Urteil zur Pflegeversicherung

Verfassungsschutz für die Familie

Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Pflegeversicherung will die Erziehungsleistung anerkannt wissen.

Wenn es um den deutschen Nachwuchs geht, sind sich Konservative und ehemalige Alternative auffällig einig. »Das ist ein guter Tag für Familien«, jubelte der rechtspolitische Sprecher der Grünen, Volker Beck, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG). Und der CSU-Mann Horst Seehofer fiel ein: »Dadurch erhalten Familien enormen Rückenwind.«

In der SPD reagierte man dagegen verschnupft auf das Urteil, nach dem Eltern geringere Beiträge in die gesetzliche Pflegeversicherung einzahlen sollen als Kinderlose. Kanzler Gerhard Schröder etwa monierte, die Richter sollten künftig bitteschön auch andeuten, wie die Umsetzung ihrer Urteile finanziert werden könnte.

Auslöser des richtungsweisenden Urteils war die Beschwerde eines zehnfachen Vaters gegen seine doppelte Belastung durch die gesetzliche Pflegeversicherung. Das gegenwärtige Umlageprinzip bedeute, dass Kinder nur jenen Nutzen brächten, die selbst keine hätten. Und er bekam Recht.

Die RichterInnen des 1. Senats entschieden in der vergangenen Woche, dass kinderlose Beitragszahler in der Pflegeversicherung verfassungswidrig bevorzugt werden. Denn Eltern müssten doppelt zum Erhalt dieses Sozialversicherungszweiges beitragen: »Die kindererziehenden Versicherten sichern die Funktionsfähigkeit der Pflegeversicherung also nicht nur durch Beitragszahlung, sondern auch durch Betreuung und Erziehung von Kindern.« Damit schloss sich das Gericht sowohl der Auffassung des Beschwerdeführers als auch den in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Positionen des Deutschen Familienbundes, des Familienbundes der Deutschen Katholiken und des Verbandes allein stehender Mütter und Väter an.

Mehr Leistung, aber nicht mehr Gegenleistung - so sollte es nach dem formulierten Verständnis von Solidarität zugehen. Im Gegensatz zur Rentenversicherung kennt die Pflegeversicherung ähnlich wie die Gesetzliche Krankenversicherung kein Äquivalenzprinzip, das die Höhe der Sozialleistung von der Höhe der Beiträge abhängig macht. Deswegen, so die RichterInnen, liege die Verfassungswidrigkeit grundsätzlich weder in der Tatsache der prinzipiell gleichen Leistungsgewährung noch in dem Aspekt, dass auch Versicherte mit Kindern Beiträge zahlen müssen. Es fehle ein Ausgleich für die Erziehungsleistungen auf der Beitragsseite der Pflegeversicherung. ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen zahlen jeweils die Hälfte des Versicherungsbetrages, der 1,7 Prozent des Lohns beträgt.

Nach Auffassung des BVerfG war es schon bei der Einführung der sozialen Pflegeversicherung durch die christlich-liberale Bundesregierung im Jahr 1994 absehbar, dass die Rechnung nicht aufgehen kann. Wegen stagnierenden oder sinkenden Geburtenzahlen und höherer Lebenserwartung habe sich das Verhältnis von Kinderlosen und Kindererziehenden sowie von LeistungsempfängerInnen und Beitragszahlern immer weiter zu Ungunsten der Zahlenden verschoben.

Diese Entwicklung bestätigte auch Herwig Birg, Professor am Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Uni Bielefeld, der als Sachverständiger an der Verhandlung teilnahm. Das Urteil des BVerfG folgt seinem Rechenexempel: Um die heutige Altersstruktur zu halten, müsste »entweder die Geburtenrate pro Frau im gebährfähigen Alter von 1,3 umgehend auf 3,8 steigen oder es müssten 188 Millionen jüngere Personen bis zum Jahr 2050 einwandern«.

