Die Zukunft des Kapitalismus

Der Imperialismus ist umgezogen

Im Zentrum und an der Peripherie - der Weltmarkt ist überall. Über die Zukunft des Anti-Imperialismus in den Zeiten der Globalisierung.

Die ökonomischen Grundannahmen der klassischen Imperialismustheorien etwa von Luxemburg und Lenin haben sich als fehlerhaft erwiesen. Lenin beschrieb den Imperialismus als »letztes Stadium des Kapitalismus«. Das monopolistische Finanzkapital sei nach beendeter Aufteilung der Welt mit Hilfe der Nationalstaaten in einen kriegerischen Konflikt um die Kontrolle von Investitionsgebieten und Märkten verwickelt und treibe damit den Zusammenbruch des Systems voran.

Diese Diagnose taugte zwar in gewissem Grade zur Beschreibung des Kapitalismus bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wird aber den heutigen Realitäten kaum gerecht. Und bekanntermaßen hat sich der emanzipatorische Charakter der sich auf diese Theorie beziehenden antiimperialistischen und nationalen Befreiungskämpfe als fragwürdig erwiesen. Zu oft ist der »Anti-Imperialismus« zur Legitimation autoritärer Politikformen und Regime verkommen.

Dass der Imperialismusbegriff in linken politischen Debatten praktisch keine Rolle mehr spielt, hängt auch damit zusammen, dass nach dem Scheitern eben dieser Bewegungen und dem Zusammenbruch des Staatssozialismus heute eher die »Zivilisierung« des Kapitalismus als dessen Beseitigung auf der politischen Tagesordnung zu stehen scheint. So geht es vielen derzeitigen Bewegungen und Initiativen, die sich dem Kampf gegen den »Neoliberalismus« widmen, weniger um den Kapitalismus selbst, sondern um seine vermeintlichen Auswüchse, z.B. in Form des so genannten Finanzkapitals, dessen Dynamik es »demokratisch« zu bändigen gelte.

Hinter der Verschiebung der Begriffsverwendung stehen also theoretische und politische Probleme, die ernst genommen werden müssen. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass der kapitalistische Entwicklungsprozess sich von Anfang an auf der Basis weltumspannender Ungleichheits-, Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse entfaltet hat, die bis heute wesentlich durch die konkurrierenden Nationalstaaten abgesichert werden.

Die Akkumulation des Kapitals ist grundsätzlich an die Existenz von Gewaltverhältnissen gebunden, die internationale Ungleichheiten festschreiben. Dabei stellt das System konkurrierender Einzelstaaten einen grundlegenden Bestandteil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses dar.

Es dient nicht nur dazu, weltweite ökonomisch-soziale Ungleichheiten zu verewigen, sondern festigt auch die Klassenherrschaft mittels »nationaler« Spaltungen und macht Staaten zu Akteuren im Konkurrenzkampf der Kapitale. Daran hat sich seit dem frühen Kolonialismus bis zum heutigen System standortoptimierender Wettbewerbsstaaten nichts geändert.

Staat und Kapital heute

Dieses Verhältnis unterliegt allerdings erheblichen historischen Veränderungen. Der heute bestehende Kapitalismus weist Merkmale auf, die sich grundlegend von denen unterscheiden, die Lenin, Luxemburg oder Hilferding zu Beginn des letzten Jahrhunderts vor Augen hatten. Das Stichwort dafür ist die »Globalisierung«. Mit diesem Begriff sind ökonomische und politische Restrukturierungsstrategien gemeint, die nach dem Zusammenbruch des fordistischen Nachkriegskapitalismus und im Gefolge der Weltwirtschaftskrise der siebziger Jahre zur Wiederherstellung des Kapitalprofits durchgesetzt wurden. Im Rahmen dieser Entwicklung erfolgte zum einen eine durchgreifende Internationalisierung der Produktion und die Herausbildung eines transnationalen Kapitals, das seine Beziehungen zu den Staaten gelockert und flexibilisiert hat. Zum anderen brachen die Sowjetunion und mit ihr die bipolare Weltordnung zusammen, die sich im Gefolge der russischen Oktoberrevolution herausgebildet hatte. Damit hat sich die praktisch uneingeschränkte ökonomische, politische und militärische Herrschaft der metropolitanen Triade USA/Nafta, EU und Japan unter Führung der USA etabliert.

