene Woche nutzte Hussein den von den UN erlaubten begrenzten Ölexport, um 881 Millionen US-Dollar für die palästinensische Intifada zur Verfügung zu stellen. Weniger die große Geste, mit der sich Hussein wieder einmal zum Führer des arabischen Befreiungskampfes aufschwingt, als vielmehr seine neue außenpolitische Handlungsfähigkeit kennzeichnet den derzeitigen Konflikt.

Die Reaktionen sind in den USA und Europa unterschiedlich. Aufrufe und Petitionen, die von den Regierungen dieser Länder fordern, das von ihnen selbst angerichtete Desaster zu beseitigen, leiden zwangsläufig am Widerspruch zwischen Hilflosigkeit und Affirmation. Hilflos wirken derzeit Appelle in der US-amerikanischen Öffentlichkeit, die vor einer Rehabilitation des irakischen Staatschefs Saddam Husseins warnen. »Die internationale Gemeinschaft muss Saddam Hussein mit dem einzigen konfrontieren, das er versteht: Einheit und Stärke«, schrieb etwa Marcus Gee in dem Blatt Globe and Mail aus dem Mittelwesten.

In den europäischen Staaten der ehemaligen Golfkriegsallianz treffen solche Forderungen auf taube Ohren. Dort übt sich das spätestens seit dem Kosovo-Krieg bekannte Bündnis aus Intellektuellen, Menschenrechtsorganisationen und Regierungen zwar in Einheit und Stärke, aber mit, statt gegen Hussein. Und gegen Israel und die USA.

Die Petition von Bourdieu et al.

Eine neue europäische Petition hingegen gehört zur affirmativen Sorte. Nur wenige Tage nach dem europäischen Gipfeltreffen von Nizza begannen »EU-Bürger und andere Besorgte«, für eine an die »EU-Regierungen« gerichtete Petition Unterschriften zu sammeln. Darin werden die EU-Regierungen zur Stornierung aller Verträge mit Israel aufgefordert, zudem dringt man auf eine Anerkennung des Staates Palästina: »Die USA haben aufgrund ihrer konsequenten Parteilichkeit jede Glaubwürdigkeit als Vermittler verloren. Die arabischen Staaten, Europa und die UN dürfen nicht länger ihre Marginalisierung bei der Suche nach einem gerechten Frieden im Nahen Osten hinnehmen.«

Als Kritik verbrämt, manifestiert sich in dem unter anderem von Pierre Bourdieu und Etienne Balibar unterzeichneten Aufruf die aktuelle europäische Außenpolitik in Inhalt und Form. Die angesprochenen Staats- und Regierungschefs hatten in Nizza längst schon Israel einseitig für die Gewalt verantwortlich gemacht und, wie das israelische Außenministerium umgehend kommentierte, mit keinem Wort den palästinensischen Anteil am Konflikt erwähnt. Dabei ist es vor allem die französische Regierung, die seit Wochen die Entsendung einer internationalen Beobachtertruppe verlangt und, wie die linksliberale israelische Tageszeitung Ha'aretz am 17. Dezember meldete, gemeinsam mit Deutschland de facto ein Waffenembargo gegen Israel verhängt hat.

Die Petitionsunterzeichner dienen dem europäischen Unternehmen in Nahost jetzt vor allem ihre traditionelle politische Protestform an. Die Geste der kritischen Intervention, mit der Europa derzeit handfeste strategische Interessen als Protest- und Hilfsaktionen durchsetzt, hat sich erst jüngst im Irak als erfolgversprechend erwiesen. Im September löste dort die Landung einer französischen Verkehrsmaschine auf dem Bagdader Saddam-Flughafen das seit 1990 geltende Flugembargo auf und beschleunigte die Rehabilitation des Regimes.

Den Pariser Friedensaktivisten und Künstlern folgten in nur wenigen Wochen der russische Außenminister, Jordaniens Premierminister, Sudans Präsident sowie Handelsdelegationen und Abordnungen aus den ehemals irak-feindlichen Staaten Syrien und Iran.

Deutsche Friedensflieger

Auch in Deutschland soll Anfang nächsten Jahres ein Direktflug nach Bagdad starten. Ein erster Versuch am 11. Dezember, »organisiert vom Deutsch-Arabischen Friedenswerk und unter Beteiligung irakischer Emigrantengruppen, großer deutscher Firmen, der Deutsch-Irakischen Gesellschaft und weiterer Freunde Iraks« (junge Welt), kam nicht zustande. Obwohl das von dem deutschnationalen Ex-Grünen Alfred Mechtersheimer gegründete Deutsch-Arabische Friedenswerk (DAF) nicht über eine besonders gute Reputation verfügt, weist die angekündigte Zusammensetzung der Passagierliste aus Politik, Prominenz, NGOs und Wirtschaft doch in die vorgegebene Richtung: Dieser Mischung bedarf es, um den Zugriff auf eine Region zu legitimieren, die bislang mit historischer Berechtigung außerhalb des Einflussbereiches europäischer Intervention lag.

