Keine Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter

Warten auf das jüngste Gericht

Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft nimmt die Entscheidung eines US-Gerichts zum Vorwand, die vereinbarten Zahlungen an NS-Zwangsarbeiter weiter aufzuschieben.

Die These von der Kollektivschuld der Deutschen an den NS-Verbrechen verfolgte von Anfang an vor allem den Zweck, individuelle Schuld zu verschleiern. Deshalb wurde und wird sie auch meist von Leuten ins Feld geführt, die sie ablehnen - nach dem Motto: Die anderen werfen den Deutschen eine kollektive Schuld vor, aber es gibt keine Kollektivschuld, also sind alle unschuldig.

Auch die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft zur Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter dient diesem Anliegen. Sie wurde bekanntlich vor allem aus dem Boden gestampft, damit deutsche Unternehmen nicht in den USA wegen ihrer Beteiligung am NS-Vernichtungssystem verklagt werden. Schließlich können Entschädigungsklagen dort sehr teuer werden; so musste die Tabakindustrie jüngst Strafen in Höhe von stolzen 145 Milliarden Dollar berappen.

Die vereinbarte Entschädigung spart den deutschen Konzernen nicht nur viel Geld. Die Holocaust-Profiteure können sich zugleich hinter »der deutschen Wirtschaft« als Gesamtheit verstecken. Denn in die Kasse der Stiftungsinitiative sollen alle deutschen Unternehmen mit mehr als zehn Beschäftigten einzahlen - egal ob sie vor 1945 schon existierten oder nicht.

Und wenn es nach Günter Grass geht, sollen am besten gleich alle Deutschen ihren Obulus erbringen, damit deutsche Firmen auch in Zukunft in den Vereinigten Staaten unbehelligt Geschäfte machen können. Dabei kommen von den zehn Milliarden Mark der Stiftung ohnehin fünf Milliarden und weitere 2,5 Milliarden, die die Unternehmen von der Steuer absetzen können, vom Staat.

Was der Sprecher der Stiftungsinitiative Manfred Gentz »ein sichtbares Zeichen der Anerkennung unserer historischen Verantwortung« nennt, ist nichts anderes als eine Verschleierung der juristischen Schuld derjenigen Banken und Konzerne, die sich an der Vernichtung durch Arbeit bereicherten. Wie etwa Mercedes-Benz bzw. DaimlerChrysler, wo Gentz im Hauptberuf den Posten des Finanzvorstandes bekleidet.

Trotz all der Verwässerung und Vertuschung hält sich der Drang der deutschen Unternehmen, der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« beizutreten, jedoch in Grenzen. Immer noch fehlen 1,4 Milliarden Mark, um die versprochenen fünf Milliarden voll zu machen. Seit letztem Oktober haben sich 1 600 weitere Unternehmen erweichen lassen, insgesamt 5 800 sind nun beteiligt.

Die Stiftungseinlagen stiegen im selben Zeitraum jedoch lediglich um 400 Millionen Mark. Das Verhalten der Stiftungsinitiative lässt zudem darauf schließen, dass sie es offenbar auf ein Scheitern der Entschädigung anlegt. Zwar wachsen die bereits eingezahlten 3,6 Milliarden Mark täglich um 400 000 Mark Zinsen. Das reicht indes kaum, um den Fehlbetrag in absehbarer Zeit aufzubringen. Wenigstens sollten die Zinseinnahmen sofort an die über 80jährigen ehemaligen Zwangsarbeiter ausgezahlt werden, forderte der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, am Wochenende.

Shirley Wohl Kram, Richterin am Bundesgericht in New York, bekam jüngst die ganze Arroganz der Stiftungsinitiative zu spüren. Kram hatte vergangene Woche über eine Sammelklage ehemaliger NS-Zwangsarbeiter gegen die Deutsche Bank, die Dresdner Bank und andere große deutsche Kreditinstitute zu entscheiden. Als sie jedoch von den deutschen Unternehmen eine Zusage verlangte, dass die versprochenen fünf Milliarden auch tatsächlich aufgebracht werden, reagierte die deutsche Seite mit dem Hinweis, die Zweifel der Richterin an der Zuverlässigkeit der deutschen Industrie dürften keine Rolle spielen.

