300 Jahre Preußen

Die Legenden von Preußen

Vor 300 Jahren erklärte sich Preußen zum Königreich. Warum mit preußischen Traditionen kein Staat zu machen ist.

Die erste und immer noch wichtigste Preußenlegende hat bereits Franz Mehring in seiner Schrift »Die Lessing-Legende« von 1893 widerlegt. Es ist dies die Behauptung, dass es neben dem militaristischen auch ein gutes Preußen gegeben habe. Die autoritären und militärischen Züge Preußens werden keineswegs von den angeblich aufgeklärten konterkariert oder sogar aufgehoben. Es handelt sich um zwei Seiten dersolutismus Friedrichs II. war kein gemäßigter Absolutismus, sondern ein gesteigerter radikaler Absolutismus, weil er die völlige Unterwerfung aller Untertanen und angeblich auch des Königs unter den Willen eines allmächtigen Staates postulierte. Von diesem totalen Staatsverständnis und keineswegs nur vom Militarismus führt eine Kontinuitätslinie zum totalen Staat der Nationalsozialisten, den es aber auch nur in den Vorstellungen von Staatslehrern wie Ernst Forsthoff und Carl Schmitt und nicht in der Realität des eher polykratisch strukturierten NS-Staats gegeben hat.

Die Errichtung dieses »totalen Staates« sei, so will es die zweite Preußenlegende, vom demokratischen Preußen der Sozialdemokraten Otto Braun und Carl Severing - fast - verhindert worden. Aber eben nur fast. Das damals und heute wieder gefeierte Bollwerk Preußen wurde nämlich keineswegs erobert und geschleift, sondern kampflos aufgegeben. Und dies von den Sozialdemokraten, die sich auch keineswegs dem Druck der Nationalsozialisten beugten, sondern vor der Drohgebärde der Konservativen kuschten.

Gemeint ist die völlig widerstandslos hingenommene Absetzung der preußischen Landesregierung des Sozialdemokraten Otto Braun durch den Reichskanzler Franz von Papen am 20. Juli 1932. Damit war das antifaschistische Abwehrkonzept der Sozialdemokraten auf der ganzen Linie gescheitert. Es hatte vorgesehen, bei einem erwarteten gewaltsamen Putsch der Faschisten das sozialdemokratisch geführte Reichsbanner durch die ebenfalls noch sozialdemokratische preußische Polizei zu bewaffnen und zusammen mit ihr den Faschismus zu schlagen. Doch zu diesem Showdown - Sozialdemokraten und Polizisten gegen Nationalsozialisten - kam es schon deshalb nicht, weil die Nazis spätestens seit 1925 nicht daran dachten, gewaltsam durch einen Staatsstreich, sondern pseudolegal durch ein Bündnis mit den Konservativen zur Macht zu kommen.

Und so kam es dann auch. Das am 30. Januar besiegelte Bündnis zwischen Nationalsozialisten und vornehmlich preußischen Konservativen wurde am 21. März 1933 im Potsdam abgesegnet. Abgesegnet ist hier wörtlich zu nehmen. Denn preußische Generalsuperintendenten wie Otto Dibelius ließen es sich nicht nehmen, Gottesdienste zu Ehren des neuen »Führers« und des alten preußischen Generalfeldmarschalls von Hindenburg zu halten.

Die, wie sie der Historiker Friedrich Meinecke genannt hat, »Potsdamer Rührkomödie« war auch bei anderen Preußen sehr wirkungsvoll. Der Tag von Potsdam insgesamt symbolisiert gewissermaßen die Ehe zwischen Preußentum und Nationalsozialismus. Preußen ging im nunmehr nationalsozialistischen Deutschland auf. Dies ging so weit, dass selbst die Eingangstore von nationalsozialistischen Konzentrationslagern wie Buchenwald mit preußischen Sinnsprüchen wie »Jedem das Seine« geziert wurden. Weitere Beispiele für die Indienstnahme Preußens und des Preußentums durch die Nationalsozialisten gibt es zuhauf.

Nach 1945 wollten dies verschiedene Preußenfans immer noch nicht wahr haben, weshalb sie flugs an einer neuen, der dritten Preußenlegende bastelten. Es ist die vom »preußischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus«. Um sie zu belegen, wurde darauf verwiesen, dass unterschiedliche Männer des bürgerlich-militärischen Widerstandes Preußen waren oder sich als solche gefühlt haben, die zudem ihren tatsächlichen oder auch nur angeblichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus mit der Berufung auf preußische Traditionen begründet hätten.

Was sind oder sollen diese preußischen Traditionen sein? Genau gesagt gab es zwei, eine westliche und eine östliche, weshalb es hier auch zwei Preußenlegenden gibt. Eine, die in der alten Bundesrepublik vertreten wurde, und eine andere, die in der vormaligen DDR gestrickt wurde. Nach der westlichen Legende sollen sich die bürgerlich-militärischen Widerstandskämpfer unter Berufung auf das Preußentum und Preußen für die Wiederherstellung der Demokratie eingesetzt haben. Eine doppelte, ja eigentlich schon eine dreifache Lüge.

