Erinnerung an Ernst Nehlhans

Ein Zionist als Landesverräter

Erich Nehlhans engagierte sich nach 1945 für den Aufbau der Jüdischen Gemeinde in Berlin und die Auswanderung nach Palästina, bis der russische Geheimdienst ihn festnahm und verschleppte.

Es ist bloß ein unscheinbares, fast leeres Ladenlokal. Direkt daneben eine Toreinfahrt mit der Hausnummer 35, ganz in der Nähe der Post an der vielbefahrenen Prenzlauer Allee. Der Laden ist fast leer, aber eben nur fast. Die vorbeischlendernden Passanten können sich hier einige Fotos im Schaufenster ansehen. An der Häuserwand hängt außerdem eine Gedenktafel.

Denn hier, in dem um die Jahrhundertwende gebauten, gut erhaltenen vierstöckigen Mietshaus, lebte einst der erste Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin nach 1945. Nach dem Sieg der Roten Armee vor 56 Jahren war er von der russischen Stadtkommandantur hier einquartiert worden. Erich Nehlhans, aufgewachsen in einer jüdisch-orthodoxen Familie, hatte sich der Verfolgung der Nazis entzogen, indem er in die Illegalität ging.

Nehlhans gehörte nach der Befreiung mit den Überlebenden Hans Münzer, Leo Hirsch, Leo Löwenstein, Fritz Katten und Hans Erich Fabian zu den Gründern der neuen Jüdischen Gemeinde, die ihren Sitz in der Oranienburger Straße im sowjetischen Sektor fand.

Nehlhans wurde zum ersten Vorsitzenden gewählt, bis März 1948 blieb er im Amt. Dann verschwand er, verhaftet vom russischen Geheimdienst NKWD. Was mit ihm geschah, weiß bis heute niemand mit Sicherheit. Bis vor kurzem gab es im Stadtteil Prenzlauer Berg nicht einmal einen Hinweis auf Nehlhans. Mit seiner Biographie und seinem Schicksal tue sich die Stadt bis heute schwer, sagte der Bezirksbürgermeister Alex Lubawinski in einer Rede, als er am 1. März die Gedenktafel am Eingang des Mietshauses der Öffentlichkeit vorstellte. In dem fast leeren Ladengeschäft dokumentiert seitdem die Historikerin Annette Leo im Auftrag des Bezirksamtes die Lebensgeschichte des 1899 geborenen Nehlhans.

Besonders um sein Wirken nach dem Krieg geht es. Zunächst genoss er offenbar das volle Vertrauen der sowjetischen Kommandantur. Eine Fünfzimmerwohnung an der Prenzlauer Allee 35 hatte man ihm zugewiesen und dazu noch die treuhänderische Verwaltung des Hauses übertragen. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde sah seine Zukunft jedoch woanders. Als Mitglied der zionistischen Vereinigung Misrachi wollte Nehlhans den Aufbau eines Zufluchtsstaates für Juden unterstützen. Er selbst hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits für die Ausreise der überlebenden Juden aus Deutschland stark gemacht. In der Gemeindezeitung Der Weg schrieb Nehlhans am 1. März 1946: »Unsere Gemeinde soll eine kleine Heimat für jüdische Menschen sein, bis unsere große Heimat Palästina die Tore öffnet.«

Deswegen hatte er auch zahlreiche Kontakte zu den Westalliierten in Berlin. Überlebende Juden aus Osteuropa, die sich im sowjetisch verwalteten Teil Berlins einfanden, wurden von Nehlhans mit Papieren versorgt und dann in so genannte Displaced Persons Camps überstellt. Offensichtlich kümmerte er sich auch um desertierte Soldaten und Offiziere der Roten Armee und brachte sie in von den Vereinten Nationen unterhaltenen Camps im Westen unter. So berichtet es zumindest Bruno Klose, der den ersten Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde kannte.

