Zu den Sternen

Das Kosmodrom des Kommunismus

Juri Gagarin war der erste Mensch im Weltall. Ein Nachwort zu seinem Start vor 40 Jahren.

Der Abschied: 2001, 1986

Der Weltraum hatte im Laufe des letzten Jahrzehnts nur Enttäuschungen zu bieten. Die Mission der Mir stellte sich in der Presse als eine Geschichte von Missgeschicken und eben noch verhinderten Katastrophen dar, und um deren Nachfolger, die Internationale Raumstation ISS, stand es nicht besser. Man konnte sich noch nicht einmal auf einen einprägsamen Namen einigen. Bei der Montage folgte eine Panne der anderen, und »die Russen« schafften es erst gar nicht, ihre Bauteile rechtzeitig zu liefern. Stattdessen vermieteten sie ihre Besatzungsplätze lieber teuer an einen dubiosen amerikanischen Multimilliardär.

Auch die Mars-Mobile der Nasa versanken spurlos in der Atmosphäre des roten Planeten. Als eine Sonde der Nasa Anfang des Jahres auf einem unansehnlichen Asteroiden, der auch noch Eros hieß, irgendwo in den Tiefen des Alls zerschellte, wurde das auch noch als Erfolg verkauft. Begeisterung konnte da kaum aufkommen, wusste man doch zudem aus den Hollywoodproduktionen der letzten Jahre allzu gut, dass Asteroiden oder Meteoriten bestenfalls dazu taugen, die Erde in Angst und Schrecken zu versetzen. Deswegen vermochte der Streit um das geplante amerikanische Raketenabwehrprogramm NMD niemanden richtig in Aufregung zu versetzen. Es ist absehbar, dass es technisch genauso wenig funktionieren wird wie der Vorgänger SDI.

Einzig im März dieses Jahres erlangte die Raumfahrt noch einmal ungewöhnliche Aufmerksamkeit, als die Raumstation Mir im Atlantik versenkt wurde. In Ost und West blickte man in die Vergangenheit und berichtete von der Mir als dem untergegangenen »Stolz der russischen Raumfahrt«. Ihr »geregelter Absturz« bedeute für »Millionen Russen« den »endgültigen Abschied von der Kindheit«. Die aufregende und begeisternde »Pionierzeit in der Raumfahrt« sei nun endgültig vorbei. Diese Nachrufe klangen auf der westlichen Seite etwas nach herablassender Tröstung, auf der russischen bestanden sie vornehmlich aus patriotischer Verklärung. Lediglich die B.Z. konnte dem Spektakel des Untergangs noch eine dem Objekt angemessene Faszination abgewinnen und fragte deshalb auf der Titelseite: »Stürzt der Russen-Schrott jetzt auf Deutschland?«

Dass die Mir von Anfang an nichts mehr mit der sowjetischen Raumfahrt zu tun hatte, wie sie 40 Jahre zuvor konzipiert worden war, blieb zumeist unbeachtet. Denn damals bedeuteten die Kosmonautik und die Erkundung des Weltalls für eine ganze Generation den Anfang eines neuen Zeitalters. Fantasien und Wunschvorstellungen knüpfte man an bisher unbekannte Orte, die man mit dem Raumschiff entdecken zu können glaubte. Gleichzeitig hoffte man, dass die Eroberung des Kosmos auch das irdische Leben beeinflussen und grundlegend verbessern werde. Das Kosmodrom sollte die Startrampe nicht nur in den Weltraum, sondern auch diejenige in den Kommunismus sein.

Der Flug Juri Gagarins am 12. April 1961, keine vier Jahre nach dem ersten Sputnikflug, war der Beweis für den Anbruch der neuen Ära. Als »Kolumbus der Kosmonautik« hatte er für die Sowjetunion eine neue Welt erobert, die auch die alte verändern würde. 1956 nahm diese Entwicklung ihren Anfang, und der Sternenhimmel versprach bessere Zeiten.

Der Aufgang der Sonne: 1956

Denkt man im Westen an die Sowjetunion und das Jahr 1956, fallen einem als erstes die so genannte Geheimrede Nikita Chruschtschows auf dem 20. Parteitag der KPdSU und die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn durch die Rote Armee ein. In der sowjetischen Presse las man jedoch gar nichts bzw. relativ wenig von diesen beiden Ereignissen. Hier verhieß das Jahr 1956 den gesellschaftlichen Aufbruch in neue, bisher nicht gekannte Welten: Die Zeit des kulturpolitischen »Tauwetters« begann.

