Generationengeschichte der Kritischen Theorie

Wer wann und warum nicht durchknallte

Warum hielten Horkheimer und Adorno die radikalen Studenten für Wiedergänger der SA? Warum hielten diese ihre Professoren für Büttel der Macht? »Trauma und Kritik« versucht sich an einer psychoanalytischen Deutung.

Erklärungsbedürftig ist in der Regel nicht, warum Menschen alle Verhältnisse umstürzen wollen, in denen sie als geknechtete und verächtliche Wesen existieren, sondern warum sie es nicht tun. In »Trauma und Kritik«, dem neuen Buch des Trios Christian Schneider, Cordelia Stillke und Bernd Leineweber, heißt es über den Versuch von 1968, Revolution zu machen: »Für nichts weniger hielten wir (...) die Zeit reif, die uns heute als Phase des Übergangs in eine demokratisch und sozial gefestigte Bundesrepublik Deutschland historisch vertraut ist. Dass sich die Lehrer der Kritischen Theorie weigerten, sich unserer Zeitdiagnose anzuschließen, bedarf keiner weiteren Erörterung, aber noch heute ist man erstaunt, wie es zu dieser Diagnose kommen konnte. Waren wir wirklich 'durchgeknallt' (...)?«

Schon in »Das Erbe der Napola«, dem ersten gemeinsamen Werk der VerfasserInnen, hatte es sich angedeutet: Sie muten ihren LeserInnen und sich selbst gerade so viel zu, wie ertragen kann, wem es, bei aller Kritik im Einzelnen, am Ende doch lieber ist, dass in den Familien miteinander geredet wird, anstatt dass Tochter und Sohn sich schweigend abwenden und womöglich damit glücklich sind. Nur ging es da psychoanalytisch um die Generationengeschichte des Nationalsozialismus, über den Linksliberale mitunter Vernünftiges zu sagen haben, nicht zuletzt auch Schneider, Stillke und Leineweber. Nun aber wenden sie sich der Kritischen Theorie und ihrer Rezeption bei den 68ern zu, und da treten die Grenzen deutlich hervor.

Die Vermutung liegt nahe, die Methodik sei das Problem. Wozu ein psychologischer Zugang zu den 68ern, zur Kritischen Theorie gar, wenn nicht zum Zwecke, sie über die Macken ihrer Protagonisten zu relativieren? Das Schema - grollende Emigranten wittern überall Auschwitz - ist bekannt, nicht zuletzt von Jürgen Habermas. Und einige Bemerkungen über die Notwendigkeit, die Theorie zu historisieren, um sie verändert weiterführen zu können, nähren den Verdacht. Doch auch und gerade im klügsten Gedanken, in der gelungensten Praxis sind subjektive Affekte nicht eskamotiert, sondern aufgehoben. An solchem Zusammenhang hat die Theorie des Begehrens ihr episches, erzählerisches Interesse. Ihr analytisches, zersetzendes hingegen wird geweckt, wenn das, was logisch nicht zu verstehen ist, eintritt: wenn eine sich linksradikal definierende Bewegung von den Kritikern des Bestehenden mit der Wiederkehr der SA identifiziert wird.

Derart motiviert haben die AutorInnen ihre stärksten Passagen. Für ihre These, dass in der inhaltlichen Komposition der Kritischen Theorie die Spur des Psychischen aufscheint, können sie Adorno als Kronzeugen zitieren. In einem Brief an Horkheimer heißt es: »Wir sind gebunden an zwei verschiedene Phasen der Kindheitsentwicklung; ich eher an die des Braven und Folgsamen, der durch Fügsamkeit die Freiheit zu selbständigem Denken sich erkauft. Du hast etwas von dem aufsässigen, jeder regelhaften Ordnung des Lebens abholden Halbwüchsigen behalten, der seine Renitenz zum Gedanken sublimiert.«

Das adoleszente Aufbegehren prägte nicht bloß das frühe Institut für Sozialforschung, jenen Geheimzirkel marxistischer Bohemiens, die sich gegen das eklige Schicksal von Kaufmannssöhnen verschworen hatten; Friedrich Pollock und Max Horkheimer hatten etwa eine gemeinsame Geliebte, mit der sie, hätten Privatdetektive sie nicht aufgehalten, auf eine einsame Insel geflohen wären. Noch die Bilder, welche die Emigranten nach 1945 von ihrer geplanten Praxis in Deutschland zeichneten, trugen deutliche Züge einer Verschwörung, mit dem gewagten Ziel der Neuerrichtung bürgerlich-demokratischer und jüdischer Kultur im Land der Täter. Vor allem unter den Jugendlichen sollten Gerechte gesucht und zu Individuen erzogen werden.