Adressat der Kritik sind folgerichtig im Falle Israels wie des Irak alleine die USA, jene verbliebene Großmacht, die seit dem Ende der europäischen Kolonisation ihre Hegemonie im Nahen Osten ausübt. Dem deutsch dominierten Europa eine besondere friedensstiftende Rolle in Nahost zuzusprechen, ist derzeit parteiübergreifendes Interesse in der Berliner Republik. »Die Amerikaner werden von immer mehr arabischen Staaten zu Recht als Vermittler abgelehnt, und ich glaube, daß Europa dort eine Rolle spielen kann. Ohne deutsches Engagement wird aber diese europäische Vermittlerrolle nicht herzustellen sein«, erklärte Wolfgang Gehrke von der PDS in der jüngsten Ausgabe von konkret.

Europas Nationalismus-Export

Der israelische Historiker Moshe Zimmermann wies in Ha'aretz kürzlich darauf hin, dass gerade Europa wenig zur Lösung des Nahost-Konfliktes beizutragen habe; schließlich sei es selbst dessen Verursacher. Erst die gescheiterte Emanzipation der europäischen Juden habe den Zionismus attraktiv gemacht und die Juden veranlasst, »nicht nur nach Palästina auszuwandern, sondern dorthin auch nationalistische, völkische, ja rassistische Einstellungen aus Europa mitzunehmen«.

Die Region, auf die die »nationalisierten Juden« stießen, war der kolonialisierte Nahe Osten, am Ende des Ersten Weltkrieges von Frankreich und England willkürlich in Mandatsgebiete geteilt, die von beiden Staaten gegeneinander ausgespielt wurden. Und sie stießen auf eine arabische Nationalbewegung, die, ähnlich wie der Zionismus, Spiegel des europäischen Nationalismus war.

Weder die Programmatik der 1940 in Damaskus von Michel Aflaq gegründeten Baath-Partei, noch die der PLO wäre ohne das Vorbild in Europa zu verstehen. Dass dabei sowohl der Zionismus wie der arabische Nationalismus sich vornehmlich völkischer und weniger territorialstaatlich-bürgerlicher Vorstellungen von der Nation bedienten, war die Reaktion auf einen Nationalismus, den Europa in den Nahen Osten exportiert hatte, und zugleich dessen Ausdruck. »Die arabische Nation«, formulierte etwa Michel Aflaq im Gründungsmanifest der Baath-Partei, »ist mit einer ewigen Mission versehen, sie hat immer das Gute gewollt und ist stets das unschuldige Opfer der Bösartigkeit anderer Völker geworden.«

Glaubten viele arabische Nationalisten, vor allem von Mussolini, Nationalrevolutionären und anderen »nationalen Sozialisten« lernen zu können, so waren die vornehmlich aus Osteuropa stammenden Zionisten von den dortigen Nationalitätenkonflikten geprägt, die regelmäßig in Pogromen kulminierten. Deshalb brachten sie den festen Willen nach Palästina mit, sich fortan mit der Waffe in der Hand gegen Übergriffe zu wehren anstatt sie als Opfer zu erdulden.

Die Nazis und der Zionismus

Die ambivalente Haltung der Nazis zum Zionismus in den dreißiger Jahren verweist darauf, wie antisemitische Stereotype auf den jüdischen Nationalismus projiziert wurden. Denn einerseits warf man den Juden vor, aus »rassischen« Gründen unfähig zu sein, einen »normalen« Staat zu gründen, andererseits hielt man nach einem geeigneten Territorium Ausschau, um sie dorthin abzuschieben: »Palästina bedeutet den anspruchsvollen Anhänger an der dicken goldenen Uhrkette, die sich über dem jüdischen Bauch spannt, ein Symbol für das jüdische Weltprestige. Wenn jüdischerseits Möglichkeit und Wille bestände, sei es Palästina, sei es ein anderes Land zum jüdischen Vaterlande schlechthin zu machen, so würden wir die jüdische Frage selbstverständlich ganz anders betrachten und dem jüdischen Volke nicht anders gegenüber stehen als irgendeinem anderen Volke auch«, schrieb Graf Reventlow in Die Reichswart Nr. 9/1934. Zugleich suchten die Nazis gegen die herrschenden Kolonialmächte militante Formen des arabischen Nationalismus zu stärken und, wo immer es ging, mit antisemitischen Versatzstücken zu nähren. Hunderttausende europäischer Juden flohen vor der ihnen zugedachten Vernichtung durch die Deutschen nach Palästina. Damit verschärfte sich die Situation in der Region weiter.