Denn erstens war Preußen niemals eine Demokratie, weshalb man zweitens eine demokratische Staatsform auch niemals mit der Berufung auf Preußen legitimieren kann. Drittens schließlich wollten diese so verherrlichten preußischen Widerstandskämpfer auch keine Demokratie, sondern einen autoritären Staat. Über die Frage, wie er konkret aussehen sollte, bestand jedoch keine Einigkeit. Die Kreisauer dachten an einen utopisch wirkenden, aber am Ende doch autoritären Staat. Carl Goerdeler wollte allen Ernstes die autoritäre Hohenzollernmonarchie wieder einführen. Und einige favorisierten eine halb oder auch ganz faschistische Diktatur, allerdings ohne Hitler.

Nein, mit den Staatsvorstellungen des bürgerlich-militärischen Widerstandes ist wirklich kein Staat zu machen. Bleibt die Frage, was dies alles mit Preußen zu tun haben soll. Um diese nun wirklich völlig unhistorische Verbindungslinie herzustellen, wird oft und gern aus einer privaten Ansprache Henning v. Tresckows zitiert, die dieser am 11. April 1943 zur Konfirmation seiner Söhne, ausgerechnet in der Potsdamer Garnisonkirche hielt, wo der erwähnte Tag von Potsdam seinen Höhepunkt gefunden hatte. Henning von Tresckow erklärte, »der Begriff der Freiheit« sei vom »wahren Preußentum niemals zu trennen« sei und dass in der »Synthese zwischen Bindung und Freiheit« die »deutsche und europäische Aufgabe des Preußentums« liege. Doch was das genau heißen sollte, sagte von Tresckow vorsichtshalber nicht. Stattdessen erklärte er alles für einen Traum, genauer gesagt für einen »preußischen Traum«.

Ohne hier auf die bewiesene Tatsache einzugehen, dass verschiedene dieser preußischen Widerstandskämpfer - auch Henning von Tresckow - in den »Rassenkrieg« im Osten gegen Juden, »Kommissare« und »Partisanen« zumindest involviert waren oder sich wie der frühere Chef des Reichskriminalpolizeiamtes, temporäre Leiter einer Einsatzgruppe und spätere Widerstandskämpfer Arthur Nebe als Massenmörder betätigt hatten, ist die Frage zu stellen, was diese preußischen Träumereien sollen. Die ermordeten Juden kann man damit nicht wieder lebendig machen und die Demokratie nicht legitimieren.

Dass diese westliche Preußenlegende immer noch nicht völlig überwunden ist, liegt auch daran, dass sie von der östlichen direkt und indirekt gestützt und gerechtfertigt wurde. Die östliche Preußenlegende geht auf den Gründungsaufruf des Nationalkomitees Freies Deutschland aus dem Jahr 1943 zurück, in dem sich die von den Russen gefangenen deutschen Soldaten und Offiziere auf die Konvention von Tauroggen des Jahres 1813 beriefen, mit der der preußische General Yorck von Wartenburg seinen Frontwechsel von den Franzosen zu den Russen begründet hatte. Mit Hinweisen auf dieses preußische Beispiel und der »großen Preußen« »vom Stein, Arndt, Clausewitz, Yorck und andere« wurde zum »Freiheitskampf« aufgerufen, der den »Sturz Hitlers« beschleunigen sollte.

Nachdem die DDR-Historiker auf Anweisung des Politbüros die deutschkritische Sicht eines Alexander Abusch vom »Irrweg einer Nation« als falsche so genannte Miserekonzeption entlarvt und pflichtschuldig überwunden hatten, ging es mit der Aufwertung Preußens geradezu planmäßig voran. Schon 1953 gedachte man mit großem Aufwand des 140. Jahrestages der preußischen Befreiungskriege von 1813. Der daran beteiligte preußische General Scharnhorst erfreute sich dann bei der kurz danach aufgebauten Nationalen Volksarmee großer Beliebtheit, weshalb auch ein nach ihm benannter Verdienstorden für die Nationale Volksarmee gestiftet wurde, die es sich nicht nehmen ließ, im schönen preußischen Stechschritt zu paradieren.

Damit waren die Offiziere den Historikern vorausmarschiert, doch die zogen nach und rehabilitierten einen Preußen nach dem anderen. Zuletzt war auch Friedrich II. wieder »der Große«. Preußen wurde in einem programmatischen Artikel in der Einheit genannten Zeitschrift der SED wieder »positiv-progressive Momente« zuerkannt, vor allem der Ordnung in den Finanzen und der Sparsamkeit wurde gedacht.

Nachdem damit die von Mehring überwundene »erste Preußenlegende« reaktiviert worden war, ging man in den achtziger Jahren an die Übernahme der dritten Legende von dem im Geist des Preußentums geführten Widerstand der Männer vom 20. Juli 1944. Und so durfte es die NVA noch erleben, dass sie am 20. Juli 1989 von dem damaligen Abrüstungsminister Eppelmann auf die kurz vor ihrem Untergang stehende DDR vereidigt wurde, in der schon Charles de Gaulle eine Mischung aus »Preußen und Sachsen« gesehen hatte.

In den neunziger Jahren kam es dann zu einem Schulterschluss von westlichen und östlichen Preußenfans. Hier wächst wirklich zusammen, was zusammengehört. Und das ist leider keine Legende.