Eine für alle

Ökologisch, demokratisch, gewaltfrei: Die neue Vorsitzende Claudia Roth verpackt alte grüne Lebenslügen neu.

Fritz Kuhn gibt Starthilfe. Vom Podium herunter mahnt der Parteichef an, was im Jahr 2001 »grün und gut« ist: Geschlossen sollen sie auftreten, die Grünen, »die wieder da sind. Gebt meiner Claudia bei der Wahl ein saugutes Ergebnis.« Auch die beiden Mikrofone im parteinahen Sonnenblumen-Look, grün geschminkt mit gelber Halskrause, symbolisieren den festen Willen, zwei Wochen vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg nichts dem Zufall zu überlassen. Schließlich habe sich die Welt gedreht, wie Spitzenkandidat Dieter Salomon erklärt: »Wir haben Rückenwind.« Und weil man auch in Berlin auf eine Ablösung der schwarz-gelben Regierung Erwin Teufels setzt, muss der Außenminister ran. »Gegen das Bündnis mit dem Teufel« empfiehlt Joseph Fischer den »Propheten Salomon«.

Sprachlich darf's im Ländle ruhig »a bissle mee sei«. »Ich wünsch Euch, dass Ihr Euch in Stuttgart sauwohl fühlt«, versichert Brigitte Lösch vom örtlichen Kreisverband den angereisten Parteifreunden und-freundinnen. Denn am Samstagabend, wenn alles getan ist, steht eine Party auf dem Programm: Grünen-Disko im Zapata, »einem der angesagtesten Clubs der Stadt«. Für Fremde gibt es einen kopierten Stadtplan.

Dort zieht Kuhn am späten Abend die Paella in der essbaren Teigschale den einheimischen Maultaschen vor. In Halle 4 auf dem Stuttgarter Messegelände setzt der Schwabe indes ganz bewusst auf lokale Liaisons. Denn »seine« Claudia stammt aus Ulm, das keine hundert Kilometer von Kuhns Heimatort entfernt ist. »Mein Fritz aus Memmingen«, sagt deshalb auch Claudia Roth.

»Lasst uns das gute Gewissen sein«, ruft die 45jährige den rund 700 Delegierten zu und spricht viel von Solidarität, vom Kampf um gleiche Rechte für alle Völker, gegen die Armut und für eine ehrliche, moralische Politik. Viele ihrer Sätze erinnern an jene »Frontfrau einer Strömung«, die sie nach eigenen Worten gerade nicht sein will. »Alte Werte sind neue Werte«, sagt sie und hält eine Rede, in der das grüne Profil wieder deutlich werden soll: »Wir gehen nicht für Big Brother in irgendeinen Container, wir wollen Flüchtlinge aus Containern raushauen.« Die FDP bekommt ihr Fett ebenso wie der Patriarch Fischer. Die US-amerikanischen Bombardements im Irak, so Roth, seien kein Mittel, »einen Diktator Hussein zu überwinden«.

Die Bewerbungsrede kommt an - 91,5 Prozent der Delegierten wählen Claudia, die Idealistin, an die Seite von Fritz, dem Pragmatiker. Ein Erfolg versprechendes Paar, das die Ambivalenz in politischen Aussagen zum Programm erhebt. Hier in Stuttgart übt die Partei wieder kräftig den Spagat. Zum Beispiel beim Thema Castor: auf die versprochene »grüne Zerreißprobe« wartet man wieder einmal vergeblich. Geschlossen grün beklatschen die Delegierten ihren Umweltminister Jürgen Trittin. »Wir müssen den Atommüll aus Frankreich zurücknehmen«, ja, daran hegt hier im Saal kaum jemand einen Zweifel. Nicht weniger Applaus ernten Aufforderungen, »sich weiter an den Protesten der Anti-Atom-Bewegung in Ahaus, Gorleben und anderswo zu beteiligen«. Parole: Nicht gegen die Regierung, sondern für den Ausstieg. Harmonie braucht keine Linie.

Draußen vor den Messehallen schreien sich vorher rund 50 Anti-AKW-GegnerInnen die Seele aus dem Leib. »Grüne zurück auf die Straße«, fordern sie, woraufhin die nordrhein-westfälische Umweltministerin Bärbel Höhn versichert: »Jeder Grüne darf blockieren.« Demo-Aufrufe aber bitte nur »auf der Grundlage des Atomkonsenses«. In die Halle dürfen die DemonstrantInnen allerdings nicht, jedenfalls nicht alle. Wer versucht, sich an der Empfangshalle vorbeizumogeln, wird von der Polizei abgedrängt. Die BeamtInnen schieben unerwünschte Gäste mitsamt einer Handvoll solidarischer Delegierter wieder vor die Tür. Fünf Leute und fünf Minuten Redezeit - das Angebot der herbeigeeilten Claudia Roth kommt schlecht an. »Alle oder keiner«, tönt es nur wenige Minuten später aus dem Megafon.

