Ricardo Dominguez über Online-Demonstrationen

»Wir haben niemals Daten entführt«

In diesen Tagen soll die Aktionärsversammlung der Lufthansa live im Internet übertragen werden. Wenn nichts dazwischenkommt. Denn eine Online-Demonstration gegen das Abschiebegeschäft der Fluglinie könnte für leere Bildschirme bei www.lufthansa.com sorgen. Unterstützt wird die von Antira-AktivistInnen ausgeheckte Internet-Aktion von Ricardo Dominguez, einem Mitglied des New Yorker Electronic Disturbance Theater. Der Netzkünstler organisierte 1998 bereits eine Reihe virtueller Sit-Ins auf mexikanischen Regierungsservern zur Unterstützung der Zapatisten. 1999 sperrte die Internet-Kontrollbehörde seine Website, um eine Kampagne gegen das Online-Warenhaus Etoys.com zu beenden. Doch ohne Erfolg.

Gemeinsam mit dem Critical Art Ensemble haben Sie 1996 das Buch »Electronic Civil Disobedience« veröffentlicht, in dem die Grundlagen des Netz-Aktivismus skizziert werden. Wie kam es dazu?

Der Text reflektierte unsere Erfahrungen in den achtziger Jahren. Ich war damals Mitglied von Act up, der Aids-Coalition To Unleash Power. Wir setzten alle bekannten Inszenierungen des Straßenprotests ein, bis wir feststellten, dass das Medienecho trotz der präzisen Aktionen geringer wurde. Das führte zu der Frage, ob die Macht nicht länger an den Raum der Straße gebunden sei, sondern sich in eine neue, immaterielle Sphäre bewegt hatte. Wenn dem aber so wäre und das Kapital jenseits der Straßen zirkulierte, würde es wenig nützen, die Straße zu erobern. Vielmehr wäre es notwendig, Interventionsformen im Raum der Datenströme zu erfinden. Und das, so dachten wir, würden die linken Aktivisten mit ihrer Feindschaft gegen die neuen Technologien niemals tun. Hacker wiederum interessierten sich nur für Fragen des Codes - ein Dilemma. Es war die Netzkunst-Szene, die uns den Raum bot, diese Barrieren aufzulösen. Dort gab es Interesse an den Schnittstellen von Technologie, Neuer Kunst und Politik.

Am Massachusetts Institute of Technology haben Sie 1995 elektronische Projekte unter dem Titel »Digital Zapatismo« gemacht. Welche Rolle spielte der Aufstand in Chiapas für diese Arbeit?

Der Zapatismus schuf die Bühne, auf der sich reale Körper und Datenkörper begegnen konnten. Die Zapatisten hatten verstanden, dass die elektronische Fabrik den traditionellen Praktiken der Guerilla überlegen war. Sie legten die Waffen nieder und verwandelten sich in eine netzwerkförmige Info-Guerilla. Eine der ersten E-Mails, die ich bekam, war die »Erklärung aus dem Lakandonischen Regenwald«, die sich durch die Netze fortpflanzte. Das Zapatista Port Scan Project griff den Impuls auf und stellte Netzwerke im Cyberspace her.

1997 hat das Electronic Disturbance Theater ein Angriffswerkzeug namens Zapatista Floodnet System programmiert. Warum?

Der Auslöser für die Aktion war das Massaker von Actéal am 22. Dezember 1997, bei dem 45 Frauen und Kinder getötet wurden. Wir riefen zum elektronischen Ungehorsam mit allen Mitteln auf. Eine italienische Gruppe schlug vor, mithilfe der Reload-Funktion des Browsers simultan den Webserver des mexikanischen Präsidenten Zedillo mit Anfragen zu belasten. Wir nahmen dieses Konzept auf und automatisierten es. Die simultanen Server-Anfragen sollten für eine Störung sorgen, die das Gewicht protestierender Menschenkörper symbolisch übersetzen konnte.

Die Sprache von Actéal war Blut und Eisen. Warum wurde dann eine Widerstandsform gewählt, die sich im Feld des Symbolischen bewegte? Man hätte doch enfach den Server außer Betrieb setzen können.