Die verlangte Zusage blieb aus. Die Reaktion der Richterin war folgerichtig: Sie weigerte sich, die Sammelklage abzuweisen. Viele der NS-Opfer hätten seit Jahrzehnten auf Entschädigung gewartet, so die Richterin in ihrer Urteilsbegründung. Es wäre deshalb unfair, sie mit ihren Ansprüchen an eine Stiftung zu verweisen, deren Finanzierung bis heute unklar sei. Shirley Wohl Kram widersetzte sich damit einer Anweisung der US-Regierung. Denn das State Department hat mittlerweile - wie in den Vereinbarung zwischen USA und Deutschland vorgesehen - die Justiz im eigenen Land aufgefordert, keine Sammelklagen von Zwangsarbeitern anzunehmen, um so »Rechtssicherheit« für die deutsche Wirtschaft herzustellen.

Die Stiftungsinitiative reagierte auf das Urteil der Richterin im Herrenton. »Erst die Zurückweisung aller Klagen gegen die deutsche Wirtschaft, und dann können wir das Geld überweisen«, dekretierte Stiftungssprecher Wolfgang Gibowski im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Zugleich bezichtigte er die amerikanische Seite unterschwellig des Vertragsbruches: »Unsere Gesprächspartner in den USA - das waren die Klägeranwälte und die Vertreter der amerikanischen Administration - hatten uns vor der Unterzeichnung der gemeinsamen Erklärung eine zügigere Bearbeitung der Sammelklagen zugesagt, als sie dann tatsächlich erfolgte. Auch nachher haben wir immer wieder positive Aussagen über die Zügigkeit der Zurückweisung der Sammelklagen gehört. Und in der Tat haben wir uns darauf verlassen. Man muss ja seinen Vertragspartnern vertrauen können.« Eine Antwort auf die Frage, wann denn die Stiftungsinitiative ihr Versprechen wahr machen und die fehlenden 1,4 Milliarden Mark einzahlen wird, bleibt Gibowski indes nach wie vor schuldig.

Angesichts des fast schon demonstrativen Desinteresses der Stiftungsinitiative an einer baldigen Auszahlung werden nun die Rufe lauter, die Bundesregierung solle schon einmal damit beginnen, ihren Anteil an die ehemaligen Zwangsarbeiter zu überweisen. Dafür wäre allerdings eine Änderung des Stiftungsgesetzes notwendig. Während FDP und CDU bereits erklärt haben, dass sie eine solche Änderung ablehnen, lässt die Bundesregierung diese Möglichkeit derzeit prüfen.

Im März will sich Kanzler Gerhard Schröder zudem mit Vertretern der Stiftungsinitiative treffen, um das Thema noch vor seiner USA-Reise vom Tisch zu bekommen. Denn die rotgrüne Bundesregierung, die sich bisher so energisch für die deutschen Holocaust-Profiteure ins Zeug legte und sich bei den Entschädigungsverhandlungen stets konsequent auf die Seite der Täter stellte, fürchtet angesichts der jüngsten Entwicklungen um Deutschlands Ansehen. Das liegt auch Claudia Roth, der neuen Vorsitzenden der Grünen, besonders am Herzen: Das Gezerre um die Entschädigungen schädige den Standort Deutschland.

Deutlich wurde hingegen der SPD-Fraktionschef Peter Struck. Es sei »ein Skandal, dass die Wirtschaft durch ihre mangelnde Zahlungsmoral erst die Rechtssicherheit gefährdet hat und jetzt die fehlende Rechtssicherheit als Begründung für ihre Nicht-Zahlung anführt«, erklärte er der Nachrichtenagentur dpa. Das sei »zynisch, doppelzüngig und unmenschlich«.

Die Anspruchsberechtigten werden derweil täglich weniger: Laut dem tschechischen Verband der ehemaligen Zwangsarbeiter sterben allein in seinen Reihen pro Tag 15 Betroffene. Die einstigen Zwangsarbeiter können sich inzwischen darauf einstellen, dass sie vor Juli oder August kein Geld erhalten werden, obwohl man ihnen die Auszahlung schon für den Herbst 2000 zugesichert hatte. Denn die Bundesregierung wird wohl auch noch ein weiteres strittiges Gerichtsverfahren abwarten, das in Kalifornien anhängig ist.

Erst wenn dieses Verfahren und das in New York niedergeschlagen sind, wird der Bundestag, wie im Stiftungsgesetz vorgesehen, die »Rechtssicherheit« für die deutsche Wirtschaft offiziell feststellen, womit die letzten Hindernisse einer Auszahlung an die Betroffenen eigentlich beseitigt wären. Die Stiftungsinitiative hat jedoch bereits angekündigt, sollte der Beschluss des Bundestages ohne die Zustimmung der eigenen juristischen Experten zustande kommen, werde man die Entschädigungszahlungen weiter blockieren.