Deutsche Finkelstein-Rezeption

Beschränkte Einzigartigkeit

Mit Finkelstein entdecken deutsche Historiker den Holocaust in aller Welt.

Wer sich fragt, warum Norman Finkelstein und sein Buch über die »Holocaust-Industrie«, das von amerikanischen Zuständen handelt und in den USA fast vollständig ignoriert wurde, in Deutschland solches Aufsehen machten, wird schließlich wohl Jakob Augstein zustimmen müssen, hier gebe es »in den Herzen der Menschen eine verzweifelte Sehnsucht nach dem Ende der Schuld«. In der Tat sehen die alten und die neuen Nazis, die Geschichtsrevisionisten der Mitte, Martin Walser und Augstein-père ja genauso aus, als wollten sie vor Sehnsucht demnächst verzweifeln. Da aber die Schuldigen inzwischen nahezu ausgestorben sind und von einer Schuld nur noch in seltenen Fällen die Rede sein kann, weshalb Walser ersatzweise von einer Schande sprach, muss es die Sehnsucht nach etwas anderem sein, die sie zur Verzweiflung bringt. Und obwohl manche behaupten, sie sei ihnen angeboren, weiß man auch nach fünfzig Jahren noch nicht, in welchem Körperorgan sie steckt.

Finkelsteins Thesen, der Holocaust sei ein schreckliches historisches Verbrechen gewesen, er sei heute aber vor allem eine Industrie, eine jüdische Verschwörung zur Erpressung der Deutschen und ein ideologisches Konstrukt zur Rechtfertigung der israelischen Machtpolitik, jüdische Organisationen hätten die Zahl der Überlebenden gefälscht, um mehr Geld verlangen zu können, und das Geld, das deutsche Regierungen großzügig spendeten, nicht gerade veruntreut, aber doch auch nicht zur Entschädigung der Überlebenden verwendet, sondern für politische Zwecke, wurden zwar in der deutschen Presse schlecht und recht zurückgewiesen. Trotzdem wurden wohl nie zuvor die Erleuchtungen eines Autors, der sich selbst für einen Linksradikalen hält, so ernst genommen wie im Falle Finkelstein. Verzweifelt bemühte man sich, in dem großen Haufen bösartigen Unfugs ein Körnchen Wahrheit zu entdecken.

Nicht die Bohne für irgendwelche Tatsachen, umso mehr aber für wahrere Wahrheiten interessierte sich Lorenz Jäger von der FAZ, der schon im letzten Jahr mit Freude feststellen konnte, Finkelstein habe »ein Fenster geöffnet«. Vor zwei Wochen nun sah man ihn in einem Fernsehstudio des SWR, wo er mit Julius H. Schoeps, dem Direktor des Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrums, mit Otto Graf Lambsdorff, dem Schriftsteller Rafael Seligmann und der Filmautorin Tina Mendelsohn anlässlich Finkelsteins die neueste Reform deutscher Geschichte besprach. Finkelsteins Buch sei »eine zu großen Teilen glänzende, zu anderen Teilen eine schrille oder verstiegene Streitschrift«, meinte Jäger noch immer, und der Zuschauer durfte verstehen, Finkelsteins Tatsachenbehauptungen seien verstiegen, seine Schlussfolgerungen jedoch glänzend, um leise daran zu zweifeln, dass so etwas möglich ist. Durchs offene Fenster erblickte Jäger nun eine »Wasserscheide«. Die »unkritische, sakrale, parareligiöse Haltung, mit der man in den neunziger Jahren alles betrachtet hat, was mit dem Wort Holocaust daherkam«, sei endlich obsolet geworden. »Die parareligiöse Erinnerungskultur ist (...) an ein Ende gekommen. Es wird in Zukunft natürlich eine Aufarbeitung der Vergangenheit geben, aber sie wird mit kritischeren Fragen verbunden sein.«

