Vorm Parteitag der Grünen

Schwarz-grün ist der Widerstand

Um sich auch künftig überall anbiedern zu können, brauchen die Grünen ihren linken Flügel. Deshalb steht Claudia Roth auf dem Parteitag in Stuttgart als Vorsitzende bereit.

Grüne Visionen sind nicht Träume jenseits der Realität.« So lautet einer der schönsten Sätze des neuen grünen Parteiprogramms, über das die Delegierten auf ihrer Bundeskonferenz am Wochenende in Stuttgart erstmals diskutieren werden. Den Bezug zur Realität freilich hat die Partei auf ihrem Marsch durch die Institutionen längst hinter sich gelassen. In der Opposition träumte man noch davon, die Republik zu verändern, ging dabei aber wenigstens von einer realistischen Sicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse aus. Die heutigen Regierungsgrünen aber müssen sich die Wirklichkeit so zurechtträumen, dass sie mit den eigenen Grundsätzen und Zielen wenigstens halbwegs kompatibel bleibt.

Fischer und seinen Freunden mag das egal sein, irgendwelche Grundsätze - außer dem Willen zur Macht - sucht man bei ihnen ohnehin vergeblich. Umso tragischer ist das jedoch für die verbliebenen Restlinken in der Partei bzw. diejenigen, die sich zumindest selbst noch als links bezeichnen. Sie müssen sich entweder eine Nische suchen oder rhetorische Sprünge vollbringen und sich so mehr und mehr der Lächerlichkeit preisgeben.

Dann wird aus einem Angriffskrieg eine Friedensmission, aus dem Bombardement serbischer Schulbusse die Verteidigung von Menschenrechten, aus dem Aufbau einer Interventionsarmee Krisenprävention, aus einem Programm zum Weiterbetrieb deutscher Atomanlagen ein Atomausstieg, aus der Erhöhung der Abgaben auf Heizöl und Benzin eine ökologische Kehrtwende und so fort.

Eine Meisterin im Metier der Selbst- und Realitätsverleugnung ist Angelika Beer, die »Verteidigungsexpertin« der Grünen, bis heute eine bekennende Antimilitaristin. Unvergessen ihr Auftritt Ende März 1999, als sie den Kosovo-Krieg mit einem unwiderleglichen Argument rechtfertigte: »Was sollen wir denn sonst machen?« Auf Berichte über vergewaltigende Bundeswehrsoldaten im Auslandseinsatz reagierte sie jüngst mit der Forderung, die alte deutsche Tradition der Frontpuffs wieder zu beleben.

Vergangene Woche lief sie nun angesichts des Berichts der Bundesregierung über die Rüstungsexporte im Jahr 1999 zur Höchstform auf. Darin steht, dass die deutsche Industrie niemals zuvor soviel Profit mit Waffenexporten gemacht hat wie unter Rot-Grün (5,9 Milliarden Mark), und zwar vor allem durch Verkäufe in die Türkei (1,9 Milliarden Mark), aber auch in die Vereinigten Arabischen Emirate (337 Millionen Mark). Das passt zwar nicht zu den neuen Exportrichtlinien der Bundesregierung, die alle Käufer deutscher Waffen auf die Achtung der Menschenrechte verpflichten wollen. Angelika Beer betont deshalb, bei Waffengeschäften gehe es »nicht nur um Quantität, sondern auch um Qualität«.

Waffen und Soldaten haben es den einstigen grünen FriedenskämpferInnen inzwischen besonders angetan. Auch Rebecca Harms, die Landesfraktionschefin in Niedersachsen, hat ihren Frieden mit dem Krieg geschlossen. Als erste niedersächsische Grüne sprach sie Ende Februar auf einer Gelöbnisfeier der Bundeswehr. Die 500 Rekruten der Wilhelmstein-Kaserne in Luttmersen mussten sich anhören, was von grünem politischen Bewusstsein übrig bleibt, wenn die eigene Partei endlich mitentscheiden darf über Leben und Tod: »Wir machen Politik für alle Menschen in der Bundesrepublik, und unsere Verantwortung hört nicht an den Kasernentoren auf.« Außerdem dürfen jetzt auch Frauen Mörderinnen werden, was Harms dazu animierte, den 17 Rekrutinnen der Wilhelmstein-Kaserne ihre volle Frauensolidarität zuzusichern: »Sie werden immer wieder ein dickes Fell brauchen. Aber lassen Sie es nicht zu dick werden. Ich will hier sicher keinem auf den Schlips treten, aber Dickfelligkeit unter Männern gibt es in der Bundeswehr sicher genug.«