Nach Auschwitz rief die Kritische Theorie weniger zum Umsturz auf als dazu, sich vom falschen Ganzen nicht kontaminieren zu lassen. Kühn, aber nicht ganz zu Unrecht, parallelisieren die AutorInnen diesen programmatischen Wechsel mit jenem psychischen Unterschied zwischen Horkheimer und Adorno, der in Adornos Brief anklingt. Frühreif nannte Adorno sich einmal. Als Erwachsenem blieb ihm aber der phantasmatische Zugang des Kindes zur Welt erhalten, gestiftet vom Glück, umsorgt zu werden, ebenso wie von der Angst vor den »Kameraden«, in denen er rückblickend den Faschismus vorgeprägt sah. Von dieser psychischen Position, der das vermittelnde Dritte, die Jugend, fehlt, ging ein Denken aus, das die Extreme dialektisch zum Umschlag bringt, das Werden aber geringschätzt.

Paradox genug, dass gerade diese unvermittelte Haltung Erfolge im durchaus pädagogischen Sinne zeitigte. In Adornos negativer Identität erblickten die Studenten der Nachkriegszeit eine Ähnlichkeit mit ihrer eigenen, die er für sie als geschichtlich notwendiges und philosophisch gerechtfertigtes Außenseitertum bezeichnen konnte. Mitglieder einer Generation, die im »intergenerationellen Traumtext« ihrer Eltern kein annehmbares Begehren vorfanden, sahen sich endlich in einem Wunsch repräsentiert und Adorno lehrte in einem Tagtraum an einer auferstandenen Talmudschule. Das Bündnisangebot wahrzunehmen bedeutete, die Sprachlosigkeit, Resultat der verweigerten, leeren Geschichte, zu überwinden - ein gigantischer Akt von Resymbolisierung. Die Kehrseite davon - so Schneider, Stillke und Leineweber - war ein gigantisches Epigonentum, aus Angst durch allzu eigenständige Gedanken die Fürsprecher der Ermordeten zu verraten. Vielleicht lag es ja einfach daran, dass der Kritik nichts hinzuzufügen war.

Das Bündnis zerbrach, folgt man den AutorInnen, an seinem Erfolg. Auch das ist nicht von der Hand zu weisen. Als es den Studenten langsam gelang, aus den Bildern und Begriffen, die die Remigranten mitgebracht hatten, einen »adoleszenten Traum« »autopoietisch« zu rekonstruieren, kamen sie, politisch wie psychisch, auf den Geschmack des Aufbegehrens. Die passende Sprache fanden die angehenden Antiautoritären in den bis dato kaum bekannten frühen Texten Horkheimers. Die Lehrer, so dachte man, führten nur aus Angst andere Reden. Ihnen in sozialistischer Solidarität den Rücken zu stärken, erschien zumindest in Frankfurt als Vollendung des Paktes mit den einst Verjagten.

Dessen grandioses Scheitern kann nicht aus Differenzen in der Sache allein erklärt werden, über das Verhältnis von Theorie und Praxis etwa. Zwischen der Veröffentlichung von Horkheimers Aufsatz »Die Juden und Europa« 1939 und 1968 hatte Auschwitz stattgefunden. »Die bittere Ironie (...) ist, dass beide Seiten tatsächlich dasselbe fürchteten: die Wiederkehr der verdrängten mörderischen Geschichte, sie aber mehr und mehr an ihrem jeweiligen Gegenüber wahrzunehmen meinten.« Horkheimer, in dessen misstrauischen Rückkehrfantasien nur für Individuen, nicht für Kollektive ein Ort vorgesehen war, erblickte in den Studenten die neuen Nazis, die Schrittmacher einer faschistischen Gegenbewegung. Adorno, verstört vom Gruppenbild begabter Denker und brüllender Demonstranten, in denen der »Horst« und der »Jürgen« seiner Kindheit auferstanden schienen, schloss sich an, sprachlos vor Angst. In Briefen an Marcuse heißt es mehrfach, das Frankfurter Geschehen spotte jeder Beschreibung.

