Rassismus in Sachsen

Sensibilisiertes Völkchen

Abbau Ost in Pirna und Sebnitz: Wer nicht vor rechtsextremen Angriffen flüchtet, dem finanziert notfalls der Staat den Umzug.

Am Ende sind immer die anderen schuld. Zum Beispiel »solvente alte Herren aus den alten Bundesländern«. Die nämlich sind nach Meinung des Thüringer Innenministers Christian Köckert verantwortlich für den rechtsradikalen Terror in den neuen Bundesländern.

Der Unionsmann stand nicht allein, als es am vergangenen Wochenende galt, der angeblichen Stigmatisierung des wilden Ostens entgegenzutreten. Eine kleine Revolte der ostdeutschen Innenminister ging durch die mediale Welt, nachdem Bundesminister Otto Schily eine Steigerung rechtsradikaler Straftaten um 40 Prozent ausgemacht hatte, wobei die neuen Bundesländer noch immer an der Spitze der Statistik stehen.

Köckerts Brandenburger Amtskollege Jörg Schönbohm etwa wusste zu sagen, dass potenzielle Gewalttäter »durch die breite Erörterung des Themas zu Straftaten angeregt« worden seien. Der sächsische Innenminister Klaus Hardraht sprach von »pauschalen Behauptungen« des Sozialdemokraten Schily. Schließlich habe die Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten in Sachsen den niedrigsten Stand seit 1991 erreicht, erklärte der CDU-Politiker. 1992 sei es noch zu 218 rechten Gewalttaten im Freistaat gekommen, im Jahr 2000 nur zu 62.

Dass für den statistischen Rückgang in Sachsen tatsächlich, wie Schönbohm meint, die »Sensibilisierung der Bevölkerung« relevant ist, darf allerdings bezweifelt werden. Tatsächlich erstatten einfach immer weniger Opfer rechter Gewalt eine Anzeige, weil die Ermittlungen häufig im Sande verlaufen oder die Betroffenen selbst mit Beschuldigungen zu rechnen haben.

Auch die ungeklärten Umstände des Todes von Joseph Abdulla dürften in Hardrahts Statistik nicht berücksichtigt worden sein. Hat sich doch die Lesart durchgesetzt, der Sebnitzer Junge vor drei Jahren sei ertrunken und kein Opfer rechter Gewalt geworden. Hajo Funke, Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Berater der Sebnitzer Familie Kantelberg-Abdulla, ist trotzdem weiterhin skeptisch. Er bezweifelt die Aussagekraft des Gutachtens, das Professor Bernd Brinkmann vom Rechtsmedizinischen Institut Münster vorgelegt hat. Und damit natürlich auch die Version vom gewöhnlichen Badetod Josephs, für die der Bericht gemeinhin als Beweis dient.

Selbst wenn der Junge, wie in dem Gutachten behauptet, einen Herzfehler gehabt habe, könnte der »durch so genanntes ðspielerisches UntertauchenÐ ausgelöste Stress den Herztod des Jungen beschleunigt haben«, schreibt Funke in einer Stellungnahme. Auch Brinkmanns Gesamtbeurteilung der Todesumstände fällt vorsichtiger aus, als die offiziellen Verlautbarungen der sächsischen Staatsanwaltschaft vermuten lassen. So spricht er davon, dass der von ihm konstatierte Badetod sich »hypothetisch auch in Verbindung mit einem spurlos bleibenden Untertauchen des Kindes« ereignet haben könnte.

Zudem widerspricht Funke Behauptungen, dass alle Zeugen von ihren ursprünglichen Aussagen, nach denen beim Tod Josephs Gewalt im Spiel gewesen sei, abgerückt sind. Er erwähnt ein gleichaltriges Kind und dessen Eltern sowie eine jugendliche Person, »die ihre Aussagen keineswegs zurückgenommen hat und auch nicht der rechten Szene angehört, aus der im Wesentlichen das Hin und Her formulierter und zurückgenommener Zeugenaussagen stammt.«

Das weiß auch der Dresdner Staatsanwalt Claus Bogner. Gegenüber Jungle World räumte er ein, dass es einen Zeugen gebe, der weiterhin ein Untertauchen Josephs im Freibad beobachtet haben will: »Allerdings handelt es sich dabei um einen Fünfjährigen, der mehrmals bestätigt hat, dass er gesehen habe, wie der kleine Joseph an dem betreffenden Tag von anderen Kindern mindestens ein Mal untergetaucht wurde. Dieses Kind wird aber selbst von seiner Mutter als sehr fantasievoll eingeschätzt.«

Ob ein Kinderpsychologe zu der Vernehmung hinzugezogen wurde? »Nein«, reagiert Strafverfolger Bogner, »im konkreten Fall war das nicht nötig, weil die Aussage in sich nicht schlüssig ist.« Zumindest nicht für die Dresdner Staatsanwaltschaft, die dem sächsischen Justizminister Manfred Kolbe untersteht. Der Unionspolitiker hat der Stadt Sebnitz bereits empfohlen, Schadensersatzforderungen an die Bild-Zeitung zu stellen.