Man kann dies durchaus als imperialistisches Herrschaftsverhältnis bezeichnen, auch wenn es sich wesentlich von dem unterscheidet, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts existierte. Heute kann weder von einem »nationalen Kapital« noch von »nationalen Ökonomien« im hergebrachten Sinne gesprochen werden. Das transnationale Kapital bezieht sich immer stärker auf das Staatensystem insgesamt und mobilisiert gleichzeitig nationale Standortkonkurrenzen. Mit der Internationalisierung des Akkumulationsprozesses und der realen Herstellung des Weltmarkts gewinnen internationale Regulierungsinstitutionen wie IWF, Weltbank oder WTO als Instrumente kapitalistischer Restrukturierungs- und Steuerungspolitik und als Stützpunkte von Kapitalinteressen im Verhältnis zu den einzelnen Staaten an Bedeutung. Gleichzeitig beschränken die Staaten im Zuge neoliberaler Deregulierungs- und Privatisierungspolitik ihre ökonomischen und sozialen Interventionsspielräume und damit ihre Fähigkeit zur ökonomisch-gesellschaftlichen Regulierung.

Nicht zuletzt durch diese Veränderungen - das Ende der globalen Machtbalance zwischen Ost und West und die wettbewerbsstaatliche Transformation des Staatensystems - wurde nationalen Befreiungsbewegungen der ökonomische und politische Boden weitgehend entzogen.

Das Interesse des transnationalen Kapitals richtet sich nicht mehr auf territoriale Expansion, sondern auf eine allgemeine Durchsetzung von Freihandel und Marktwirtschaft und der diese garantierenden politischen Bedingungen. Während es damit die Erosion national-ökonomischer Zusammenhänge vorantreibt, bleibt es trotzdem auf die militärischen und organisatorischen Potenziale in einzelnen Staaten und Staatenbünden angewiesen. Dies äußert sich in einem widersprüchlichen Prozess von Globalisierung und Regionalisierung. Der globalisierte Kapitalismus zerfällt zugleich in konkurrierende Macht- und Interessenblöcke, charakterisiert durch die Triade.

Entscheidend für die Struktur des heutigen kapitalistischen Weltsystems ist also eine qualitativ neue Form der Internationalisierung der Produktion und damit verbunden eine wesentliche Veränderung im Verhältnis zwischen Staat und Kapital. Wenn mit Imperialismus ein System gemeint ist, in dem in nationalem Rahmen organisierte Monopole mit Hilfe der jeweiligen Staaten ihre Interessen mittels räuberischer Expansionspolitik verfolgen, gehört dies weitgehend der Vergangenheit an. Und selbst das traditionelle Verhältnis von Zentrum und Peripherie, das darauf beruhte, dass die kapitalistischen Metropolen die Peripherie in ökonomisch-politischer Abhängigkeit hielten und damit wesentlicher Entwicklungsmöglichkeiten beraubten, trifft die Wirklichkeit nicht mehr genau.

Der neue Schub der kapitalistischen Globalisierung hat zu sozial-räumlichen Differenzierungsprozessen geführt, die eine klare Unterscheidung von Zentrum und Peripherie immer schwieriger machen. In Teilen der Peripherie entstehen weltmarktintegrierte Wachstumspole, und zugleich nehmen innerhalb der Zentren sozial-räumliche Ungleichheiten zu. Auch dort breiten sich teilweise »Drittwelt«-Lebensbedingungen aus.

Konkurrenz der Metropolen

Die kleine Gruppe metropolitaner »starker« Staaten bildet einen wesentlichen Rückhalt der transnationalen Konzerne. Sie vor allem sorgen für die wissenschaftlich-technologischen, infrastrukturellen Potenziale, die das transnationale Kapital zu seiner Verwertung braucht. Und sie verfügen über die militärischen Gewaltmittel, mit denen weltweit eine gesellschaftliche, politische und ökonomische Ordnung durchgesetzt wird, die notwendig ist, um internationalisierte Produktions- und Wertschöpfungsketten intakt zu halten. Nicht mehr territoriale Eroberungen, sondern die allgemeine Garantie einer unbeschränkten Waren- und Kapitalzirkulation sowie der politischen Strukturen, die diese gewährleisten, die Durchsetzung von »freedom and democracy« im liberalkapitalistischen Sinne sind das vorrangige Ziel. In der Selbstmandatierung der Nato zur universalen Interventionsstreitmacht drückt sich diese neue Machtstruktur aus. Sie ist das Instrument, mit dem weniger fügsame, die so genannten Schurken-Staaten also, zur Räson gebracht, anwachsende Fluchtbewegungen kontrolliert und Aufstände notfalls gewaltsam niedergeschlagen werden. Angesichts dieser Machtstruktur könnte man heute durchaus von der Existenz eines »Hyperimperialismus« sprechen.