Das Pendant dieser Projektionen bildeten die Projektionen der Apo. Spätestens nach der polizeilichen Räumung des besetzten Instituts für Sozialforschung erblickten die Studenten in dessen Koryphäen wenn nicht die Büttel der Macht, dann wenigstens »Gestalten, die ihnen, ganz wie die Eltern, das Beste vorenthielten« - eine legitime Geschichte. An die Stelle der alten imaginären Beziehung trat eine neue; bei Adorno in einem bemerkenswerten Traum über Hans Jürgen Krahl, der seinem Mentor ein Messer an die Kehle setzt und ihn dabei auffordert, doch bitte nicht zu personalisieren.

Psychologisch werden beide Seiten in »Trauma und Kritik« schuldig gesprochen. Dabei soll ein streckenweise grässlicher Soziologenjargon die politische Neutralität wahren. Wie aber soll Psychologie betrieben werden können, ohne dass man zugleich ein politisches Urteil abgäbe, etwa über den Realanteil in Projektionen? Natürlich ahnten Adorno und Horkheimer nicht zu Unrecht in manch schneidigem Revoluzzer den deutschen Michel, mit reinem Gemüt und für einen Dienstwagen zu jedem Verrat bereit. Auch die Antiautoritären trugen Male einer Herkunft aus dem Land der Täter; die AutorInnen verweisen auf das seltsame Faible für den vernünftigen Zwang in einer sozialistischen Organisation, das noch die Texte der Klügsten aus dem Frankfurter SDS durchzieht. Das mag erklären, warum ihre Lehrer 1968 nicht dabei sein wollten. Nicht aber, warum sie sich für den Weg der verfassungsmäßigen Reformen aussprachen, verdruckst für den heißen Krieg in Vietnam und klipp und klar für den kalten gegen die Sowjetunion.

Mit diesem Zug der Kritischen Theorie solidarisieren sich die VerfasserInnen. Vorgestellt wird sie als praktische Absage an den Marxismus, um stattdessen das »Sehen« zu lernen; und dieser »pädagogische Aufschub« wird den 68ern entgegengehalten, die den als »lebendig« wahrgenommenen Faschismus bekämpfen wollten. Das nämlich wäre bloß die andere Seite der gesellschaftlichen Verblendung. Folgerichtig entdecken sie die deutsche Kontinuität bei den K-Gruppen und vor allem in den Protagonisten des bewaffneten Kampfes. Peter Jürgen Boock wird zustimmend zitiert, die Absprache der RAF, Schleyers Begleiter zu töten, sei deren »Wannseekonferenz« gewesen - ein unverschämter Vergleich. Die Grünen kommen hingegen mit einer Fußnote davon, die verschämt ihren inhaltsleeren Machthunger anspricht.

Genau hier aber wäre nach jenem bösen Erbe zu suchen, das die 68er antraten. Das Ende der Revolte, die konstruktive Opposition nach dem Deutschen Herbst wie der Anschluss ans Vaterland nach dem Mauerfall, enthüllen, was sich bei allzu vielen in die Kostüme des Historischen Materialismus kleidete: der Wunsch nach einem allmächtigen Verbündeten, der voranschreitenden Zeit. Um diese Erkenntnis bringt jedoch das zwanghafte Bedürfnis, die Linke als Linke zu kritisieren, statt, wie es sich gehört, sie von links anzugreifen.

Zum Vorschein kommt es ebenso im widersprüchlichen Verhältnis zur Kritischen Theorie selbst. Die Autoren klagen, diese sei schuld an der ermüdenden »marxistischen Orthodoxie« ihrer Schüler gewesen. Vor allem eine Fehlleistung spricht Bände. Walter Benjamin, behaupten nämlich die AutorInnen, hätte in den dreißiger Jahren, um zum Institut dazuzugehören, den Marxismus »so fatal nachzuliefern versucht«. Nun gab es in den Jahren um 1968 einmal einen Disput, doch dieser drehte sich im Kern um den Vorwurf, Horkheimer und andere hätten den exilierten, vom Institut abhängigen Benjamin zum Verzicht auf seine seit Mitte der Zwanziger bekannten kommunistischen Positionen gezwungen und zur Anpassung an die zahmeren des Instituts.

