Arafat sei Dank

Ariel Sharon hat die Wahlen zum israelischen Ministerpräsidenten gewonnen. 40 Prozent der Wähler enthielten sich der Stimme.

So einig wie am Dienstag vergangener Woche waren sich Palästinenser und Israelis wohl selten. Während die internationale Presse spekulierte, ob nach dem zu erwartenden Wahlsieg Ariel Sharons die Verhandlungspolitik Ehud Baraks fortgeführt werde oder aber der so genannte Falke der Falken »beginnt, an den Grenzen zu den arabischen Nachbarn Stärke zu zeigen« (Silke Mertins in Financial Times Deutschland), demonstrierten die Palästinenser in der Westbank und rund 40 Prozent der israelischen Wähler, dass sie weder das eine noch das andere wünschen: Palästinenser, in dem sie Bilder beider Kandidaten und nachgebaute Wahlurnen verbrannten, Israelis, indem sie die Wahl zwischen beiden Kandidaten verweigerten. Mit 62,5 Prozent der abgegebenen Stimmen gewann Sharon überlegen die Wahl.

Ein großer Teil derjenigen, die sich der Stimme enthielten oder aus Protest ungültige Wahlscheine abgaben, hatte 1999 Barak gewählt. Sie sind zugleich Ausdruck des innerisraelischen Bruchs. Lediglich 18 Prozent der rund 500 000 arabischen Israelis sind zur Urne gegangen. Bei der letzten Wahl waren es noch 75 Prozent, 95 Prozent davon wählten die Regierung Barak. Sharon, dessen Likud-Block in der Knesset nur 19 der 120 Abgeordneten stellt, hat daher nicht nur das Problem, aus einer Minderheitsposition heraus ein regierungsfähiges Kabinett zu bilden. Er muss auch versuchen, jene Bevölkerungsgruppen einzubinden, die sich durch Wahlenthaltung von der israelischen Regierungspolitik dissoziierten. Zugleich ist er den Nationalreligiösen verpflichtet, die ihm zum Wahlsieg verholfen haben.

Sharons vorrangiges Bemühen gilt daher der Konsolidierung seiner Regierung. Von den befürchteten Einschnitten in die israelische Politik ist dementsprechend bislang wenig zu spüren. Bereits im Wahlkampf zeichnete sich ab, dass Sharon bemüht ist, sich von seinem Image als militärischer Hardliner und »Bulldozer« zu lösen. So kommt es, dass ausgerechnet Sharon, der in der Presse als Inbegriff der Kompromisslosigkeit gehandelt wird, nun seinen Wahlgegner Barak eingeladen hat, sich im Rahmen einer Regierung der nationalen Einheit als Verteidigungsminister an einem gemeinsamen Kabinett zu beteiligen.

Als eine seiner ersten Amtshandlungen entschuldigte sich der neue Premier bei den israelischen Arabern und kündigte eine großzügige finanzielle Unterstützung der arabischen Kommunen an. Das war eine Reaktion nicht nur auf den Wahlboykott, zu dem die arabischen Parteien Hadasch und Balat aufgerufen hatten, sondern auch auf die zunehmende Identifikation der arabischen Israelis mit palästinensischem Nationalismus.

Bei den Auseinandersetzungen, die im Zuge der Al-Aqsa-Intifada auch in den mehrheitlich arabisch bewohnten Städten und Gemeinden innerhalb Israels ausgebrochen waren, sind im Oktober 13 Menschen getötet worden. Das hat zu einer extremen Polarisierung zwischen arabischen Israelis und der Regierung geführt und zugleich die Frage nach dem israelischen Staatsverständnis neu gestellt.

Sharons Aufstockung des kommunalen Haushalts arabischer Gemeinden dürfte diese Polarisierung nicht aufheben. »Wir sind im Oktober nicht auf die Straße gegangen, um höhere Budgets für unsere Verwaltung einzuklagen. Wir gingen als Teil des palästinensischen Volkes auf die Straße«, zitiert der Economist einen arabischen Aktivisten in Um El Fahim. Die Alternative zu dieser transnationalen Variante des palästinensischen Nationalismus besteht in der Forderung nach einem Nationalverständnis, das Israel als Staatsbürgernation fasst, wie Hadasch sie vertritt - eine Forderung, die dem Programm des Likud diametral entgegensteht.