Dieser Aufbruch hatte sich schon vorher angedeutet. Denn nachdem die Sowjetunion 1953 das erste Mal erfolgreich eine Wasserstoffbombe gezündet hatte, versprach die Option eines Krieges kaum noch einen Sieg, sondern lediglich atomare Vernichtung. So hatte Chruschtschow drei Jahre nach Stalins Tod auf dem 20. Parteitag die bisher gültige These Lenins von der Unvermeidbarkeit des Krieges, solange der Imperialismus existiere, zugunsten einer friedlichen Koexistenz zurückgenommen: »Wir stehen für die friedliche Koexistenz, für den friedlichen Wettbewerb zwischen zwei Systemen - dem sozialistischen und dem kapitalistischen. Und wir sind überzeugt, dass unser System siegen wird, so überzeugt wie vom Aufgang der Sonne, so überzeugt wie davon, dass die Sonne morgen aufgeht und unseren Planeten beleuchten wird.«

Diese Siegesgewissheit stützte sich vor allem auf die wissenschaftlich-technischen Fortschritte, die die Sowjetunion während der letzten Jahre gemacht hatte. Im Bereich der Kerntechnologie, der Kybernetik oder auch der Raketentechnik hatte man den Vorsprung der Vereinigten Staaten aufgeholt. Auch im Innern des Landes hatte man die verheerenden Folgen des Zweiten Weltkrieges allmählich überwunden. Chruschtschows Baupolitik schuf neue Wohnräume, der Lebensstandard stieg, das Konsumangebot verbesserte sich merklich und die Television hielt Einzug in die Haushalte.

Doch der Wettbewerb der antagonistischen Systeme beförderte nicht nur das tägliche Glück, er schuf auch ganz neue Einsichten und Perspektiven. Nach Jahren der Isolation konnte man sich nun besser mit den Stärken und Schwächen des Gegners befassen. Reiseberichte, Reportagen und westliche »progressive« Schriftsteller und Künstler brachten den Sowjetbürgern kulturelle, technische und industrielle Errungenschaften der Staaten Westeuropas und Nordamerikas näher. Picassos Werke wurden erstmals in Moskau ausgestellt. Westliche populäre Unterhaltungsfilme, aber auch der italienische Neo-Realismus feierten riesige Erfolge in den Kinos.

Gleichzeitig eröffnete die beginnende Dekolonalisation Afrikas und Asiens ein weiteres großes Interessenfeld. Die Unterstützung Ägyptens während der Suez-Krise verhalf 1956 der sowjetischen Politik im Nahen Osten zum Durchbruch und der UdSSR zu großem Einfluss in den nach Unabhängigkeit strebenden Staaten Afrikas. So gerieten die Verbrechen der westlichen Kolonisatoren, aber auch bis dahin unbekannte Länder und deren Bevölkerungen in die Aufmerksamkeit der sowjetischen Öffentlichkeit. Man folgte etwa Ernest Hemingway zu den grünen Hügeln Afrikas oder entdeckte mit den Expeditionen des norwegischen Ethnologen Thor Heyerdahl zu den Osterinseln die geheimnisvollen Mythen und Kulturen der vorkolonialen Südsee. Höhepunkt dieser Entwicklung war 1957 das mit großem Aufwand inszenierte 6. Internationale Jugend- und Studentenfestival in Moskau, zu dem Teilnehmer aus allen Kontinenten kamen und das ganz im Zeichen der afrikanischen Befreiungsbewegungen stand.

Auf diese Weise war 1956 eine Vielzahl neuer Entwicklungen in Gang gesetzt worden, die eine Öffnung und Veränderung der sowjetischen Gesellschaft bewirkten. Zuvor waren schon in manchen populärwissenschaftlichen Zeitschriften Berichte über die Möglichkeiten menschlicher Flüge in den Kosmos aufgetaucht. Die populärwissenschaftliche Zeitschrift Wissen ist Macht veröffentlichte Ende 1954 eine fiktive Reportage aus dem Jahr 1974, die von der ersten Mondlandung des Menschen berichtete. Aber erst drei Jahre später, als die Sowjetunion und die USA im Rahmen des Internationalen Geophysischen Jahres die ersten künstlichen Satelliten zur Erforschung der Sonnenaktivität in der Erdatmosphäre starten sollten, erkannte man, welche propagandistischen Möglichkeiten dieses Ereignis enthielt. Der Kosmos bot die Möglichkeit, eine neue Ära in der Geschichte der Menschheit einzuleiten.

Die Wiege der Menschheit: 58 Zentimeter, 84 Kilogramm

Als am 4. Oktober 1957 der erste künstliche Trabant der Erde, auf Russisch Sputnik genannt, in den Weltraum geschossen wurde, bedeutete das einen entscheidenden Erfolg für die Sowjetunion im friedlichen Systemwettbewerb. 1 400 Mal umkreiste die 84 Kilogramm schwere Silberkugel von 58 Zentimetern Durchmesser die Erde und signalisierte mit ihren per Radiogerät hörbaren monotonen Piepstönen, dass die Sowjetunion von nun an in der Lage sei, mit ihren Langstreckenraketen auch die USA zu erreichen. Sie war endgültig zur zweiten Weltmacht aufgestiegen. Die durch das Tauwetter möglich gewordenen neuen Perspektiven und Einsichten bekamen schlagartig eine eindeutige ideologische Ausrichtung: den »Weg in den Kosmos«.