Schneider, Stillke und Leineweber dürften davon wissen, denn viele der revoltierenden Studenten verteidigten - gegen den »Verrat« ihrer Lehrer gewandt - mit Benjamins Marxismus zugleich ihren eigenen. Dreißig Jahre später muss Benjamin immer noch als Projektionsfläche herhalten, allerdings erfolgt die Interpretation diesmal unter umgekehrten Vorzeichen. Benjamin wird zum Leidensgenossen, dem auch einmal die radikale Kritik am Bestehenden oktroyiert wurde.

Zum Wundersamen der Kritischen Theorie gehört tatsächlich, dass ihre theoretische Radikalität trotz aller tagespolitischen Spinnereien ungebrochen blieb. Und diese Radikalität erscheint den AutorInnen zu Recht als Zumutung. Muss sie ihnen doch immer wieder ins Gedächtnis rufen, wie wenig tragfähig ihr Wunschszenario eines demokratisierten Deutschlands sich ausnimmt. »Westliches« Niveau soll seit den Siebzigern besonders durch die »Verbreitung von geschichtlichem Wissen« erreicht worden sein. Doch es ist zweifelhaft, ob die AutorInnen einer Haltung, der die Matrix zugrunde liegt, sich lieber mit einer Vergangenheit als Täter zu identifizieren als gar keine zu haben, viel entgegenzuhalten vermöchten. Vielmehr erwecken sie den Eindruck, schon bei den 68ern sei es mit gelungener Symbolisierung getan gewesen: Geschichte zu deuten und Selbstbilder zu integrieren, wird rückblickend als deren positive Leistung beschrieben.

Frappierend ist, dass den VerfasserInnen zu den Nachwirkungen des Nationalsozialismus auf die Generation der 68er wenig einfällt. Bloß am Rande kommt vor, was in »Das Erbe der Napola« noch im Mittelpunkt stand - die ins Generationenverhältnis projizierten Abjekte. Gemeint waren damit jene persönlichen, durch die unerfüllbaren faschistischen Ideale schmerzhaft sichtbar gemachten Eigenschaften, die der internalisierte Blick der Macht nicht als eigene anzunehmen vermochte. Bearbeitet, d.h. bekämpft werden konnten sie am Anderen. Nach 1945, als Volksfeinde nicht mehr unmittelbar zu Verfügung standen, an den verbliebenen Ohnmächtigen, den eigenen Kindern. Diese wurden um weit mehr gebracht als nur um die Vergangenheit, nämlich um ein Leben jenseits der symbiotischen Verlängerung des elterlichen Körpers. Nur einmal warnt »Trauma und Kritik« vor der »Falle der Negativierung«, vor »rebellischer Gegenidentifizierung« wie vor der Annahme der Projektionen, als gäbe es nicht Schimpflicheres zu verkörpern als das, was deutsche Spießer hassen.

Die Protestbewegung kann froh darüber sein, dass man damals wenig auf solche Ratschläge gab und auf die Einsicht baute, dass die Geschichte nicht nur als dem Wissen (gewaltsam) entzogene traumatisiert, sondern gleichfalls als allzu bekannte Gegenwart. In den Sechzigern bürgten Zahlen wie die, dass 80 Prozent aller Eltern prügelten, davon 30 Prozent mit dem Rohrstock, für die barbarische Kontinuität in den Familien. Gegenwehr war nötig, und als ihr Vorschein war die Kritische Theorie bedeutend und begrenzt zugleich. Die Herausgeber Krahls, zu denen Leineweber gehörte, berichten in ihrem Nachwort, wie dieser das Selbstbewusstsein zu freier Rede im Eiltempo der Revolte gewann; individuelle Emanzipation, im Seminar begonnen, vollendete sich auf der Straße, als die gesellschaftliche antizipierbar wurde. Wo diese von der Bildfläche verschwindet, hilft auch kein erträumter linksliberaler Marcuse weiter.

Christian Schneider, Cordelia Stillke, Bernd Leineweber: Trauma und Kritik. Zur Generationengeschichte der Kritischen Theorie. Westfälisches Dampfboot, Münster 2000, 227 S., DM 48