Künstler wirft Kuh vom Himmel

Cowdown

Der Aktionskünstler Flatz ließ eine Kuh in ein Loch in Berlin-Mitte fallen und explodieren. Das Fleisch ist stark, aber der Geist ist schwach.

Wie wird es sich anhören? Das ist die zentrale Frage des Abends. Schließlich war der geplante Kuhabwurf des Aktionskünstlers Wolfgang Flatz bereits so lange werbewirksam durch die Medien gegangen, dass sich bezüglich der Detonationsgeräusche allerhand Erwartungen aufbauen konnten. Simulierte Bilder gab es zu sehen, in denen eine schlaff der Schwerkraft hingegebene Kuh am Helikopter hängt. Sie fliegt über Berlin, und klar war: Wenn sie fällt, dann stellen sich uns die Nackenhaare auf. Zuletzt hatte gar ein 13jähriges Mädchen eine einstweilige Verfügung beantragt: Sie könne durch den Anblick einen »seelischen Schock« erleiden.

Dabei wäre der Schock im Spektrum möglicher Reaktionsformen eine glatte Eins. Denn, so heißt es im Pressetext: »Aktionen aus dem Hause Flatz sind extrem.« Dabei setzt Flatz seinen Körper ein - und aufs Spiel. Er hat sich nackt mit Dartpfeilen bewerfen lassen oder bis zur Bewusstlosigkeit als menschlicher Glockenklöppel fungiert. Schreikrämpfe habe er so beim Publikum ausgelöst, Erbrechen und Attacken. Flatz provoziert, und vermittels des Schocks will er wirken, beziehungsweise »mal wieder die schwarzen Löcher des Kollektiv-Bewusstseins treffen«. So auch mit der jüngsten Performance »Fleisch«, die gleich als Ereigniskonglomerat daherkommt: kleiner Aufwärmer zur Love-Parade, Record-Release von Flatz' neuer CD »Fleisch« und vor allem spektakuläres Outdoor-Event.

Donnerstagabend im Prenzlauer Berg: Menschenströme pilgern dem Ort des Geschehens entgegen, wo sich längst eine Masse versammelt hat. Das Baustellenareal vor dem Hinterhof der als Multimediakomplex geplanten Backfabrik.de gleicht einem Wallfahrtsort. Weil ein Bauzaun den Blick auf den Boden versperrt, sitzen die Menschen auf allem, was die Sicht wieder freier werden lässt: auf Straßenbahnhaltestellen, Autos oder Gerüsten. Schließlich geht es um den Aufprall, und der soll zu sehen sein: »Wo ist die Kuh?« Die ersten alkoholischen Kaltgetränke sind schon geöffnet, einem Kampfhund wird der Maulkorb abgenommen. Irgenwo in der Menge sind auch die Tierversuchsgegner mit einem Plakat.

Links im Hintergrund der Alex und das Forum Hotel, rechts gegen die dunklen Wolken auf einem Flachdach die Silhouetten von Menschen: Das ist Berlin. Handys kommen zum Einsatz - »wir sind hier, die fliegenden Kühe angucken.« Und »an welcher Ecke?« Fotoapparate werden in die Höhe gehalten: Bilder der Menge. »Volksfeststimmung« ruft einer. Genau. Plötzlich Jubel, ein Spot zieht langsam die Häuserwand hinauf, Maschinengeräusche setzen ein, und auf einer Leinwand an der unsanierten Fassade erscheint das blutüberströmte Gesicht von Flatz, das im Takt der martialisch einsetzenden Elektrobeats pulsiert. Die ersten Köpfe im Publikum beginnen zu wippen, dann Stille: Ein Hubschrauber naht. Man wartet auf das Ereignis, das man längst kennt und das jetzt endlich einmal passieren soll.

Aber da schwingt der Kran auf dem Backfabrikdach auch schon nach vorn, und etwas hängt an ihm. Die Kuh ist es nicht. Wie eine weiße Mumie mit Flecken von Blut sieht es aus. Dann fällt das Tuch, und darunter ist der nackte Flatz. Mit Wundmalen an Händen und Füßen hängt er da, die Brust dem Berliner Himmel und dem Jubel entgegengestreckt, die Arme weit geöffnet. Ein Christus? Oder der Mann aus der »Cliff«-Werbung vor dem Sturz von den Klippen?

Doch egal jetzt, denn der Hubschrauber kommt, die gehäutete und von BSE-Risikomaterialien befreite Kuh hängt an ihm, steif und merkwürdig klein. Dann geht alles ganz schnell, und schon ist die Kuh gefallen. »Puff« hat es gemacht und eine Rauchwolke war aufgestiegen. Das Streichquartett spielt einen Walzer und irgendwann später spielt noch die Flatz-Band Treibstoff. Die Menge aber zerstreut sich. Schließlich ist die Kuh gefallen.

