D. F. Wallaces »Kleines Mädchen mit komischen Haaren«

Drei-D-Lektüre

David Foster Wallace schreibt Geschichten, die den zwei Dimensionen der Fernsehbilder eine dritte hinzuerzählen.

Als Teenager war er ein Tennisstar, heute gehört er zu den bedeutendsten Autoren der USA - David Foster Wallace. Er lebt in der Nähe von Bloomington, Illinois, ist 39 Jahre alt, unterrichtet an einem College Englische Literatur und wohnt mit zwei Labradormischlingen zusammen. Zu seinen Lieblingsfernsehsendungen gehören »Akte X« und »Baywatch«. Was ist von so einem Mann zu erwarten? Packende Thriller? Wunderbare Betrachtungen über das Leben auf dem Lande? Drehbücher für animierte Tierfilme?

Da gebe es »sehr komplizierte ästhetische Gründe«, warum er sich diese Serien im Fernsehen anschaue, rechtfertigt sich Wallace im New York Times Magazine. Sie beruhigen die Nerven, wirken wie ein Narkotikum, man wisse, dass in wenigen Minuten eine Reihe von Platitüden ausgetauscht werden und am Ende alle Probleme gelöst seien. Ganz im Gegensatz zu seinen eigenen Geschichten, die mitreißend und intelligent sind und wie ein Aufputschmittel wirken.

Spätestens seit dem Erscheinen seines Monumentalwerkes, dem über tausendseitigen »Infinite Jest« (1996), was so viel heißt wie »unendlicher Witz«, hat David Foster Wallace den Sprung in die erste Liga der amerikanischen Literatur und in die nationalen Bestsellerlisten geschafft. Hilflose Kritiker feiern ihn als ein unberechenbares Genie, andere halten sich an Kategorien und vergleichen seine Bücher mit den Werken von Thomas Pynchon oder Don DeLillo. Wie kommt es, dass erst jetzt, zwölf Jahre nach der Veröffentlichung in den USA, der Erzählungsband »Kleines Mädchen mit komischen Haaren« auf Deutsch erscheint? Und was sind das für Geschichten?

In der Erzählung »Tiere sehen dich an« wird ein junges Mädchen, Julie Smith, mit seinem autistischen Bruder an einem Highway ausgesetzt. Die Mutter sagt ihnen, sie sollen an einem Zaun stehen bleiben, bis das Auto wiederkommt und sie abgeholt werden. Vor ihnen, auf einer Weide, steht eine Kuh und schaut den Kindern beim Warten zu. Zehn Jahre später ist Julie die Queen bei der Rateshow »Jeopardy!«, eine unschlagbare Kandidatin, die jedes Detail kennt, jede Aufgabe löst, als habe sie ein Lexikon verschlungen.

Sie durchdringt die Oberfläche des Faktischen und reichert die Namen und Zahlen mit Bedeutung an. Die Produzenten sind so begeistert, dass sie zu ihren Gunsten die Spielregeln ändern. Eigentlich hätte Julie nach fünf Runden als Champion ausscheiden müssen, aber die Einschaltquoten steigen mit jedem Tag, die Medien fördern den Kult um ihre Person, und bald glaubt auch der abgebrühte Quizmaster, »an die letzten Dinge, an den Urgrund allen Wissens« zu rühren. Auf jede noch so schwierige Antwort weiß sie die richtige Frage. Lediglich auf einem Gebiet muss sie kapitulieren, immer wenn es um Tiere geht, versagt die Traumkandidatin.