Kloses Mutter hatte Nehlhans versorgt, der sich während der Judenverfolgungen in einer Kartonfabrik am Alexanderplatz verborgen hielt. Oft saß er im Wohnzimmer der Kloses und las ein hebräisches Buch. Die Mutter erklärte ihrem Sohn, der Mitglied der Hitler-Jugend war, es handele sich um Latein. Nach dem Sieg der Alliierten nahm Nehlhans die Familie Klose mit in seine Wohnung am Prenzlauer Berg. Frieda Klose führte den Haushalt, und ihr aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrter Mann half bei der Instandsetzung der Synagoge in der nahe gelegenen Rykestraße. Hierhin gingen nach Kloses Angaben US-amerikanische, französische, aber auch sowjetische Soldaten jüdischen Glaubens zum Gottesdienst.

Die Familie Klose erlebte, wie sich Nehlhans wegen seiner zionistischen Überzeugung in Gefahr begab. Die Sowjets erfuhren offensichtlich sehr bald von den Tätigkeiten des Gemeindevorsitzenden und beauftragten Brunos Vater, Nehlhans zu bespitzeln und Berichte über seine West-Kontakte anzufertigen. Er habe Nehlhans jedoch die Berichte vorgelegt, oder sie sich gar von ihm diktieren lassen.

Eine zweite Zeitzeugin berichtet, wie sich Nehlhans für sie einsetzte. Gisela Jacobius wurde nach Kriegsende wegen ihres schwedischen Behelfsausweises gemeinsam mit ihren Eltern nach Moskau gebracht. Als Deutsche identifiziert, wurden sie in ein Zwangslager deportiert. Erst als sie insisierte, dass sie und ihre Eltern in Deutschland als Juden verfolgt worden waren, kam sie auf Umwegen wieder nach Berlin. Hier wurde ihr und den Eltern dank einer Bescheinigung, die Nehlhans als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde ausstellte, als anerkannte Opfer des Faschismus eine Wohnung zugeteilt.

Schon bald aber konnte Nehlhans niemandem mehr helfen. Vermutlich am 7. März 1948 verhafteten ihn Agenten des NKWD in seiner Wohnung. Sie brachten ihn in das russische Gefängnis in der Magdalenenstraße. Bruno Klose informierte telefonisch US-amerikanische und britische Militärs. Die einzige wahrnehmbare Reaktion der Westalliierten blieb ein lakonisches »Okay« am anderen Ende der Leitung.

Der so genannte Kalte Krieg hatte längst begonnen. Bereits zwei Jahre vorher hatte der britische Premierminister Wiston Churchill vom »Eisernen Vorhang« gesprochen. Josef Stalin sah im Marshallplan und in der angestrebten Vereinigung der westlichen Verwaltungszonen gegen die Sowjetunion gerichtete Aktionen. Wegen dieser Spannungen verließen die Sowjets am 20. März 1948 den Alliierten Kontrollrat.

So setzte sich niemand für Nehlhans ein, der zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr Gemeindevorsitzender war. Kurz vor seinem Verschwinden hatte er Bruno Klose mitgeteilt, er wolle sich lieber um eigene Angelegenheiten kümmern und stellte der Familie einen Umzug in ein Haus im Westen der Stadt in Aussicht. Doch dazu kam es nicht mehr. Aus Dokumenten des sowjetischen Geheimdienstes geht hervor, dass Nehlhans wegen »feindlicher Gesinnung gegen die Sowjetunion« zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt wurde. Seine Spuren verlieren sich nach einem Aufenthalt im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen am 14. Oktober 1948 im Gefängnis von Brest-Litowsk. Eine Anfrage von Brunos Vater an den sowjetischen Geheimdienst blieb ohne Antwort.

Ehemalige Mitgefangene vermuteten, dass der erste Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin 1953 in einem sowjetischen Arbeitslager starb. In der Urteilsschrift heißt es über Nehlhans' Verbrechen, er habe im Auftrag der Amerikaner moralisch und ideologisch anfällige Sowjetbürger zum Landesverrat angestiftet und auf eigene Initiative eine Jüdische Gemeinde in Berlin gegründet.