Wissen ist Macht schrieb aus diesem Anlass: »Das Steigenlassen des weltweit ersten künstlichen Sputniks der Erde ist in einem Land verwirklicht worden, in dem vor 40 Jahren eine neue Ära in der Geschichte der Menschheit begann. Die Salve des Kreuzers 'Aurora' verkündete den Völkern und Ländern die Geburt einer neuen Welt, neuer zwischenmenschlicher Beziehungen, der Befreiung des Denkens vom Joch. Seit diesem Moment begann die Wissenschaft in unserm Land, sich mit Siebenmeilenstiefeln zu entwickeln, und heute haben ihre Schöpfer ... den kühnen Wunschtraum der Menschheit erfüllt.«

Was im Westen für den »Sputnik-Schock« sorgte, bot in der Sowjetunion mit einem Mal den Ausblick in eine andere Welt, die nicht in die Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit des sozialistischen Aufbaus eingebunden war. Von dieser kosmischen Welt ging in den kommenden Jahren im Zuge des kulturpolitischen Tauwetters eine enorme Faszination aus: »Der Start (...) des Sputniks durch die UdSSR hat eine neue Ära eingeleitet - der menschliche Genius hat den geheimnisvollen Schleier des Weltalls gelüftet und den Weg in den Kosmos geebnet.«

Von nun an waren die sowjetischen Erfolge im All ein andauerndes Thema in der Presse. Im November 1957 flog der erste interplanetare Passagier, eine Polarhündin - auf Russisch Lajka -, in den Kosmos. Nachdem sie eine Woche lang das Leben in der Schwerelosigkeit erkundet hatte, wurde sie in ihrer Raumkapsel eingeschläfert. Im September 1959 schlug der erste von Menschen geschaffene Flugkörper auf dem Mond ein und brachte einen sowjetischen Wimpel auf den Erdtrabanten. Einen Monat später fotografierte eine Automatische Intergalaktische Station erstmals die ständig von der Erde abgewandte Rückseite des Mondes, deren Landkarte somit ausschließlich sowjetische Namen kannte und im Januar 1960 veröffentlicht wurde: Die Krater hießen Lomonossow, Ziolkowski oder Jules Verne, die so genannten Meere des Mondes nannte man Moskau, Fruchtbarkeit oder Wunschtraum.

Doch es waren nicht solche tatsächlichen Erfolge, die das Besondere der kosmischen Ära ausmachten, sondern es war die Faszination vom Himmel und von den Sternen, die in der sowjetischen Populärkultur zum Ausdruck kam. Man wollte den Schleier des Weltalls lüften, wie es immer wieder hieß. Dafür begab man sich auf die Spuren der Horoskope und der Astrologie, um den Sitz der Götter zu stürmen und den Engeln und anderen Himmelswesen friedliche Konkurrenz zu machen. Und so war es auch kein Zufall, dass ein so genialer Theoretiker, Mystiker, Kosmist, Erfinder, Raketenbauer und Phantast wie der russische Dichter und Physiker Konstantin Ziolkowski (1857-1935) zum Vater der Raumfahrt avancierte, dessen Worte am deutlichsten den Geist jener Jahre prägten und ausdrückten: »Die Erde ist die Wiege der Menschheit, doch man kann nicht ewig in der Wiege leben.«

Dieser bei jeder Gelegenheit zitierte Ausspruch war in seiner Metaphorik zentral für die Kosmosbegeisterung, verschob er doch die räumlichen Dimensionen erheblich: Selbst ein Mondflug schien in diesem Bild lediglich ein erster kleiner Schritt auf einem Weg zu sein, der nicht nur die Planeten des irdischen Sonnensystems, sondern auch weiter entfernt liegende Sterne in den Bereich des Erreichbaren brachte. War das Kind erst der Wiege entstiegen, schien der Zeitpunkt, bis es im Weltraum laufen lernte, nicht mehr weit zu sein. Das war der Wunschtraum, der die Fantasien beflügelte und den Juri Gagarin zu einem realisierbaren Versprechen machte.

Die Besiedlung der Zukunft

Eine dieser Fantasien richtete sich auf die Besiedelung des Kosmos, die schon vor Gagarins Raumflug ein ständiges Thema in der Publizistik war. Der Wissenschaftler Juri Chlebzewitsch stellte z.B. Ende 1958 einen Dreistufenplan vor, wie man schon in zehn Jahren den Mond zum siebten Kontinent der Erde machen könne. Der Wissenschaftsjournalist Wladimir Lwow verfasste drei Jahre später einen Plan zur Erschließung des Kosmos für die nächsten 150 Jahre. Dieser sah für die Jahre 1970 bis 1980 die menschliche Mondlandung und die ersten ständig besetzten Stationen auf dem Mond vor, 1990 bis 2000 die ersten Siedlungen und 2090 bis 2100 die vollständige Besiedlung und Verwandlung des Mondes in einen blühenden siebten Kontinent. Auch auf dem Mars sollte im Laufe des 21. Jahrhunderts die Atmosphäre rekonstruiert werden, so dass sich bis 2090 einige Hunderttausend Menschen auf ihm ansiedeln könnten. Denn davon, dass das so sein werde, könne man schon nicht mehr nur träumen, sondern sprechen, wie von einer Sache, die in naher Zukunft bevorsteht.

Dieser Verweis auf »eine Sache«, welche schon »in naher Zukunft« bevorstehe, war kein Zufall. Denn bis 1957 war es in der Sowjetunion weder in journalistischen noch in belletristischen Texten möglich, so weit in die Zukunft zu blicken. Selbst für die Science Fiction hatte in der Stalinzeit die »Theorie des nahen Ziels« gegolten, nach der man sich nur mit der im jeweiligen Fünfjahresplan vorgegebenen Wegstrecke und mit den von der Parteiführung vorgesehenen Großprojekten befassen durfte.

