Armutsbericht der Bundesregierung

Ärmer leben

Rot-Grün betrachtet Armut nicht länger als Verteilungsproblem, sondern als arbeitsmarkt- und bildungspolitische Frage.

Arme sterben früher. Arme Kinder und Jugendliche haben mehr Unfälle und schlechtere Zähne. Armut wird insgesamt jünger, und es herrscht verdeckte Armut. Wohlstand und Armut sind ungleich verteilt. Das sind Sätze, die nicht auf dem Flugblatt irgendeiner Initiative gegen Sozialabbau stehen, sondern auf den Internetseiten des Bundesministeriums für Gesundheit.

Seit Jahren schon forderten Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Selbsthilfeinitiativen einen nationalen Armuts- und Reichtumsbericht, doch erst Ende April legte die Bundesregierung einen solchen vor. Dabei hatte sich die CDU/FDP-Regierung schon beim Weltsozialgipfel 1995 in Kopenhagen dazu verpflichtet, ohne ihr Versprechen je einzulösen. Umso entschlossener zeigten sich die Bundestagsfraktionen der Grünen und der SPD 1998 beim Abschluss des Koalitionsvertrags. Im Mai 1999 brachten sie einen entsprechenden Antrag in den Bundestag ein.

Während Redner der CDU in der damaligen Plenardebatte das Vorhaben als unnötiges »Zahlengrab« kritisierten, hob Ulrike Mascher, parlamentarische Staatssekretärin im Bundesarbeitsministerium, die notwendige »Aufgabe eines Controlling« hervor. Mit der regierungsamtlichen Forschung solle die Wirkungsweise und Effizienz armutsbekämpfender Instrumente dokumentiert werden.

Arbeitsminister Walter Riester erntete für das Ende letzten Monats dann endlich vorgelegte Werk »Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung« überwiegend wohlwollende Reaktionen. Der Präses der Evangelischen Kirche Deutschlands, Manfred Kock, bezeichnete es als »gute Grundlage für die weitere Debatte um notwendige Handlungsschritte«.

Auch die PDS ließ es an Lob und Anregungen nicht fehlen. Eine Grundsicherung müsse her, forderte die sozialpolitische Sprecherin der PDS-Bundestagsfraktion, Pia Maier. Und ihre auf Finanzen spezialisierte Kollegin Barbara Höll mahnte, dass es bei schönen Worten nicht bleiben dürfe.

»Rot-Grün hat die Armut nicht im Griff«, kritisierte auf der anderen Seite die CDU, die während ihrer eigenen Regierungszeit keine Armut erkennen wollte. »Unser Sozialsystem ist uneffektiv und dringend reformbedürftig«, meinte auch Heinrich Kolb, der sozialhilfepolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. Schließlich laute die zentrale liberale Maxime, »die Schwachen - und auch die Steuerzahler - vor den Faulen zu schützen«. Das könnte eine Interpretation der Aufforderung von Ursula Engelen-Kefer sein, denn die stellvertretende DGB-Vorsitzende erklärte: »Bei der Diskussion um soziale Gerechtigkeit darf es keine Tabus geben.«

Die Bundesregierung hat all das längst beherzigt. Gerhard Schröder schimpft über Faulenzer, die Benchmarking-Arbeitsgruppe des Bündnisses für Arbeit diskutiert über effizientere Arbeitsanreize, und Riester brach ein früheres sozialdemokratisch-gewerkschaftliches Tabu, als er mit der Einführung der kapitalgedeckten Altersvorsorge die paritätische Rentenfinanzierung von ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen aushebelte. Es fehlte also nur noch das Bekenntnis zur Armutsbekämpfung.

Verdrängung warfen außerparlamentarische Gruppen und die parlamentarische Opposition den Regierungen Kohl vor, wenn es um das Thema Armut ging. Auf mehrere große Anfragen erhielten SPD und Grüne stets dieselbe Antwort: Wegen der Sozialhilfe existiere nur »bekämpfte Armut«. So gesehen, ist der mehr als 650 Seiten umfassende Bericht tatsächlich ein Fortschritt.

Doch nicht die von der damaligen Opposition beklagte Verdrängung des Themas war prägend für die gesellschaftlichen Bilder von Armut, es waren unbeständige Begrifflichkeiten. Die Forderung nach »Wohlstand für alle« in den fünfziger Jahren wandelte sich in den Sechzigern zur Vorstellung der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«. In den Siebzigern stand der allmählich in die Krise geratene Sozialstaat im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, in den achtziger Jahren die »Zweidrittelgesellschaft«, ehe mit dem Beitritt der DDR zur BRD vermehrt von der »Transformationsgesellschaft« die Rede war.

Das rot-grüne Gesellschaftsbild kreist nun um die »aktive Bürgergesellschaft« samt »aktivierendem Staat«. In den Empfehlungen zur Armutsbekämpfung fehlen jedoch politische Programme oder Vorschläge, die direkt aus den Ergebnissen des Berichts abgeleitet wären.

So liest sich der Berichtsteil mit den Handlungsempfehlungen wie eine Selbstbestätigung der bisherigen rot-grünen Regierungspolitik. Wer in den letzten zwei Jahren einigermaßen aufmerksam die rot-grüne Gesetzgebung und Programmatik verfolgt hat, wird keinen wirklich neuen Vorschlag entdecken, sondern eine übersichtliche Zusammenfassung ihrer arbeitsmarkt-, geschlechter- und bildungspolitischen Konzepte.

Neu ist allerdings, dass Armut als dynamische Lebenslage betrachtet wird. Der Begriff der Lebenslage steht im Zentrum der neueren Armutsforschung, die Armut nicht mehr nur im Querschnitt, sondern auch im Längsschnitt, also innerhalb von Biografien untersucht. Das Lebenslagenkonzept ist ambivalent. Einerseits berücksichtigt es die Entwicklung zu diskontinuierlichen Lebensläufen, andererseits ist es ideologisch anschließbar an die angestrebte staatliche Regulierung dieser Diskontinuitäten im Zeichen des »aktivierenden Staats«. Der gravierendste Unterschied zur früheren sozialstaatlichen Bekämpfung von Armut besteht darin, dass diese nun nicht primär als Verteilungsproblem, sondern als arbeitsmarkt- und bildungspolitische Frage behandelt wird.

Wohl auch deshalb bezeichnete der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement Bildung und Ausbildung auf dem Bundeskongress der Arbeitsgemeinschaft für Bildung in der SPD (AfB) im März letzten Jahres als »die Antwort auf die soziale Frage des 21. Jahrhunderts«.

Rot-Grün hat verstanden: Lieber selbst darüber reden und zugleich die Regeln festlegen, was wie thematisiert wird, als Abwehrkämpfe gegen unliebsame Daten und Erkenntnisse zu führen, die ohnehin auf den Tisch kommen.