Gleichzeitig wird das System der starken Staaten aber von erheblichen Konflikten durchzogen. Diese beruhen darauf, dass die nationalstaatliche Organisationsform eine eigene politische - wettbewerbsstaatliche und wohlstandschauvinistische - Dynamik entwickelt hat und die Interessenkämpfe transnationaler Konzerne nach wie vor zwischen diesen Staaten ausgetragen werden. Die Beziehungen zwischen den metropolitanen Staaten sind daher von komplexen Kooperations- und Konkurrenzverhältnissen geprägt. Angesichts der absoluten militärischen Überlegenheit der USA können diese Konflikte allerdings praktisch nicht mehr die Form direkter kriegerischer Auseinandersetzungen annehmen, sondern äußern sich in permanenten Handelskriegen, in den Auseinandersetzungen um protektionistische Maßnahmen oder um den Schutz so genannter geistiger Eigentumsrechte.

Die WTO-Konferenz in Seattle ist 1999 vor allem an diesen zwischenstaatlichen Konflikten und weniger wegen der Aktionen der Protestbewegung gescheitert.

Dieses Verhältnis schließt allerdings verdeckte militärische Konflikte und Stellvertreterkriege zwischen den kapitalistischen Metropolen nicht aus, wie die jüngsten Kriege in Afrika und auf dem Balkan gezeigt haben. Die »Bürgerkriege« in Afrika wurden nicht zuletzt von konkurrierenden Großmächten, z.B. von den USA und Frankreich, angeheizt, während die Entwicklung des Balkankonflikts ohne die divergierenden Interessen der darin verwickelten Nato-Mächte kaum zu verstehen ist. Hier ging es nicht zuletzt um die Auseinandersetzungen um die Kontrolle einer militärisch und wirtschaftlich strategischen Region an der Südflanke Russlands.

Charakteristisch ist, dass Herrschaft nicht mehr vorrangig mit »nationalen Interessen«, sondern mit dem Verweis auf die Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten legitimiert wird. Dies geht mit einer bedeutsamen Umdefinition dieser Begriffe einher. »Demokratie« reduziert sich mittlerweile auf die Existenz eines liberalen Institutionengefüges, das angesichts eingeschränkter einzelstaatlicher Handlungsspielräume seine Substanz einbüßt und damit zur politischen Voraussetzung für die kapitalistische Durchdringung der Welt wird.

Der Demokratiebegriff verliert damit den emanzipatorischen und universalistischen Gehalt, den er selbst in seiner bürgerlich-kapitalistischen Beschränktheit immer noch enthielt. Gleichzeitig werden »Menschenrechte« immer deutlicher zum Inbegriff der in den kapitalistischen Zentren herrschenden Lebensweise deformiert - einschließlich deren ökonomischer und politisch-sozialer Grundlagen, die weltweit Ungleichheit und Unterdrückung fortschreiben.

Was nun?

Was heißt dies für die analytische und politische Bedeutung des Imperialismusbegriffs? Grundsätzlich könnte man sagen, dass, wer vom Kapitalismus redet, vom Imperialismus nicht schweigen sollte. Oder umgekehrt: Das Verschwinden des Imperialismusbegriffs aus der politischen Diskussion hängt auch mit den Schwierigkeiten zusammen, eine adäquate und auf der Höhe der Zeit stehende Kapitalismustheorie zu formulieren. Eine solche müsste den Strukturwandel begreifen, dem der Kapitalismus im Verlauf seiner historischen Entwicklung unterworfen ist. Der Imperialismus ist nicht, wie oft behauptet wird, Merkmal einer vergangenen historischen Phase. Aber er hat seine Gestalt und seine Dynamik erheblich verändert. Dies ist das Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen und Kämpfe, die bislang eben nicht zum Zusammenbruch, sondern zur grundlegenden Reorganisation und Neuformierung des Weltkapitalismus geführt haben.

Der Kapitalismus ist ein Gewaltverhältnis, in dem sozialökonomische Ausbeutungs- und Abhängigkeitsbeziehungen durch ein System konkurrierender Staaten befestigt und reproduziert werden. Von daher behält ein differenzierter, historische Veränderungen reflektierender Imperialismusbegriff seine analytische Bedeutung. Er markiert einen theoretischen Zugang, der ökonomistische Fehlinterpretationen - wie sie auch im Begriff des Neoliberalismus enthalten sind - vermeidet und Kapitalismusanalyse tatsächlich als Kritik der politischen Ökonomie begreift.