Hinter derartigen Argumentationen stecken gleich mehrere fehlerhafte Annahmen. Zwar ist es richtig, dass im Drei-Generationen-Vertrag die jeweils mittlere Generation für die ältere die Grundlage ihrer Sozialleistungen erwirtschaftet und zugleich in künftige Beitragszahler investiert. Dabei ist es abstrakt betrachtet aber egal, ob die Alterssysteme umlagefinanziert oder kapitalgedeckt sind. Falsch ist, dass die künftigen wirtschaftlichen Leistungen der Kinder allein den Eltern gutgeschrieben werden können. Des Weiteren sind Kinder für das zukünftige Sozialprodukt, aus dem die Sozialleistungen finanziert werden müssen, zwar unentbehrlich, aber bei weitem nicht der wichtigste Faktor. Eltern leisten also keineswegs einen »generativen Beitrag« für zukünftiges »Deckungskapital«.

Der gemeinhin ins Spiel gebrachte Wohlstand einer Nation ist nicht bevölkerungspolitisch zu bestimmen. Er hängt vielmehr von der Entwicklung der ökonomischen Kennzahlen, also vom technischen Fortschritt, von der Produktivität, vom Produktionsniveau und nicht zuletzt vom Lohnniveau ab. Wer hier bevölkerungspolitisch argumentiert, verkennt zudem, dass Volkswirtschaften im Sinne von geschlossenen Nationalökonomien nicht erst seit der Globalisierung aufgehört haben zu existieren.

Dass Menschen, die das Kapital erarbeiten, nicht mehr unbedingt in deutschen Landen groß geworden sein müssen, zeigt die Green Card ebenso wie die neuere Debatte um Zuwanderung. Bei der Eröffnung der Computer-Messe Cebit kündigte Bundeskanzler Schröder an, die Green Card auf andere Branchen auszuweiten: »Wenn wir den Wettbewerb um die besten Köpfe nicht verlieren wollen, benötigen wir in Deutschland eine sachliche und sachkundige Diskussion über eine arbeitsmarktorientierte Zuwanderung.« Und in der von Bundesinnenminister Otto Schily eingesetzten Zuwanderungskommission sollen zwar auch »notwendige Ableitungen aus demografischen Faktoren« erarbeitet werden. Doch den Schwerpunkt bildet die »Frage eines qualifizierten Zuwanderungsbedarfs«, wobei die Antwort wahrscheinlich zu einer weiteren Einschränkung des Asylrechts führen wird.

An diesem Punkt treffen sich die VertreterInnen der Neuen Mitte und der Konservativen. Bezeichnend sind die Worte des saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller. »Das Boot ist nicht voll, sondern wird immer leerer«, betonte der Vorsitzende der CDU-Zuwanderungskommission bei der Vorstellung der Broschüre »Zuwanderung durch Integration« am Montag letzter Woche in Berlin.

Integration durch Arbeit, müsste es wohl genauer heißen, denn das benötigte Quantum an Arbeitskraft bestimmt, wer wann nach Deutschland kommen darf. An den Grenzen wie im Landesinnern gilt: Wer bleiben und als anständig gelten will, muss sich durch Arbeit integrieren.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Pflegeversicherung passt nicht ganz in diesen Trend, der mit einer stärkeren Bindung der Ware Arbeitskraft an den Markt beschrieben werden kann. Ganz im Gegensatz zu dieser Entwicklung scheint das Gericht noch den familiären homo oeconomicus vor Augen zu haben, der im inzwischen erodierenden Normalarbeitsverhältnis die Grundlage staatlicher Sozialpolitik bildete. Historisch entstanden aus einer Mischung proletarischer und bürgerlicher Familienvorstellungen, verband dieses Bild eine männliche Erwerbs- mit einer weiblichen Haushaltsbiografie. Die Pflege Alter oder Kranker oblag idealtypisch der Familie, und nicht spezifischen Einrichtungen, zu deren Finanzierung die Pflegeversicherung eingeführt wurde.

Ob nun konservative Familienvorstellungen das Urteil der RichterInnen beeinflussten oder gar die feministische Forderung nach Anerkennung der Reproduktionstätigkeiten als Arbeit, bleibt wohl ein Geheimnis. Die Kontroverse um das Urteil zeigt jedenfalls, dass Regierung wie Opposition einen Umbau des Sozialstaats planen, der sich mit der vorherrschenden neoliberalen Politik verknüpfen lässt.