Zukunftsentwürfe für eine ferner liegende kommunistische Gesellschaft hatte es in der Sowjetunion zum letzten Mal 1931 mit Jan Larris Roman »Land der Glücklichen« gegeben. Ein Vierteljahrhundert später hingegen entdeckte die Science Fiction das Thema der fernen Zukunft wieder. Und diese konnte nach dem Verständnis des historischen Materialismus nur eine kommunistische sein. Dabei stellte die Jahrtausendwende 2000/2001 häufig eine magische Grenze dar, an der die Systemkonkurrenz überwunden werden und das sowjetische Gesellschaftsmodell sich weltweit durchsetzen würde. Auch die Etablierung einer kommunistischen Gesellschaft verortete man in diesem Zeitraum. Wie dieser Übergang zum weltweiten Kommunismus im Einzelnen vor sich ging, blieb allerdings in den SF-Geschichten merkwürdig unbestimmt. Die Fantastik stieß hier an die Grenzen wissenschaftlicher Voraussicht. Man erwähnte den Übergang zumeist nur vage in Rückblenden aus dem 3., 4. oder auch 5. Jahrtausend.

Demgegenüber entwickelte man nicht nur in der SF-Literatur, sondern auch in der populären Publizistik eine Vielzahl an Zukunftsversionen, die von einem staatenlosen, nur über Räte regulierten Gesellschaftsaufbau ausgingen, in dem sich alle nach ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten entwickeln konnten. Solche Entwürfe waren nicht zuletzt von der Frage bestimmt, wie sich das Zusammenleben mit anderen intelligenten Zivilisationen und Lebensformen gestalten ließ. So war auch die Besiedlung des Mars durchaus nicht unumstritten, da man nicht wusste, ob er bewohnt sei. Besonders die schon 1877 entdeckten so genannten Marskanäle gaben Anlass zu weitreichenden Spekulationen, sie könnten künstlichen Ursprungs sein. Denn diese unter bestimmten Umständen durch das Teleskop sichtbaren Formationen auf der Planetenoberfläche verliefen nicht nur geradlinig und waren außergewöhnlich lang, sondern sie bildeten auch geometrische Formen. Erst nachdem Mitte der sechziger Jahre amerikanische Raumsonden Fotos aus nächster Nähe geschossen hatten, stellten sich die Kanäle definitiv als optische Täuschungen heraus.

Noch 1960 aber vermutete der Begründer der sowjetischen Astrobiologie, Gawriil Tichow, dass sie Bestandteil eines gigantischen landwirtschaftlichen Systems seien. Der Moskauer Astronom Felix Sigel leitete von ihrer den ganzen Planeten umfassenden einheitlichen Struktur 1961 die Hypothese ab, dass es auf dem Mars demnach keine nationalen Grenzen gebe und die Marsianer eine freundschaftliche Familie bildeten, die keine Privatinteressen kenne. Andere vertraten die Ansicht, dass auf dem Mars zweifellos eine hohe Zivilisation bestanden habe, diese aber durch eine unvorhergesehene Katastrophe zerstört worden sei oder sich zurückgebildet habe.

Die Kybernetik der menschlichen Seele

Aus den Spekulationen über intelligente Wesen auf dem Mars oder sonstwo im Weltall ergab sich fast zwangsläufig die Frage, wie eine mögliche Kontaktaufnahme zu ihnen aussehen könnte. Dass sie friedlich sein würde, daran bestand kein Zweifel. Wären 1960 in der Sowjetunion »Gäste aus dem Kosmos«, so hieß eine populäre SF-Geschichte, gelandet, wahrscheinlich hätte sich niemand ernstlich gewundert, und man hätte sie begeistert empfangen. Damit grenzte sich die Sowjetunion von den amerikanischen Zukunftsvisionen jener Zeit ab, in denen wegen Hiroshima Dystopien und eine erhebliche Skepsis gegenüber wissenschaftlich-technischen Entwicklungen vorherrschten. Statt eines Kriegs der Welten oder einer von monströsen Robotern versklavten Zukunftswelt erwartete man eine gewaltlose Begegnung. Bewiesen doch die sowjetischen Erfolge im Kosmos eindrücklich, dass nur Zivilisationen auf einem sehr hohen, friedfertigen Entwicklungsstadium zu interplanetaren Reisen in der Lage waren.

Zur Frage des Aussehens der Außerirdischen gab es hingegen erhebliche Meinungsverschiedenheiten. In dem 1957 erschienenen SF-Roman »Andromedanebel« stellte sich das dort auftretende »Mädchen aus dem All« - wie der Titel der deutschen Übersetzung lautete - noch als reine Männerphantasie dar. Deren Autor, der Seefahrer und Geograf Iwan Jefremow, hatte mehrfach theoretisch dargelegt, warum der universale Organismus des Menschen das ideale Ergebnis jeglicher biologischen Evolution darstelle. Dieser anthropozentrischen Ansicht widersprachen insbesondere von der Kybernetik inspirierte Theorien.