Man kann in ein System eindringen, Daten zerstören oder eine Botschaft auf einer Webseite hinterlassen - das ist die physische Ebene. Aber das Erfolgskriterium einer Online-Aktion ist nicht die digitale Qualität, sondern die Verbreitung einer Botschaft. Wir nennen unsere Methode deshalb reverse engineering. Man zwingt einen Code, Dinge zu tun, für die er nicht programmiert wurde. Das Zapatista Floodnet System reprogrammierte die Reload-Funktion, die in jedem Browser den Zweck hat, von einem Webserver einmalig neue Information abzufragen. Wir schufen auf diese Weise eine permanente Frage, die den Server belastete und den Informationsfluss störte. Zusätzlich programmierten wir die Error-404-Funktion neu, die normalerweise mitteilt, dass eine gesuchte Internetseite nicht vorhanden ist. Indem wir automatisierte Server-Anfragen nach einer imaginären Datei namens justice.html stellten, zwangen wir die 404-Funktion zu einem politischen Statement: »justice.html is not found on the Mexican Government Server.«

Beim Konflikt zwischen der Künstlergruppe etoy und dem Online-Spielwarenversand Etoys war der politische Gegner eine elektronische Existenz, ein Domain-Name also. Etoys ist mittlerweile bankrott. Taugt eProtest nur gegen eCommerce?

Bei dem so genannten toywar blitzte kurz auf, was elektronischer Aktivismus sein könnte in einer Zukunft, die zunehmend von virtuellen Organisationen und Kapitalflüssen geprägt sein wird. Online-Aktionen sollten heute aber in Verbindung mit realen Bewegungen stehen. Als die Electrohippies die Anti-WTO Aktion machten, waren 10 000 Menschen in Seattle auf der Straße und 500 000 Menschen online, die ein symbolisches Gewicht zu den Massendemonstrationen in Seattle hinzufügten. Bei der Lufthansa-Aktion sind es klassische Straßenaktivisten, die sich bestimmte Codes angeeignet haben, um neue Taktiken einsetzen zu können.

Sie propagieren die gegenseitige Inspiration von Hackern und politischen Aktivisten. Was für Erfahrungen habt ihr mit Hackern gemacht?

Die Hacker-Gruppe Heart drohte auf dem ars-electronica-Festival 1999, die Performance unserer virtuellen Sit-Ins anzugreifen. Sie störten sich daran, dass unsere Aktionen Bandbreite verbrauchen. Bandbreite ist für traditionelle Hacker das erste Menschenrecht. Eine weiteres Problem, das wir mit Hackern diskutieren müssen, ist ihre Vorliebe für technische Effizienz. Man kann natürlich mit einem einzelnen Rechner eine elektronische Atombombe abschießen. Wir wollen aber symbolische Effizienz. Es gibt da positive Entwicklungen. Der Hacker-Club 2 600 beginnt, sich für Politik jenseits von Codes zu interessieren. Im letzten Jahr beteiligten sie sich sogar erstmals an einer Straßendemonstration gegen den Kongress der Republikaner in Philadelphia.

Im Herbst soll Ihr neues Buch mit dem Titel »Hacktivism« erscheinen. Wie sieht die Zwischenbilanz seit dem Erscheinen von »Electronic Civil Disobedience« vor fünf Jahren aus?

Seitdem wir 1999 mit dem Softwarepaket »Disturbance Developer Kit« virtuelle Sit-Ins allgemein zugänglich gemacht haben, ist der Fluss der Codes dynamisch. Jede Gruppe hat die Tools, ihren Bedingungen und Ansichten folgend, verändert. Wir selbst haben immer Transparenz praktiziert, aber wir verstehen, dass es in Osttimor selbstmörderisch wäre, auf Anonymität zu verzichten. Wir selbst haben niemals Daten entführt, kürzlich aber stahl eine anonyme Gruppe die Kreditkartennummern der Teilnehmer des Davoser Weltwirtschaftsforums. Die Mächtigen hatten eine Mauer errichtet, um sich vor Straßenprotesten abzuschirmen. Da muss man neue Wege gehen, um zum Ziel zu kommen.