Nimmt man die Entwicklung und die gegenwärtige Gestalt des globalen Kapitalismus also zur Kenntnis, ergeben sich einige politische Konsequenzen: Es wird deutlich, dass eine Strategie »nationaler Befreiung« unter den herrschenden Bedingungen nicht nur keine materiellen und politischen Grundlagen mehr hat, sondern prinzipiell Gefahr läuft, das nationalstaatliche System und dadurch die mit diesem verbundenen Spaltungs-, Unterdrückungs- und Ausgrenzungszusammenhänge zu verstärken.

Dieses Problem stellt sich auch bei den aktuellen Bemühungen, die Nationalstaaten zwecks »demokratischer« Kontrolle gegenüber den scheinbar »entfesselten« Kapital- und Finanzmärkten zu stärken. Dabei wird leicht übersehen, dass die bestehenden Staaten - und seien sie auch halbwegs liberaldemokratisch strukturiert - dem kapitalistischen Produktionsverhältnis nicht entgegenstehen, sondern eines seiner wesentlichen Bestandteile darstellen. Und es wird verkannt, dass die Re-regulierung der internationalen Finanzmärkte mittlerweile auch auf der Tagesordnung der mächtigen Staaten steht.

Eine sozialrevolutionäre Bewegung wird vor diesem Hintergrund nur dann erfolgreich sein, wenn sie strikt staatsunabhängig, autonom und international ist. Die »sozialimperialistische« Vereinnahmung der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert, markiert durch die Zustimmung der deutschen Sozialdemokratie zu den imperialistischen Kriegskrediten 1914, sollte man sich immer vor Augen halten.

Zu kritisieren wäre auch ein »Anti-Imperialismus«, der Kapitalismus und Imperialismus als Gegner begreift, die es gewissermaßen von außen zu bekämpfen gilt. Dieser Kampf kann nicht eine andere Verteilung von Macht anstreben, sondern muss vielmehr auf eine sozialrevolutionäre Umwälzung des Alltags, der praktischen Lebensverhältnisse zielen. Denn das Kapitalverhältnis und die dieses stützenden und reproduzierenden Herrschaftsverhältnisse werden durch alltägliche Praktiken, Lebensstile, Konsumgewohnheiten, Beziehungsformen, Geschlechterverhältnisse und Arbeitsweisen erhalten und fortentwickelt. Eine auf Emanzipation gerichtete Politik, die diesen Zusammenhang ausblendet, ist zum Scheitern verurteilt. Sie kann bestenfalls dazu dienen, die Reorganisation des Kapitalismus voranzutreiben.

Schließlich können Demokratie und Menschenrechte nicht schlicht als Produkte bürgerlicher Ideologie abgetan werden. Zweifellos haben sie sich historisch im Zusammenhang mit der Entstehung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft entwickelt, standen aber zugleich von Anfang an im Widerspruch zu ihr. Angesichts der Tatsache, dass die globale Herrschaft des Kapitals sich heute »demokratisch« legitimiert und dass imperialistische Kriege unter der Flagge der »Menschenrechte« geführt werden, kommt dem Kampf um einen neuen, radikalisierten und emanzipativen Demokratie- und Menschenrechtsbegriff und um die ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen zu dessen Verwirklichung eine zentrale Bedeutung zu. Gerade weil der autoritäre Staatssozialismus historisch gescheitert ist, muss diese Dimension des gesellschaftlichen und politischen Kampfes in den Vordergrund rücken.

Ein Anti-Imperialismus, der sich nicht als Machtstrategie, sondern als sozialrevolutionäres Projekt versteht, muss in diesem Sinne radikal demokratisch und menschenrechtlich sein. Was also not tut, ist eine zugleich politische und soziale Oppositionsbewegung neuen Typs. Dass sozialrevolutionäre Bewegungen sich in vielen Teilen der Welt heute wesentlich als Demokratie- und Menschenrechtsbewegungen begreifen, bedeutet also nicht notwendig eine reformistische Einschränkung der politischen Perspektiven. Die veränderten Bedingungen des globalisierten Kapitalismus und Imperialismus verlangen neue Politikinhalte und -formen.

Der Beitrag erschien zuerst in Blätter des iz3w, Nr. 251 (oeff@iz3w.org)