Mit ihrem Film über die Wehrmacht habe Tina Mendelsohn »ein Beispiel von historischer Aufklärung« geliefert, »wie ich sie mir in Zukunft eigentlich wünsche: die konkrete Rekonstruktion eines Pogroms unmittelbar nach dem Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges. Der KGB, die Mordkommandos, gehen in die Gefängnisse und vor dem Rückzug werden noch soundso viel Tausende umgebracht. Die Wehrmacht kommt ein paar Tage später herein und inszeniert ein Pogrom. Das ist die Art von historischer Dokumentation, die ich vor zehn Jahren nicht gesehen habe. Das ist die neue Chance.« Die Filmemacherin fühlte sich geschmeichelt und nannte es einen Fortschritt, »die Verbrechen der Sowjets und die Verbrechen der Nationalsozialisten, die in diesem Fall so ganz dicht beieinander sind, in dieser Situation als Zuschauer zu ertragen, ohne dass mit dem einen das andere kleiner wird«.

Jetzt war es an Schoeps zu beweisen, dass mit dem einen das andere kleiner werden muss und soll. Finkelstein habe »ein Tabu getroffen. Er hat vielleicht die Mittel ein wenig überspitzt. Mir macht das große Sorgen, wenn die rechtsradikale Presse das jetzt auf Seite eins pausenlos bringt und sich auf Finkelstein als den Heilsbringer beruft.« Man kann ihn beruhigen, seine Sorge ist unbegründet, weil die rechte Presse sich fortan auch auf ihn selbst berufen kann. Denn »zunehmend kommen die Historiker zu der Überzeugung, dass es sehr problematisch ist, vom Holocaust immer als einzigartigem Verbrechen zu sprechen. Jedes Verbrechen ist einzigartig.«

Ja, genau, fiel Rafael Seligmann ein, »Mord ist Mord«. Zweifellos, das wussten schon Gertrude Stein und der Sanitätsgefreite Neumann. Für das betroffene Individuum kann unter ungünstigen Umständen ein tödlicher Verkehrsunfall sogar schlimmer sein als ein Völkermord. »Wir müssen jetzt beginnen«, forderte Seligmann die Fernsehempfänger auf, »Geschichte möglichst objektiv zu sehen.« Was wir in den letzten fünfzig Jahren offenbar nicht getan haben. Darf man ihn einen nützlichen Trottel nennen, weil er nicht ahnt, dass manche, die heute beginnen, die Geschichte möglichst objektiv zu sehen, morgen die ermordeten Juden noch einmal werden nachzählen wollen?

Die Einzigartigkeit des Holocaust ist nun wohl endgültig dementiert, ohne dass es dazu eines Arguments bedurft hätte. Wer immer noch und mit guten Gründen auf ihr beharrt, ist von gestern. Trotzdem bleibt, wenn man Schoeps glaubt, »für die Deutschen natürlich der Massenmord an sechs Millionen Juden ein Problem, in der Tat ein einzigartiges Problem. Aber das gibt es auch bei anderen Völkern. Denken Sie an die Armenier! Die Armenier haben auch dieses Problem der Einzigartigkeit der Verfolgung durch die Türken. Denken Sie an die Indianer in den Vereinigten Staaten!« Und lassen Sie sich von unseren führenden Historikern davon überzeugen, dass der Holocaust ein Ereignis von beschränkter Einzigartigkeit war und dass die Deutschen, wenn man sie mit den Armeniern und den Türken oder mit den Indianern und den Conquistadoren vergleicht, natürlich die Armenier oder die Indianer sind und nicht die Türken oder die Conquistadoren.

Die Folgerung, die sich notwendig aus all diesem ergibt, formulierte einer, der an dem denkwürdigen Gespräch gar nicht teilnahm: »Mich brachte das Gespräch auf die Idee, einmal öffentlich die Frage zu stellen, was denn die anderen Völker getan haben, um ihre historischen Schulden abzutragen? Wo blieben deren Wiedergutmachungen?« schrieb Franz Schönhuber 1999 in der National-Zeitung. Bei der nächsten Gelegenheit sollte man auch ihn einladen, er hat es verdient. Mit ihm könnten wir uns darüber verständigen, ob wir es den Juden danken sollen, dass wir ihnen 100 Milliarden Mark an Entschädigung zahlen und so beweisen durften, dass wir allen anderen Tätervölkern der Geschichte moralisch überlegen sind, oder ob wir sie dafür hassen müssen.