In Sebnitz hat man derweil andere Probleme. Noch immer steht ein Polizeifahrzeug vor der Apotheke der Familie Kantelberg-Abdulla. »Es könnte sein, dass es Schmierereien gibt oder vielleicht eine Scheibe zu Bruch geht«, fürchtet Rüdiger Ziegler von der Sebnitzer Polizeidirektion. Neonazis? Nein, »Sebnitzer Bürger, die natürlich verärgert sind«. Ein interessanter Vorgang: Die Polizei schützt die Sebnitzer davor, den Ruf zu zerstören, über deren Zerstörung sie sich beklagen.

Inzwischen werden Forderungen laut, die Familie Kantelberg-Abdulla solle Sebnitz endlich mit Sack und Pack verlassen. Nach Worten des Spiegel ist der Umzug momentan »Kommandosache zwischen Staatskanzlei, Bundespräsidialamt und Stadtverwaltung«. Probleme bereiten nur noch zwei Immobilien, die die Familie in Sebnitz besitzt. Der Freistaat Sachsen soll hierfür öffentliche Mittel zur Verfügung stellen, mit denen die Stadt die Apotheke der Familie kaufen könnte.

Auch im nahe gelegenen Pirna denken einige darüber nach, wegen rechter Übergriffe die Stadt zu verlassen. Seit mehreren Jahren wird der türkische Imbiss-Stand der Familie Sendlimen in der Fußgängerzone regelmäßig von Neonazis heimgesucht. »Sie kommen immer am Wochenende«, sagt Adem Sendlimen, »sie rufen ðAusländer rausÐ und ðTürkensauÐ. Und die Polizei tut nichts. Die Beamten rauchen mit ihnen Zigaretten.«

Der letzte Angriff datiert vom 13. Januar. Auf der Internetseite der Skinheads Sächsische Schweiz (SSS) sei die Aktion sogar angekündigt worden, berichten Angehörige der Familie. Obwohl die Polizei informiert war, versammelten sich die Rechtsradikalen vor dem Imbiss und warfen Steine in die Scheiben. Die Neonazis schlugen Adem Sendlimen zu Boden, die anderen Familienmitglieder wurden verletzt, als sie dem Vater zu Hilfe eilen wollten.

Gegen keinen der neonazistischen Angreifer haben die Behörden seither ermittelt. Die Familie hat es deshalb aufgegeben, Anzeigen zu erstatten. »Wir haben bisher immer ohne Erfolg gegen solche Vorfälle geklagt. Das hat uns finanziell in erheblichem Maße geschadet«, berichtet Selda Sendlimen. Die Polizeibeamten wollten in den Angreifern ohnehin keine Rechtsextremen erkennen. Verdächtiger scheinen da schon die Türken und Türkinnen selbst: Alle Mitglieder der Familie Sendlimen wurden diese Woche vom Pirnaer Landgericht vorgeladen. Der Vorwurf lautet auf Körperverletzung; sie sollen die Jugendlichen provoziert und eine Schlägerei angezettelt haben.

Dabei ist die SSS den Behörden nicht unbekannt. Demnächst soll die Skinhead-Gruppe vom sächsischen Innenministerium verboten werden. Bei mehreren Hausdurchsuchungen fand die Polizei im letzten Jahr umfangreiche Waffenarsenale und Propagandamaterialien. Nach Angaben von Gerhard Wellner, dem Sprecher der Pirnaer Polizei, wurden bei dieser Aktion keine Polizisten aus der Stadt eingesetzt. Der Grund liegt auf der Hand: Zu eng sind offenbar die Verstrickungen zwischen der Bevölkerung und ihren Rechtsradikalen.

Lothar Hofmann vom Landeskriminalamt Dresden widerspricht allerdings den Aussagen Wellners. Natürlich seien auch Pirnaer Polizeikräfte eingesetzt worden, sagt er. Gleichzeitig bestätigte er, dass der Vater mindestens eines der beschuldigten Männer beim Bundesgrenzschutz beschäftigt sei. Die in Sebnitz aktive White Warrior Crew Sebnitz soll nach Worten Hofmanns in der SSS aufgegangen sein. Insgesamt richten sich die Verfahren gegen 150 Personen aus der ganzen Region.

Nahe liegend also, dass das Misstrauen der von rechten Angriffen Betroffenen gegenüber Behörden und Polizei in Sebnitz und Pirna groß ist. Am Ende hilft selbst der Staat, wenn es gilt, die Stadt zu verlassen. Auch hier kann man auf alten Erfahrungen bauen: Nach den Pogromen in Hoyerswerda in Folge der Wiedervereinigung ließen die Behörden die betroffenen Flüchtlinge 1991 aus der sächsischen Stadt abtransportieren.