Karl Brozik, Jewish Claims Conference Deutschland

»Bei uns hat sich niemand erkundigt«

Ein gutes halbes Jahr nach der Unterzeichnung des Entschädigungsgesetzes haben die ehemaligen NS-Zwangsarbeiter immer noch keinen Pfennig von der deutschen Wirtschaft erhalten. Zudem weigert sich die Stiftungsinitative »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft«, die Abweisung der Sammelklagen gegen deutsche Unternehmen in den USA als Zeichen der Rechtssicherheit zu akzeptieren. Seit der Veröffentlichung des Buches »Die Holocaust-Industrie« von Norman Finkelstein wendet sich die Entschädigungsdebatte gegen die Opfer. Karl Brozik ist Geschäftsführer der Jewish Claims Conference in Deutschland.

In seinem Buch »Die Holocaust-Industrie« wirft Norman Finkelstein Ihrer Organisation vor, den Überlebenden große Teile der bisherigen Entschädigungszahlungen vorenthalten zu haben.

Ich weise die Kritik in der ganzen Breite zurück und möchte betonen, dass es unerheblich ist, ob der Kritiker Finkelstein heißt oder anders. Jeder, der sich mit dem Thema befasst, sollte bei dem recherchieren, der beschuldigt wird. In diesem Fall bei der Claims Conference in Deutschland, wo alle Gelder zur Auszahlung gebracht werden. Ich wundere mich deshalb, dass nicht ein Einziger bei uns angeklopft und sich erkundigt hat.

Sie werfen also nicht nur Finkelstein vor, schlecht recherchiert zu haben, sondern auch anderen Journalisten?

Nicht nur den Medienvertretern, sondern auch den Wissenschaftlern. Es haben sich ja viele Leute eingemischt und über die Claims Conference gesprochen und geschrieben. Ich konnte mich nur wundern, dass niemand mit den Fragen zu der Quelle vorgedrungen ist, die einzig und allein Auskunft hätte geben können. Ob das nun Hans Mommsen war mit seinem Korruptionsvorwurf an die Claims Conference oder Otto Graf Lambsdorff in der Frage nach den Mitteln unserer Sozialprojekte oder andere. Niemand hat nachgeforscht, wie die Mechanismen der Claims Conference, die seit 50 Jahren gewachsen sind, aussehen.

Finkelstein wirft jüdischen Organisationen insgesamt vor, das Leid, das den europäischen Juden während der Shoah angetan wurde, für ihre eigenen Interessen auszubeuten.

Ja, was sollen denn die eigenen Interessen der Claims Conference sein? Die Claims Conference ist der Zusammenschluss von honorigen jüdischen Organisationen, die ohne Ausnahme ehrenamtlich arbeiten. Alle Gelder, die der Claims Conference zugeteilt wurden, sind an soziale Einrichtungen und sozial Schwache verteilt worden. Die Claims Conference hat weder Grundbesitz für den eigenen Bedarf, noch Dienstwagen oder Ähnliches. Eine Bereicherung hat nie stattgefunden und wäre auch gar nicht möglich, weil wir vom Bundesrechnungshof kontrolliert werden und nach unseren Statuten zur Kontrolle durch eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft verpflichtet sind. Es sind Falschinformationen ohne jede Substanz gegen uns verwandt worden.

Umfragen ergeben immer wieder einen erschreckend hohen Anteil antisemitischer Überzeugungen in der deutschen Bevölkerung. Glauben Sie, dass diese durch die breite Rezeption von Finkelstein noch weiter zunehmen werden?

Manche Leute sagen, wer Antisemit ist, bleibt ein Antisemit und lässt sich durch Argumente nicht belehren. Ich bin nicht ganz dieser Meinung. Ich glaube, dass Menschen, die anfällig für Antisemitismus sind, der Belehrung und Aufklärung bedürfen. Ich glaube auch, dass man Antisemitismus argumentativ beeinflussen kann. Individuell und auch als gesellschaftliches Phänomen, das als solches in der Bevölkerung festgestellt werden konnte.

Welche antisemitischen Denkmuster sehen Sie denn bei der deutschen Bevölkerung?

Dazu zählt sicherlich Finkelsteins Behauptung, dass wir unberechtigt Entschädigungsgelder verlangen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Claims Conference hat nur einen Bruchteil von dem zurückgefordert, was von den Nationalsozialisten an Schaden angerichtet wurde. Wir nehmen keinem etwas ab, das uns nicht gehörte. Wenn ich »uns« sage, meine ich die Generation der Verfolgten, die ihr ganzes Hab und Gut verloren haben, die ihren Beruf nicht länger ausüben konnten und die ihre nächsten Verwandten verloren haben. Wenn man das mit finanziellen Mitteln ausdrücken könnte, dann wäre das, was bisher bezahlt wurde, nur ein ganz geringer Bruchteil dessen.

Alle, die schuldhaft beteiligt waren - ob es nun direkt oder indirekt die Schweizer Banken waren oder die deutsche Industrie - haben eine Schuld zu begleichen. Und der Skandal ist, dass es erst 50 Jahre nach dem Krieg geschieht und keineswegs, dass es überhaupt geschieht.

Kann es sein, dass Finkelsteins Verkehrung der historischen Kausalitäten in Deutschland auch deshalb so dankbar angenommen wird, weil nun gesagt werden kann: Seht her, das hat sogar ein Jude gesagt?

Das ist etwas, das mich immer wieder aufregt. Wenn ein Artikel so beginnt: »Finkelstein, selbst Jude ...«, dann werde ich hellhörig. Warum schreibt man das? Ob jemand aus Tibet stammt oder aus dem Vatikan, das ist egal. Entweder hat er Recht oder er hat nicht Recht. Es spielt keine Rolle, ob er Jude ist.

Spielt es aber eine Rolle für die Auszahlung der Entschädigungen durch die deutsche Wirtschaft, dass deren Repräsentanten vor dem Hintergrund der Finkelstein-Debatte einfacher behaupten können, sie würden schon wieder von Juden über den Tisch gezogen?

Grundsätzlich glaube ich das nicht. Aber es ist schon so, dass es Betriebe gibt, die sich dadurch bestätigt fühlen, sich nicht am Stiftungsfonds zu beteiligen. Laut sagen sie es nicht.

Wird es Ihrer Meinung nach denn nun bald zu den Zahlungen an die früheren Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter kommen?

Ich bin von Grund auf ein Optimist. Ich hatte fest gehofft, dass noch vor Weihnachten die ersten Auszahlungen erfolgen könnten; ich bin dennoch zuversichtlich, dass bald ausgezahlt werden kann. Am Mittwoch wird eine amerikanische Richterin über die Abweisung der letzten Sammelklagen entscheiden.

Der Sprecher der deutschen Stiftungsinitiative hat doch schon im Januar klar gemacht, dass selbst die Abweisung der Klagen nicht ausreicht, um mit den Zahlungen zu beginnen.

Die Industrie würde sich ihres guten Rufes entledigen, wenn sie die Anerkennung des Rechtsfriedens durch den Bundestag und den damit zusammenhängenden Beginn der Auszahlungen nicht akzeptieren würde. Ich glaube nicht, dass es unter den Verantwortlichen in der deutschen Industrie viele gibt, die den guten Ruf, der ohnehin Schaden genommen hat, noch mehr schädigen.

Wirkliche Druckmittel bleiben den Opfern nicht mehr. Sind sie nach dem Urteil nicht ganz auf das Wohlwollen der Industrie angewiesen?

Im Prinzip gebe ich Ihnen Recht. Dabei schmückt sich die Industrie mit der Freiwilligkeit ihrer Leistungen.