Denn gerade die Kybernetik, die seit 1956 neben dem Kosmos das Hauptthema der populärwissenschaftlichen Literatur ausmachte, rief Zweifel am bisherigen Menschenbild hervor. Sie hatte, wie der Mathematiker Andrej Kolmogorow in einem Vortrag über Automaten und Leben 1960 erläuterte, die kopernikanische Wende der menschlichen Seele eingeleitet: »In der Geschichte der Menschheit existiert ein interessantes Paradoxon: Je entschiedener der Mensch sich von den Vorstellungen seiner 'Einmaligkeit', seiner Allmacht und 'Göttlichkeit' lossagt, desto stärker wird er. So war es nach Kopernikus, der die Jahrtausende alte Vorstellung von der Erde als Zentrum der Welt verwarf. So war es nach Darwin, der die Verwandtschaft des Menschen mit den Tieren bewies. So war es nach Pawlow, der mit der wissenschaftlichen Erforschung dessen begann, was man gewohnt war, 'unsterbliche Seele' zu nennen. Jedoch den wohl letzten und entschiedensten Schlag gegen die religiöse Vorstellung vom Menschen als Zentrum des Weltalls, von einem einzigartigen und einzigen Besitzer des Bewußtseins (oder der 'Seele') führt die Kybernetik.«

In der populärwissenschaftlichen Publizistik und in den SF-Geschichten dieser Jahre machten die kybernetische Systemtheorie und die kosmische Astrobiologie aus dem Menschen ein organisches intelligentes System, das erst am Anfang seiner Entwicklung stand und durchaus noch in vielem optimierbar war. Nicht nur andere kybernetische und organische, auch kristalline, aus Anti-Materie oder Silizium bestehende Wesen schienen denkbar. Und je weiter die Hypothesen reichten, desto mehr geriet das bisherige Modell des positiven sozialistischen Helden in die Kritik. Genauso, wie man auf globaler Ebene dabei war, die irdische Wiege zu verlassen, schien auch die Definition des menschlichen Körpers veränderbar zu sein. Elektronische Rechenmaschinen, Computermodelle, Robotergeschichten, »Kiber« als Zeichentrickfiguren, erstmals öffentlich positiv thematisierte Hypnosetechniken oder Drogenversuche verschoben die Grenzen des Möglichen. Sowjetische Psychiater mussten schon Mitte der sechziger Jahre feststellen, dass eine der häufigsten Wahnvorstellungen neben derjenigen, Kontakte zu Außerirdischen gehabt zu haben, diejenige der Telepathie gewesen sei. Überall schienen unsichtbare Kräfte und Strahlen Kontakte zu knüpfen. Seine Piepslaute hatten solch grenzenlose Kommunikationsmöglichkeiten der neuen Informationstechnologien erstmals erfahrbar gemacht, auch insofern bestimmte der Sputnik die Epoche.

Wunder mit wissenschaftlicher Begründung

Der Kosmos stellte demnach nicht nur das zentrale populäre Thema in der sowjetischen Öffentlichkeit dar, sondern er beeinflusste auch die Wahrnehmung der irdischen Umgebung. Die populärwissenschaftliche Publizistik war Ende der fünfziger Jahre voll von abenteuerlichen, geheimnisvollen und wunderbaren Geschichten über Signale, Überlieferungen und Legenden aus einer anderen Welt, von der man bisher nichts geahnt hatte.

Gleichzeitig mit den Meldungen über die ersten Sputniks erschien in der sowjetischen Presse etwa die Nachricht, der so genannte Tugunsker Meteorit sei gefunden worden. Bei ihm handelte es sich um einen rätselhaften Himmelskörper, der am 30. Juni 1908 als riesiger Feuerball im mittelsibirischen Tugunsker Gebiet aufgetaucht und kurz danach explodiert war. Die Explosion war so gewaltig, dass sie im Umkreis von 2 000 Metern den gesamten Waldbestand verwüstete. Carl Sagan schreibt über das Ereignis: »Eine Stoßwelle lief zweimal um die Erde, und noch zwei Tage später war die Atmosphäre dermaßen mit feinem Staub angereichert, dass man im 10 000 Kilometer entfernten London nachts in dem auf der Straße herrschenden diffusen Licht Zeitung lesen konnte.« Das Merkwürdige an diesem Spektakel war jedoch, dass man seither keinerlei Spuren eines Meteoriten und damit auch noch keine wissenschaftlich plausible Erklärung für den Grund der Explosion gefunden hatte. Diese Ungewissheit eröffnete angesichts des allgemeinen Aufbruchs in den Kosmos ungeahnte Möglichkeiten zu weitergehenden Spekulationen.

