Philipp Oswalts »Berlin - Stadt ohne Form«

Bauen in Instant City

Berlin hat keinen Plan und braucht auch keinen. Es reicht völlig, wenn man Architektur betreibt, als spielte man Billard. Eine Rezension

Berlin sei wie Manhattan ständig damit beschäftigt, Altes abzureißen und Neues aufzubauen, heißt es noch heute in der deutschen Hauptstadt. Anders als das am Reißbrett entworfene Manhattan entwickelte sich Berlin aber nicht nach einem ideellen Gesamtplan. Stattdessen habe ein »automatischer Urbanismus« die Stadt geformt. Das meint zumindest der Architekt Philipp Oswalt. Für ihn ist Berlin deshalb »Instant City« oder »Stadt ohne Form«.

Verglichen mit der alten Römerstadt Köln, sei Berlin wurzellos und ohne Tradition. Und das war durchaus von Vorteil. Als verspätete Metropole mit schwacher Identität öffnete sich die Stadt rasch und vorbehaltlos allem Neuen. »Chicago an der Spree« wurde Berlin daher in den zwanziger Jahren genannt oder auch »Amerika in Kleinformat«.

Hässlich, aber intensiv, gerüttelt von ständiger Konstruktion und Dekonstruktion, verträgt Berlin keine einheitliche Planung, so seine These. »Strategien einer anderen Architektur« will Oswalt aufzeigen und wendet sich damit gegen das, was jetzt gebaut wird in Berlin. Gegen Josef Paul Kleihues etwa, dessen das Brandenburger Tor flankierenden Häuser »Liebermann« und »Sommer« vorführten, wie blutleer und öde eine so genannte kritische Rekonstruktion vergangener Bauweisen aussehen kann.

Nachgebaute Erinnerung muss immer scheitern, weil es fraglich bleibt, ob sie sich an die Vergangenheit oder an die Zukunft richtet. Seit 1984 in Berlin, gehört der Mittdreißiger Oswalt zu jenen, die Bauen als Altersfrage ansehen. Jüngere Architekten seien gelassener und weniger harmoniebedürftig als ältere. Für Jüngere ist Stadtgestaltung wie Billard, sagt der Autor. Was er damit meint? Planer sollten sich damit abfinden, nur hier und da etwas anzustoßen, niemals aber einen Gesamtplan zu verwirklichen. Im Grunde sollten Architekten nichts gut machen wollen. Denn von solchen Bestrebungen ging in der Vergangenheit immer Unheil aus.

Als Beispiel für zu gut gemeinte Stadtplanung führt der Autor die Kahlschlagsanierung im West-Berliner Stadtteil Wedding an. In den siebziger Jahren wurden ganze Häuserzeilen aus der Gründerzeit abgerissen und durch zeitgenössische Bauten ersetzt. Für zu gut gemeint hält Oswalt auch den Plan, das Stadtschloss wieder aufzubauen. Gut gemeint, aber eben unnütz. Durch solche »Schinkeleien« würden engagierte zeitgenössische Projekte verhindert und Chancen vertan, unterstützt auch der Architekturkritiker Rudolf Stegers diese Sichtweise: »Eine Gesellschaft, der die Differenz des Authentischen und Simulierten mehr und mehr abhanden kommt, hat mental und technisch keine Mühe, das Stadtschloss zu bauen. Für Streit sorgt dann nur die Akribie des Imitats.«

Wie in keiner anderen deutschen Stadt spielten in Berlin Ödflächen und Industriebrachen eine Rolle, und oft plane die Angst vor der Leere mit. Doch warum sollte man den Horror Vacui über die Stadtgestaltung entscheiden lassen? Stattdessen gelte es, die »Leere als Potenzial« wahrzunehmen. Auch den von alliierten Bombern im Zweiten Weltkrieg kreierten Baulücken könne man etwas abgewinnen. Immerhin hätten sie Licht und Luft in die architektonische Kulisse Berlins gebracht.

Und genauso solle auch mit der Mauer umgegangen werden: Man müsse sich aus der »Gefangenschaft der alten Sichtweisen« befreien, fordert der Autor. Wie Rem Kohlhaas, der in London ein Stück Mauerstreifen nachbaute, um dort Feste zu feiern, plädiert Oswalt auch und gerade in Berlin dafür, die Mauer nicht als Negativum zu begreifen, sondern sie stadtplanerisch ins Positive zu kehren.

Das Buch ist eine Sammlung von Studien, Essays und Projektbeschreibungen. Im Vordergrund stehen dabei Pläne, die nicht über den zweiten oder dritten Preis hinauskamen oder - wie das mit einem ersten Preis bewertete Hochhaus an der Bornholmer Straße - nicht ausgeführt wurden. Gemeinsam ist den vorgestellten Projekten, dass sie an der Vorliebe der Kommissionen für »kritische Rekonstruktion« scheiterten. Statt sich um seine Zukunft zu bemühen, sucht Berlin nach einer anderen Vergangenheit. Das ist die Aussage und zugleich die Kritik des Bandes.

Wie alle postmodernen Stadtplaner kann Oswalt vor allem beschreiben, was er nicht will. Genauer als das, was er will. Die von ihm vorgeschlagene »behutsame Transformation« vom Alten zum Neuen bleibt einfach zu vage. Und sein Vorschlag, Plätze und Gebäude erst einmal für eine temporäre Nutzung durch Clubs und Galerien freizugeben, ist sicher ganz gut gemeint und trotzdem unnütz, weil in den seltensten Fällen realistisch. Denn nicht alle Stadtteile ziehen die Cafébesitzer und Galeristen gleichermaßen an.

Und wer weiß schon, ob die von Oswalt entworfenen Bauten immer besser gewesen wären als jene, die jetzt in Berlin entstehen. Ein ums andere Mal strahlen die mit nüchternen Schwarz-weiß-Aufnahmen bebilderten Vorschläge selbst eine gewisse Tristesse aus.

Philipp Oswalt: Berlin - Stadt ohne Form. Strategien einer anderen Architektur. Prestel, München 2000, 307 S., DM 58