Das Erbe des Kolonialismus

Angesichts einer europäischen Politik, die sich außer Stande zeigte, zu einer Lösung der Konflikte im Nahen Osten beizutragen - sie vielmehr überall schürte -, fanden sich beide Gruppen, Zionisten wie arabische Nationalisten, bald getrennt vereint in ihrer Ablehnung der europäischen Kolonialherren.

So hatten mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges alle westeuropäischen Mächte im Nahen Osten ausgespielt und jede politische Legitimation verloren. In der Folge gewannen die USA und die Sowjetunion - zwei Staaten, die aus unterschiedlichen Gründen erklärte Gegner des Kolonialismus waren - die Oberhand. Bis zum Golfkrieg 1991 spielten die europäischen Staaten in der Region nur ökonomisch eine Rolle, ihre politische Handlungsfreiheit wurde eingeschränkt von den blockpolitischen Vorgaben des Kalten Krieges.

Das europäische Erbe aber lebte fort, wie 1990 eine Gruppe marxistischer Intellektueller aus den USA angesichts des nahenden Golfkrieges feststellte. Selbst nach 40 Jahren amerikanisch/sowjetischer Hegemonie wirkte der Nahe Osten auf sie wie »das Europa der späten zwanziger Jahre, getrieben von denselben wahnsinnigen Ideologien: Nationalismen, religiösem Fanatismus, Antisemitismus und Träumen von einem korporatistischen Staat. Ein Europa, das seinen Krieg von 1914 bis 1918 am Euphrat schon hinter sich hat, seine Einsätze von Senfgas, und sich nun auf einen 1939er Krieg vorbereitet.«

Die Autoren des mit »Ruhe an der Ostfront« überschriebenen Textes konnten nicht ahnen, dass sich nur wenige Jahre später wieder das europäische Original seines nahöstlichen Abbildes annehmen würde. Hierbei greifen die Europäer wie zwanghaft auf die Ideologien zurück, die sie selbst als Kolonialherren in die Region eingeführt haben.

Europa an der Seite der Unterdrückten

Der Gestus der kritischen Intervention dient dabei der vermeintlichen Solidarisierung mit den ehedem Kolonisierten. Mit seiner Kritik an der US-dominierten »internationalen Zivilgesellschaft« unterscheidet sich der französische Außenminister Hubert Védrine in der Dezemberausgabe von Le Monde Diplomatique bereits kaum mehr von irakischer Propaganda. Ein »erdrückendes Übergewicht (...) der US-amerikanischen Organisationen« sieht er in der internationalen Politik, die auch »für den Bereich der Medien (gilt). (...) Der Markt in seiner liberalen angloamerikanischen Version (hat) sich rundum durchgesetzt.« In der jungen Welt referiert die Sanktionsgegnerin Sonja Wallenborn die Inhalte eines »Jugendworkshops« in Bagdad über »Globalisierung« und gibt denselben Gedanken etwas schlichter wieder: »Gerade die Globalisierung wird auch von Kritikern in den Entwicklungsländern als ðWeltbeherrschungsinstrumentÐ der USA und anderer westlicher Mächte (...) gesehen.«

Die anti-amerikanische Orientierung der europäischen Außenpolitik, die Védrine formuliert, legitimiert sich als Kritik im Sinne der Unterdrückten. Aus dieser Perspektive rechtfertigen sich vergangene und zukünftige europäische Eingriffe - ungeachtet ihrer realen Folgen - von selbst. »Ein UNO-Einsatz könnte die Gewaltspirale in Palästina stoppen«, schreibt die taz. Und die FAZ führt aus: »Gestern geschah dies in Bosnien, heute auch im Kosovo, morgen wohlmöglich auf den Golanhöhen oder am Golf. Dies soll unter einem Mandat der UN geschehen. Aber wenn es nicht vorliegt, dann notfalls auch ohne.«

Die Tendenz, das vermeintlich fortschrittliche Europa gegen die neoliberalen USA in Anschlag zu bringen, hatte der Soziologe Wolfgang Engler bereits in einer der ersten Ausgaben des Ostberliner Blattes Gegner vorweggenommen: »Entweder Europa oder die Vereinigten Staaten!« verkündete er in seiner »Feinderklärung«.