Eine der in Artikeln, Diskussionsforen, SF-Geschichten, Comics und Karikaturen am häufigsten variierten Hypothesen behauptete, dass es sich bei dem vermeintlichen Meteoriten eigentlich um ein außerirdisches Raumschiff handelte. Eine solche Möglichkeit war nach dem Krieg erstmals 1946 in einer SF-Geschichte (»Die Explosion«) aufgegriffen worden, die von einem intergalaktischen atomgetriebenen Raumschiff berichtete, dessen Reaktor bei der Landung in Tugunsk explodiert sei. Diese Hypothese wurde zwar in der Stalinzeit in einschlägigen Presseorganen auch erörtert, aber als ein mitreißendes Thema tauchte sie erst ein Jahrzehnt später im Zusammenhang der Sputnikflüge wieder auf. Ein gutes Dutzend wissenschaftlicher Exkursionen, unzählige Gruppen Junger Pioniere, Komsomolzen und Privattouristen brachen in das unwirtliche sibirische Bergland auf, um sich auf die Suche nach dem Tugunsker Wunder zu begeben. »Der Weg in den Kosmos« - so der Titel von Juri Gagarins Autobiographie - war zuerst ein Aufbruch in die merkwürdige, exotische, erregende, wundervoll ferne Wildnis.

Auch die SF- und Abenteuer-Literatur dieser Jahre erzählte von Ausflügen in die abgelegensten Gebiete der Sowjetunion. Nicht um sich hier - wie noch in den dreißiger und vierziger Jahren - mit Hilfe neuester Technik gegen die Gefahren der Natur zu bewähren, sondern um der Natur ihre noch nicht geborgenen Geheimnisse zu entlocken. Wo früher Dämonen, Hexen und Waldgeister gelauert hatten, fand man jetzt schwer zu enträtselnde Signale aus dem Kosmos und kaum kenntliche Spuren intergalaktischer Kontakte. Folkloristik, Ethnographie und Religionswissenschaften begannen, in alten Legenden, Mythen und Fresken nach Zeugnissen kosmischer Besucher auf der Erde zu stöbern. Biblische Wunder, die Form der Pyramiden oder der Bau der Maya-Tempel ließen sich erklären, wenn man bedachte, dass hier vielleicht Außerirdische mitgewirkt haben könnten.

1960 lösten entsprechende Hypothesen von den so genannten Kosmonauten des Altertums eine ganze Flut populärwissenschaftlicher Artikel aus, und manche Redaktionen setzten spezielle Kommissionen für Kontakte mit Außerirdischen ein. Es ging nicht mehr darum, Geschichten von Göttern und Wundern materialistisch zu widerlegen, sondern darum, wissenschaftliche Begründungen für das zu finden, was bislang für unmöglich und undenkbar galt. Ein sowjetischer Physiker fasste 1965 diese Tendenz mit den Worten zusammen: »Nicht selten glaubt der Mensch ehrlich an die Möglichkeit einer Einmischung des göttlichen Willens in unsere Welt. Gebildetere Leute glauben an Wunder mit wissenschaftlicher Begründung.«

Der Weg in den Kommunismus: 9.07 Uhr

All diese Theorien, Hypothesen, SF-Geschichten, Wunschbilder und Wahnvorstellungen von fremden Welten und einer anderen kommunistischen Zukunft sind zu berücksichtigen, wenn man verstehen will, welche Faszination seinerzeit von Juri Gagarins Flug ausging. Der erste Mensch im Kosmos: Das schien der unwiderrufliche Beginn einer neuen Ära zu sein, der kosmischen Ära der Menschheit, wie es damals hieß. Die Welt erstarrte - so wurde berichtet -, als am Morgen des 12. April 1961 um 10 Uhr alle Radiosender des Landes ihr Programm unterbrachen und Radio Moskau um Aufmerksamkeit bat. Juri Lewitan, Stalins Lieblingsradiosprecher und die »Stimme der Heimat« im Zweiten Weltkrieg - die eine solche suggestive Kraft besaß, dass Hitler geäußert haben soll, Lewitan werde der erste sein, den er erhängen lasse, wenn Moskau eingenommen worden sei -, verlas die Tass-Meldung, dass sich seit 9.07 Uhr Moskauer Zeit der erste Mensch im Weltraum befinde.

Was dann geschah, ist in den Berichten zum 40. Jahrestag vielfach und ausführlich beschrieben worden: Gagarin landete um 10.55 Uhr wieder auf der Erde. Zwei Tage später wurde ihm dann ein so triumphaler Empfang in der Hauptstadt bereitet, wie ihn wohl noch kein sowjetischer Held zuvor erlebt hatte. Hunderttausende säumten jubelnd Gagarins Weg vom Flughafen zum Kreml: »Moskau ging auf die Straßen und Plätze. Es schien, als habe es noch nie eine solche heiße, alles übertönende, ehrliche Freude gegeben.« Chruschtschow sagte in der Rede zu Ehren des ersten Flieger-Kosmonauten der UdSSR auf dem Roten Platz: »Der Wunschtraum der Erstürmung des Kosmos ist wirklich der allergrößte aller größten Wunschträume des Menschen. Wir sind stolz, dass diesen Wunschtraum, dieses Märchen sowjetische Menschen haben Wirklichkeit werden lassen.«

Gagarin wurde in den folgenden Monaten zusammen mit dem Fliegerkosmonauten Nr. 2, German Titow, zu einem Helden von mythischen Dimensionen stilisiert. Die kosmischen »Zwillingsbrüder« oder »Himmelssöhne«, wie man sie bezeichnete, blieben zwar zum einen noch »einfache und bescheidene Söhne des sowjetischen Volkes«, wurden aber gleichzeitig zu menschlichen Göttern erhoben, die wundertätig auf der ganzen Erde wirken konnten. Sie repräsentierten ein glückliches, unbeschwertes Leben, das die kommunistische Zukunft mit sich bringe. Der sich abzeichnende Sieg der Sowjetunion im friedlichen Systemwettbewerb fand in Gagarins Lächeln gewissermaßen seinen kongenialen Ausdruck.