Die Auseinandersetzung mit den Palästinensern in den Autonomiegebieten beschränkt sich derzeit darauf, den erreichten Status quo zu halten und die Vorschläge für ein Friedensabkommen in ein »Gewaltverzichtsabkommen ohne Zeitplan« umzubenennen. Die Unsicherheit, die sich in der Begriffswahl spiegelt, kommt nicht von ungefähr. Dass Sharon zum Premier gewählt wurde, ist zu einem großen Teil der palästinensischen Verhandlungsführung geschuldet, die bis zuletzt alle Friedensvorschläge seines Vorgängers Barak strikt ablehnte. Eine bessere Wahlwerbung als Arafats Auftritt in Davos - wo er Israel u.a. vorwarf, einen »barbarischen und verheerenden Krieg gegen die Palästinenser« zu führen - konnte Sharon nicht haben.

Alle anderen Fragen - wie die der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes - blieben in den letzten Wochen unbedeutend. Damit einher geht praktisch auch eine Umkehrung des eigentlichen Machtverhältnisses. »Die Palästinenser dominieren Israels Politik«, schreibt William Pfaff in der Washington Post, »sie machen und stürzen israelische Ministerpräsidenten.«

Aber gerade in der zentralen Frage der Politik gegenüber den Palästinensern bleibt Sharon vorerst uneindeutig. Während der ehemalige israelische Botschafter in Washington, Zalman Schoval, erklärte, dass die zuvor unterbreiteten Angebote an die Palästinenser von der neuen Regierung als »nicht bindend« betrachtet würden, sprach sich Sharon in seiner Rede zum Wahlsieg für eine Fortführung der Verhandlungen »auf der Basis echter Partnerschaft« aus und betonte die Notwendigkeit für beide Seiten, »schmerzliche Zugeständnisse« zu machen.

Seine Unsicherheit mag nicht zuletzt daher rühren, dass mit dem Antritt der Bush-Administration die Rolle der USA als Verhandlungsführer in Frage gestellt wird. Bushs nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice kündigte der New York Times zufolge bei der Wahl Sharons bereits an, bei künftigen Verhandlungen mehr »Verantwortung bei den Israelis und den Palästinensern zu belassen«. US-Außenminister Colin Powell äußerte zudem, der Konflikt werde künftig im Kontext der gesamten Region behandelt. Damit stünde der von Arafat seit langem geforderten Internationalisierung des Konfliktes und der Beteiligung europäischer Staaten an künftigen Verhandlungen außer Israel selbst nicht mehr viel im Wege.

Noch bevor der neue israelische Premier sich in dieser Woche mit US-Präsident George W. Bush treffen wird, um über eine mögliche Fortführung der Verhandlungen zu sprechen, nutzen andere die Unklarheiten des Interims bereits aus. Am Samstag nahm ein UN-Team gegen den Widerstand Israels Untersuchungen über Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten auf. Die Untersuchung stützt sich auf einen im Oktober verabschiedeten Beschluss der UN-Vollversammlung, der Israel einseitig wegen Gewaltanwendung verurteilte, ohne die von Palästinensern ausgeführten Gewaltakte auch nur zu erwähnen.

In Gaza, wo die Untersuchung begann, nahmen derweil auch andere ihre Aktivitäten wieder auf. Abdallah Al-Shami vom Islamischen Jihad erklärte vor 2 000 Anhängern die Fortführung des »heiligen Krieges«, und Musa Abu Marsuk von der Hamas kündigte gegenüber Reuters militärische Operationen in Israel an. Auf wessen Konto die erste »Operation« ging, eine Bombenexplosion im orthodoxen Jerusalemer Wohnviertel Mea Shearim, der ein Israeli zum Opfer fiel, war bis Redaktionsschluss unklar.