Also keiner. Drinnen im Saal ist man sich nach einer knappen Stunde leidenschaftsloser Debatte einig. Das vom Parteirat ausgearbeitete Papier, das »den Atomausstieg umsetzen« will, bekommt eine große Mehrheit. Ja zum Atomkonsens, ja zum Demonstrieren, wer kann da noch nein sagen. Zufrieden resümiert Roth, die auch zur frauenpolitischen Sprecherin gewählt wird, am Ende der dreitägigen Konferenz: »Wir Grünen bleiben aktiver Teil der gesellschaftlichen Anti-AKW-Bewegung.« An der »eindeutigen Verteidigung des Rechtes zu Demonstrationen« will man auf diesem Parteitag festhalten. Auch das musste einmal gesagt werden.

»Für uns läuft es hier ganz gut.« Der Parteilinke Hans-Christian Ströbele ist zufrieden. Sein Antrag, der die Trennung von Ministeramt und Abgeordnetenmandat festschreibt, findet eine knappe Mehrheit. Ein Beschluss, der den Ökos prompt wieder Schelte einbringt. »Wer sich so präsentiert, ist noch nicht in der Regierungsverantwortung angekommen«, stellt etwa die Berliner Morgenpost fest. Außenminister und Abgeordneter Joseph Fischer bleibt gelassen. »Die Realität wird es richten.«

Fischer erwartet von der Partei, den Spannungsbogen zwischen »visionären Ebenen« und »programmatischem Handeln« auszuhalten. Dass es mit den Visionen manchmal hapert, bekräftigt Memet Kilic vom Vorstand des Bundesausländerbeirats: »Solange die Grünen Herrn Schily für einen Gott halten, können wir keine vernünftige Einwanderungspolitik machen.«

Und dann das: Die knappe Mehrheit der Delegierten stimmt einem Antrag zu, der die Berliner Fraktion auffordert, »eine Gesetzesinitiative in den Bundestag einzubringen, die die Wiederherstellung des Grundrechts auf Asyl in seiner uneingeschränkten Fassung zum Ziel hat.« Neue Werte? Die andere Hälfte der grünen Parteigänger jedenfalls stimmt gegen den Vorschlag, sie zieht offenbar Drittstaaten- und Flughafenregelung dem früher geforderten Bleiberecht für Flüchtlinge vor.

Ein Delegierter aus Braunschweig traut sich was. »Ich weiß, ich werde hier Pfiffe ernten«, sagt der grauhaarige Mittfünfziger, der an seinem Dialekt unschwer als gebürtiger Brite zu erkennen ist. Nein, er spricht nicht für seinen Kreisverband, sondern einfach so. Wenn er jetzt gelegentlich in seine alte Heimat zurückreist, erzählt er, bedauere er die »Überfremdung« der weißen Minderheit. »Einwanderer sind nett und lieb, trotzdem schmerzt es, dass das nicht meine Leute sind.« Von der geringen Aufregung, die seine Worte hervorrufen, ist er fast schon enttäuscht: »Wo bleiben die Pfiffe?«

Draußen, in Berlin und München etwa, hätte man dem Braunschweiger jedenfalls gern Recht gegeben. Für »schlichten Unsinn« hielt Koalitionspartner Otto Schily beispielsweise die Idee, das alte Asylrecht wieder in Kraft zu setzen. Der Bundesinnenminister sprach von einem »Rückfall in alte Sponti-Zeiten«. Guido Westerwelle von der konkurrierenden FDP meinte gar, die Grünen hätten »personell, programmatisch und stilistisch die achtziger Jahre nie verlassen«. Dabei brachte doch Renate Künast noch am Sonntagabend bei Sabine Christiansen die grüne Politik des neuen Jahrtausends auf den Punkt: »Unsere Parteimitglieder sind alle mit einem hohen Intelligenzquotienten ausgestattet und wissen, dass für eine Änderung des Asylkompromisses eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages nötig ist.«

Harmonie in hoher Dosis. Kaum ein Thema eignet sich da besser als eine innerparteiliche Debatte um den Verbraucherschutz. Essen muss Spaß machen, sagt die »Großstadt-Göre« Künast, wie Kuhn seine Renate nennt. In den sterilen Stuttgarter Messehallen machen die Grünen vor, wie's klappt mit der Freude am guten Essen: vegetarisches Fast-Food aus dem Wok 16 Mark, ein Becher Kaffee 6 Mark, ein kleines Bier 6, 80 Mark. Natürlich alles konsequent bio.

Das Präsidium bescheinigt dem Parteitag einen »tollen Verlauf«. Und so legt man den Delegierten gegen Ende nahe, Änderungsanträge zum Thema, »die neue Landwirtschaft ist grün«, doch bitte zurückzuziehen. Alles hat schließlich eine Grenze, auch wenn ein aufgeregter Delegierter am Rednerpult feststellt, dass es auf dieser Konferenz wenig Redezeit für die Basis gibt. Auf seinen Antrag, »keine Abschlachtung von Rindern zur Marktbereinigung«, verzichtet er dann artig.

Fürs Gefühl bleibt freilich immer Zeit. »Moralische Politik ist unsere Stärke, nicht unsere Schwäche«, sagt Claudia Roth. Und Stärke wird gefragt sein im neuen Amt, in all den Kämpfen, die anstehen: ökologische Modernisierung, europäische Integration, Interventionskriege. Wer würde da nicht melancholisch werden, wenn eine Freundin vom Podium herunter Rio Reiser rezitiert: »Wann, wenn nicht jetzt, wer, wenn nicht wir?«