Claudia Roth ist eine, die von sich noch gerne behauptet, sie sei eine Linke. Selbstredend war sie gegen den Kosovo-Krieg, aber klug genug, deswegen nicht gleich den Aufstand zu proben. So wird sie denn am Freitag auf der Bundesdelegiertenkonferenz zur neuen Bundesvorsitzenden gewählt werden, als Nachfolgerin der dank BSE zur Verbraucherschutzministerin aufgestiegenen Renate Künast. In ihrem Bewerbungsschreiben an die Delegierten führt Claudia Roth auf, was ihr in der Politik besonders wichtig ist. Da wäre zum einen die »Errichtung eines modernen zukunftsfähigen Deutschlands nach langen Jahren rückwärts gewandter verantwortungsloser Politik«. Und zum anderen natürlich die »Nachhaltigkeit«. Und was heißt Nachhaltigkeit? »Nachhaltigkeit heißt Beharrlichkeit, Festigkeit, Standhaftigkeit, Entschiedenheit.« Und was schätzen die Menschen draußen im Land am meisten? »Die Menschen schätzen die Ehrlichkeit einer neuen Politik, die nicht schönredet.« Deshalb redet auch Claudia Roth nichts schön, auch nicht, wenn es um die deutsche Vergangenheit geht: »Nach Jahrzehnten der Verweigerung wird mit der Bundesstiftung ðErinnerung, Verantwortung, ZukunftÐ die moralische Verpflichtung gegenüber den Zwangsarbeitern, den lange vergessenen Opfern des Nationalsozialismus eingelöst und Deutschland seiner historischen Verantwortung gerecht.«

Wer derart souverän in der neuen deutschen Realität angekommen ist, der sollte doch eigentlich problemlos bei Fischer & Co. Karriere machen können. Aber wie man hört, stößt Roths Kandidatur bei den Oberrealos um Fischer, Kuhn und Schlauch nicht unbedingt auf große Begeisterung. Doch gibt es weder eine Gegenkandidatin, noch ist die Parteispitze zwei Wochen vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz an neuem Streit interessiert. So wurde schon der Krach um Fischers Auftritt in Washington binnen weniger Stunden in gegenseitigem Einvernehmen zwischen den so genannten Parteilinken und den Fischer-Freunden beigelegt. Auch die angehende Parteichefin Roth hielt sich mit Kritik an Fischer auffällig zurück.

Außerdem werden Vorzeigelinke wie Claudia Roth - die »Heulsuse fürs grüne Spartenprogramm« (Welt) - in den kommenden Auseinandersetzungen der Grünen mit ihrer einstigen Klientel dringend gebraucht. Wenn Ende März die Castoren rollen, dürfen sie das grüne Gewissen verkörpern, dürfen sich medienwirksam unter die Demonstranten mischen und gleichzeitig um Verständnis für die Atomtransporte werben, die leider doch notwendig seien, damit der rot-grüne »Atomausstieg« tatsächlich in die Tat umgesetzt werden kann.

Während der grüne Fraktionsvorsitzende Rezzo Schlauch in guter alter CDU-Manier den Widerstand kriminalisiert und das Ansägen von Bahngleisen trotz begleitender Vorsichtsmaßnahmen als »hinterhältigen und kriminellen Anschlag, bei dem Menschen an Leib und Leben gefährdet worden sind«, geißeln darf, können sich Harms, Roth und andere als Verteidiger von Meinungsfreiheit und Demonstrationsrecht profilieren. »Was nicht passieren darf, ist der Eindruck, wir sind nicht mehr Teil der Bewegung«, hat Roth als Parole ausgegeben. Ein paar innerparteiliche Atomkonsensgespräche zwischen Parteichef Fritz Kuhn und Umweltminister Jürgen Trittin auf der einen sowie Vertretern der niedersächsischen Grünen auf der anderen Seite hat man deshalb schon platzen lassen. Auf dem Parteitag am kommenden Wochenende aber wird man sich dann wohl doch auf eine gemeinsame Formel einigen, die etwa so lauten könnte: Die Proteste sind zwar irgendwie verständlich, weshalb Grüne - außer bei gewaltträchtigen Blockaden - auch mitmachen dürfen. In der Sache aber sind sie falsch, weshalb Grüne besser nicht mitmachen sollten.

Früher stritten sich Fundis und Realos noch darum, ob sich die Grünen an Regierungen beteiligen sollten oder nicht. Heute streitet man nur noch darüber, mit wem man koalieren soll. Ausgerechnet die vermeintlichen Linken machen sich jetzt, kurz vor den Landtagswahlen, für schwarz-grüne Bündnisse stark. Diese seien »theoretisch wünschenswert«, sagte Umweltminister Trittin im neuesten Spiegel. Schließlich »belegen die Erfahrungen auf Kommunal- und Kreisebene, dass Bündnisse mit der CDU politisch nicht konfliktreicher sein müssen als mit der SPD«. Unterstützung bekam Trittin von Claudia Roth, während Realo Kuhn widersprach: »Schwarz-grün ist eine Illusion und hat keinen Realitätsgehalt.« In diesem Punkt ist das Verhältnis der Realos zur Realität offenbar nachhaltiger gestört als das der Fundis.