Julie Smith ist mehr als die »personifizierte Spielshow«, sie ist die pervertierte Verkörperung des amerikanischen Traumes, eines Systems, das die Selbstverwirklichung im Medium verspricht und auch den seltsamsten Menschen die Möglichkeit eröffnet, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Für jeden gibt es ein geeignetes Format. Julies Daseinsberechtigung speist sich aus der Show, ohne die sie nichts ist, sie weiß, dass sie mit ihrem schier unerschöpflichen Allgemeinwissen außerhalb des Studios nichts anfangen kann. Die Tricks, mit denen sie in der Show gehalten wird, stehen aber im Widerspruch zum Konzept von Fernsehshows, die sich über einen ständigen Wechsel und eine zumindest vorgetäuschte Chancengleichheit definieren. Wer immer gewinnt, wird für den Zuschauer langweilig.

Die Titelgeschichte »Kleines Mädchen mit komischen Haaren« handelt von einem Yuppie, der sich Sick Puppy nennt und mit einer Horde »vielseitig talentierter Punkmusiker« einem Konzert des Pianisten Keith Jarrett beiwohnt. Sick Puppy will sich äußerlich aber gar nicht so recht in die Punkszene einfügen, denn er trägt einen Anzug und Lackschuhe, besuchte die renommierten Bildungsstätten der Vereinigten Staaten, arbeitet in einer Kanzlei und verdient »hunderttausend Dollar per annum«. Sein größtes Vergnügen besteht darin, an den Schenkeln seiner Freundin mit einem goldenen Feuerzeug entlangzufahren, die Häarchen anzusengen und sich von ihr »fellationieren« zu lassen.

Die manierierte geschwollene Sprache, mit der Wallace Sick Puppy diese Geschichte erzählen lässt, schafft einen Abstand zu den beschriebenen Intimitäten und Gewaltakten. Wenn auf einer Party ein Republikaner in eine mit Bowle gefüllte Schale gedrückt wird, geschieht dies - nach den Worten des Erzählers - in der Absicht, »selbigen dauerhaft von der Sauerstoffversorgung abzuschneiden«.

In einem vor ein paar Jahren in der österreichischen Literaturzeitschrift Wespennest veröffentlichten Essay über »literarische Perspektiven und auffallend junge Autoren« beschreibt Wallace sein Unbehagen gegenüber modernen Massenmedien und populärer Kultur, die das Leben der Menschen auf existenzielle Weise beeinflussen: »Jeder von uns ist der Held seines eigenen Schauspiels, und die anderen rings um uns werden in Nebenrollen oder (zunehmend) in den Zuschauerstatus verwiesen.« Man lebe, schreibt Wallace, mit einer »passiven Aktivität« und nehme einen gewissen Grad der Manipulation hin, solange die Botschaften stimulieren und Vergnügen bereiten.

Wallaces Kritik des Fernsehens lässt sich in der Umkehrung als eine Poetik seiner literarischen Produktion verstehen. Das Fernsehen »ist eine erzählende Kunst, der es nicht darum geht, zu verändern, aufzuklären, Horizonte zu erweitern oder Orientierungen zu geben - nicht einmal unbedingt darum zu unterhalten -, sondern immer nur darum, Interesse zu wecken, zu gefallen.« Die Literatur habe dagegen die Aufgabe, die zweidimensionalen Medienbilder in die dreidimensionale Welt zurückzuführen und aus den »flachen Images« eine verloren gegangene Realität zu rekonstruieren.

David Foster Wallace begnügt sich nicht damit, die Oberfläche zu schildern und Personen durch ihre Markenklamotten zu charakterisieren, er macht mit seinen Forderungen ernst, die Möglichkeiten und Grenzen von Literatur zu testen, er dringt ein in den Medienzirkus und macht aus Pappkameraden und Leinwandhelden wieder Menschen, die so einsam sind, dass sie ins Fernsehen gehen müssen, wenn sie mit jemandem sprechen wollen. Mitunter ist es sogar das Einzige, »dem sie noch irgendwelche Gefühle entgegenbringen, denn das Fernsehen ist gewissermaßen auch das Einzige, das ihnen sagt, wer sie sind«.

David Foster Wallace: Kleines Mädchen mit komischen Haaren. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2001, 304 S., DM 38