Die Realität des Kalten Krieges, die mit dem Berliner Mauerbau ein paar Tage nach Titows Flug oder in der aktuellen Kuba-Krise zu eskalieren drohte, tat dieser Wahrnehmung keinen Abbruch. Im Gegenteil: »Es scheint, als ob die Menschen - fast die ganze drei Milliarden zählende Bevölkerung der Erde - niemals so einmütig in ihren Gefühlen gewesen sind wie in den Tagen des 17. April und des 6. August 1961 (Titows Flug).« Entsprechend wurde in den Jahren 1961 und 1962 auch über Gagarin und Titow berichtet. Sie waren nicht nur im Kosmos gewesen, sondern sie konnten für die Sowjetunion überallhin auf Erden reisen und brachten bis in den »letzten Winkel« der Welt den Menschen »die in allen Sprachen bekannten russischen Wörter« Mir (Friede) und Drushba (Freundschaft).

Das größte Wunder aber, das die beiden Kosmonauten vollbrachten, bzw. möglich machen sollten, erschien zwischen Gagarins und Titows Flug: Es war der Entwurf des neuen Parteiprogramms der KPdSU, zu dem es hieß: »Die Partei verkündet feierlich: Die heutige Generation sowjetischer Menschen wird im Kommunismus leben.« Das Programm sollte die Grundlage dafür liefern, den Aufbau des Kommunismus zu beginnen, den man in 20 Jahren vollenden wollte. Um dieses Versprechen erfüllen zu können, sollten die »glänzenden Erfolge« im Kosmos »die sowjetischen Menschen beim kommunistischen Aufbau« bestärken. Diese Verbindung der gegenwärtigen Erstürmung des Weltraums mit dem absehbaren Erreichen einer kommunistischen Zukunft wurde bis zum Oktober desselben Jahres immer enger, sodass der 22. Parteitag der KPdSU und die Verabschiedung des neuen Parteiprogramms ganz unter dem Eindruck der Kosmos-Euphorie stattfinden konnten.

Überall suggerierte die Propaganda, dass der Weg in den Kosmos helfe, das Ziel des Kommunismus in 20 Jahren zu erreichen, genauso wie umgekehrt allein der entwickelte Sozialismus die triumphalen Erfolge im Weltraum möglich gemacht habe. Chruschtschow brachte diesen Zusammenhang zum 45. Jahrestag der Oktoberrevolution auf den Punkt: Sozialismus und Kommunismus, »das ist das hoffnungsvolle Kosmodrom, von denen aus die Menschheit die Weiten des Weltalls stürmt und stürmen wird«. Gagarin und Titow verkörperten diese Verknüpfung von Kosmos und Kommunismus. Sie verkörperten die Hoffnung, dass die oben beschriebenen Wunschträume von einer veränderten, glücklichen, erregenden Zukunft Wirklichkeit werden könnten.

Das Ende der Illusionen

Mit dem Kommunismus in 20 Jahren wurde es bekanntlich nichts. Schon 1962, als man den Zwanzigjahresplan zum Aufbau des Kommunismus verabschiedete, waren die Misserfolge von Chruschtschows Politik insbesondere in der Landwirtschaft offensichtlich. Der Widerstand gegen ihn wuchs, und die Erfolge im Weltraum wurden immer weniger spektakulär. Die sowjetischen Menschen flogen zwar weiter in den Kosmos, 1962 im ersten Parallelflug zu zweit, 1963 flog die erste Frau, 1964 folgte der erste Gruppenflug zu dritt, 1965 der erste Ausstieg ins All. Doch je häufiger man Weltraumflüge unternahm, desto deutlicher wurde, dass man eigentlich nur um den eigenen Globus kreiste. Und dieser sah vom Himmel aus einfach nur blau aus. Im Weltraum hingegen fand man von intelligentem Leben keine Spur, noch nicht einmal biologisches Leben war zu finden. Von einer Erstürmung des Kosmos konnte keine Rede mehr sein.

Auch im Innern des Landes wurde die Politik 1962/1963 wieder restriktiver. Die kulturpolitischen Freiheiten in den populärwissenschaftlichen Diskussionen etwa zur Kybernetik, Astrobiologie oder Parapsychologie wurden zurückgenommen. Kosmische Reisen, intelligente Maschinen oder andere technische Neuererungen hatten wieder zuerst der sowjetischen Gesellschaft und dem kommunistischen Aufbau zu dienen. Die Wunschträume und Hoffnungen, die sich mit Gagarins Person, dem Kosmos und dessen Einfluss auf das irdische Leben verbunden hatten, wurden ins Reich der Fantastik verbannt: in die sowjetische Science Fiction, die sich in dieser Zeit zu einem der populärsten Genres der Belletristik entwickelte.