Gegen ein ähnlich instrumentelles Verhalten der Kolonialmächte, das Ausspielen der kolonisierten Klassen gegen einander wie gegen die imperialistische Konkurrenz kritisierend, intervenierte einst ein anderer französischer Intellektueller. Jean-Paul Sartre hatte die französische Außenpolitik vor Augen, als er im Vorwort zu Frantz Fanons »Die Verdammten dieser Erde« schrieb: »In der einen Kolonie hat sich das Mutterland damit begnügt, einige Feudalherren zu bezahlen, in der anderen Kolonie hat es, nach dem Prinzip ðDivide et imperaÐ eine Kolonisiertenbourgeoisie aus dem Boden gestampft. (...) So hat Europa die Spaltungen und Gegensätze vermehrt, künstlich Klassen und manchmal auch Rassismen geschaffen und mit allen Mitteln versucht, eine Aufspaltung der kolonisierten Schichten hervorzurufen und sie zu vertiefen.«

Sartre nämlich sah in Nordamerika noch ein »übereuropäisches Monstrum«, das überall da, wo der europäische Kolonialismus Schwäche zeigte, sein Erbe anzutreten suchte. Für ihn, der seiner Analyse universale Kategorien von Unterdrückung und Befreiung zugrunde legte, machten deshalb Unterscheidungen zwischen europäischer und amerikanischer Ausbeutung keinen Sinn. Noch während des Vietnamkrieges schloss Kritik an den USA in der Regel die europäischen Regierungen als Juniorpartner und Nutznießer des Konfliktes ein.

Erst mit dem Golfkrieg 1991 begann sich dies zu ändern: Die europäischen Bestrebungen vertrugen sich nur teilweise mit der Funktion, lediglich Zahlmeister für den Weltpolizisten »USA« zu sein. Während zunächst noch versucht wurde, dies als neue globale Arbeitsteilung zu fassen, drängen die Europärer inzwischen auf erneute Einflussnahme in ihren ehemaligen Kolonien.

Europa vs. USA

Der Antiamerikanismus Védrinescher Art zielt auf Ablösung von Herrschaft und nicht auf deren Aufhebung, wobei die interventionistischen Vorstöße Europas im Nahen Osten mit kalter Verwertungslogik allein nicht zu erklären sind. Sie werden vielmehr ermöglicht von einer Kritik, die wahlweise dem US-Imperialismus oder der anglo-amerikanischen Globalisierung vorwirft, was der Logik der Verhältnisse geschuldet ist, die den USA die Rolle eines Weltpolizisten zuweisen. In dem Moment, als die innerimperialistischen Widersprüche in offene Konkurrenz umschlugen, trat der zwanghafte Charakter einer Haltung zu Tage, die sich immer wieder auf die »unterdrückten« arabischen Völker bezieht - als Projektion des eigenen Zustandes.

Bereits 1992 nahmen die sich als links verstehenden Autoren Beate Mittmann und Peter Priskil diese Haltung vorweg, als sie den Irak in einem Buch als »zerstörtes Land« bezeichneten, »das jetzt im Würgegriff der Blockade gehalten wird, dessen Führung erpresst und gedemütigt werden soll, dessen Bewohner hungern müssen, weil sie sich nicht der amerikanischen Weltherrschaft unterwerfen wollen«.

Eine solche Wahrnehmung, die sich weigert, Gesellschaft zumindest in Regierung und Bevölkerung aufzuteilen, sondern nur noch Völker und Ethnien kennt, fordert Europa förmlich heraus, sich innerhalb des halluzinierten globalen Ringens zu positionieren. Im Nahen Osten sind es der Irak und die islamischen Bewegungen, die stellvertretend für Védrine und alle anderen die US-amerikanische »Weltherrschaft« herausfordern. Sie, die ebenso wie ihre selbstmandatierten Schutzherren nach nichts als Macht und Einfluss streben, begrüßen deshalb auch jede europäische Intervention oder Petition, die sich ihrer im Namen von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Liebe, Ehre, Vaterland und was weiß ich« (Sartre) annimmt.

Anscheinend unbeeindruckt von dieser Solidargemeinschaft haben Israel und die Palästinenser sich wieder angenähert. Die Wahl Washingtons zum Ort, an dem ihre Vertreter sich treffen werden, legt einmal mehr nahe, was einst die Grundlage der kritischen Intervention Sartres und anderer gegen die europäische Hegemonialpolitik war: dass die Kolonisierten besser sind als ihre Herren und der Projektion europäischer Verhältnisse nicht bedürfen.