Am Ende des Tauwetters gingen Wunsch und Wirklichkeit, Fantasie und Realität, die 1957 bis 1962 so eng verknüpft gewesen waren, wieder getrennte Wege. Der Mensch im Weltraum hatte keine kopernikanische Wende eingeleitet, sondern wurde instrumentalisiert zur Stabilisierung des hiesigen sowjetischen Kosmos. So war es nicht ohne Ironie, dass Chruschtschow 1964 genau in dem Moment abgesetzt wurde, als drei Kosmonauten das neue Raumschiff Woschod testeten. Als sie zurückkamen, empfing sie schon Leonid Breschnew auf dem Lenin-Mausoleum zum 47. Jahrestag der Oktoberrevolution, wo die Kosmonauten seit 1961 einen Stammplatz hatten. Was vom Kosmodrom des Kommunismus blieb, war der Mythos, den Gagarin verkörperte und den dessen Tod bei einem Flugzeugabsturz am 27. März 1968 noch verfestigte. Er wurde als letzter sowjetischer Held aus dem Volk in der Kremlmauer hinterm Mausoleum bestattet. Den friedlichen Wettbewerb der Systeme hatte man schon lange vor der amerikanischen Mondlandung verloren.

Der Neustart: 1986, 2001

Aus diesem Grund spielte 1968, ein Vierteljahrhundert nach Gagarins Weltraumflug, die Montage der ersten Bauteile der Mir im erdnahen Weltraum kaum eine Rolle für die Propaganda der Perestrojka. Die Mir stellte zudem lediglich ein gegenüber dem Vorgängermodell Saljut verbessertes und wesentlich vergrößertes Laboratorium im Kosmos dar. Dort betrieb man wie in jedem anderen Labor auch Grundlagenforschung, deren Alltag selbst dadurch nicht wesentlich spannender wurde, dass sie im »kosmischen Wohnzimmer« unter besonderen Gravitationsverhältnissen stattfand.

Dennoch versuchte die neue sowjetische Führung unter Michail Gorbatschow, durch Reminiszenzen an das Kosmodrom des Kommunismus ihrer aktuellen Politik Attraktivität zu verleihen. Das wurde schon im Namen der Raumstation deutlich: »Mir« bedeutete im Russischen sowohl »Frieden« als auch die ganze »Welt«. So sollte die Raumstation ein Beispiel für die friedliche internationale Kooperation werden, die man als Alternative zum kriegerischen SDI-Programm der Reagan-Regierung ausgab. Michail Gorbatschow stellte im Januar 1986 fest: »Unserer tiefen Überzeugung nach soll man nicht mit einem 'Krieg der Sterne' ins dritte Jahrtausend gehen, sondern mit groß angelegten Projekten zur Aneignung des Kosmos, an denen sich die ganze Menschheit mit allen ihren Kräften beteiligt. Wir schlagen vor, dass wir uns mit der praktischen Ausarbeitung und Umsetzung solcher Projekte befassen.«

Diese Sätze blieben jedoch Phrasen. Gorbatschow hatte schon bald nach seinem Amtsantritt die Hoffnungen auf eine Perestrojka zunichte gemacht, welche das tägliche Wohl und Glück der Menschen befördern könnte, als er sich durch eine Anti-Alkoholismus-Kampagne den Ruf des »Mineralsekretärs« einhandelte. Statt einer »Beschleunigung« des Fortschritts, wie sie der 27. Parteitag der KPdSU 1986 propagierte, war die Folge der Kampagne ein jahrelanger Mangel an Zucker, da man ihn zum Selbstbrennen von Wodka brauchte. Die Mir extrapolierte die verlorenen Hoffnungen in den Weltraum, wo ein paar Jahre später, als es die Sowjetunion schon nicht mehr gab, sich die Besatzung noch weigerte, die Rote Fahne einzuziehen.

Gleichzeitig aber kehrten mit Glasnost die kosmischen Hoffnungen in Form von Horoskopen, Astrologen und via TV zurück in die Wohnzimmer. Immer häufiger wurden Reportagen, Interviews, Talkshows und aktuelle Meldungen gesendet, die nur von einem Thema handelten: dem des Außerirdischen. Es waren Berichte über intelligente Wesen, die die Erde besucht hatten, deren Ufos gesichtet und gefilmt worden waren, mit denen man telepathische Gespräche führte und deren Welten und Planeten in Hypnose besucht werden konnten. Die Botschaft dieser Berichte aber bestand vor allem in einem: dass der Kontakt mit Außerirdischen das eigene Leben entscheidend beeinflusst habe, viele persönliche und Alltagsprobleme jetzt in einem ganz anderen Licht erschienen und es einem viel besser gehe als zuvor. Das Kosmodrom des Kommunismus hatte sich in eine Traumfabrik des Kapitalismus verwandelt.

Alle Zitate sind aus den sowjetischen populärwissenschaftlichen Zeitschriften Technik für die Jugend, Um die Welt, Wissen ist Macht sowie Wissenschaft und Leben.

Matthias Schwartz ist Redakteur der in Berlin erscheinenden russischsprachigen Zeitschrift Zerkalo Zagadok.