Offensichtlich gibt es da diese Diskrepanz: zwischen der Volksbelustigung mit detonierender Kuh und den kulturtheoretisch aufgepolsterten, bedeutungsschwangeren Aussagen über das Fleisch. »Die Assoziationsfelder sind offen«, sagt Flatz später, als er markig, Arroganz und Machismus gleichermaßen kultivierend, auf die halbherzig gestellten Fragen der Presse anwortet. Er habe mit der Performance die verschiedenen Ebenen von Fleisch thematisieren wollen: das sexuelle Fleisch, die kulturelle Überformung des Fleisches im Christentum und das industrielle Fleisch. »Die Kuh ist das Bild der industriellen Fleischproduktion.« Zugleich ist sie ein Kindheitsbild des kleinen Wolfgang aus Vorarlberg. Wenn auf der Alm eine Kuh abstürzt, wird sie - bis heute - entweder mit dem Hubschrauber geborgen oder mit Hilfe von Dynamit gesprengt.

Neben der Analogie zur Hochalm spielt die Natur für Flatz aber noch eine ganz andere Rolle. Irgendwie nämlich erscheint sie als das Eigentliche, Ursprüngliche und Archaische, als das, was kulturell noch nicht »überformt« ist. Wenn die »anerzogene Moral« zerbricht, so Flatz in einem Interview, dann tritt das »Raubtier« auf. Hinter der Oberfläche mühsam aufrechterhaltener Verhaltenscodices lungere das Fleisch, und, so Flatz an anderer Stelle: »Das Fleisch ist stark.«Und das Fleisch spricht, es deutet auf die »Natur in uns«, die wir vergeblich zu bezwingen versuchen: »Hilflos wehren wir uns gegen das, was wir sind.« Dabei scheint der Flatzsche Geist mühelos imstande, die Sprache des Fleisches zu decodieren. Hermeneutische Probleme gibt es da nicht. An ihnen läuft der kreisende Gedanke gekonnt vorbei. Was sind wir? Fleisch. Und das Fleisch ist stark.

Flatz zeichnet - als Background seiner martialischen Kunstauffassung - ein Kindheitsbild von schaudrig genossenem Katholizismus und einem Umgang mit Onanie, der an die Atmosphäre der Anti-Onanie-Kampagne des 18. Jahrhunderts denken lässt. Früher war ihm die Fleischeslust verboten. Heute setzt er sie um so heftiger ins Bild. Wenn er dann noch verlauten lässt, sein Kontakt zum Vater sei ein Schlag ins Gesicht gewesen, scheint evident: Flatz ist ein rebellischer Sohn, der ungezogen sein will!

Dabei steht Flatz mit Blutopfer, Selbstkasteiung und der Hinwendung zum Archaischen durchaus in einer künstlerischen Tradition, zumal in Österreich. Die Wiener Aktionisten hatten bereits in den 60er Jahren versucht, mit Hilfe des Schocks im Gesamtkunstwerk das Verdrängte erfahrbar zu machen. In Otto Mühls Aktion »Scheißkerl« wird 1969 ein Schwein geschlachtet und eine Frau mit Blut, Kot und Urin übergossen, im Hintergrund werden Weihnachtslieder gespielt. Hermann Nitsch inszeniert die Kreuzigung im Orgien-Mysterien-Theater und fotografiert seit 1967 Tierkadaver in Großmarkthallen und Schlachthöfen. Er wolle die »Realität in ihrer vollen Umfänglichkeit und Geschlechtlichkeit darstellen«, sagt Nitsch. Das könnte Flatz auch sagen.

Fraglich, ob seine Arbeiten heute überhaupt noch provozieren können. Inhaltlich deutet die Mischung aus Archaik und Biologismus als exemplarisches Indiz darauf hin, dass nach den Jahren des Redens über die Konstruktion von Körper, Subjekt und Geschlecht der Backlash tatsächlich da ist. Dass das Fleisch, das »am Anfang war«, erigiert in »ein anderes« (O-Ton Flatz) hineinstößt, ist als Aussage heute weniger provokant als omnipräsent, wohlfeil und lästig.

Formal hatte der Wiener Aktionismus Tieropfer, SM-Sex und Selbstverstümmelung zweifellos an die Grenze getrieben. Flatz wiederholt diese Form, domestiziert als Marketing-Event und unfreiwillig veterinärmedizinisch überwacht. Er provoziert dabei weniger durch die Performance selbst als durch deren diskursiven Vorlauf in den Medien. Als die Kuh schließlich BSE-getestet und lebensmittelrechtlich einwandfrei fällt, vollzieht sich brav und sauber lediglich das, was den Geist in der Vorstellung schon vorher gegruselt hatte. Dabei tritt der Schock schon deshalb nicht ein, weil ein aufmerkendes Bewusstsein ihn gespannt erwartet. Das Ganze gewinnt erst durch Flatz' Statement, die neueren Arbeiten seien nicht mehr »physical«, sondern vielmehr »media sculptures«, eine neue Bedeutung: Skulpturen für und durch die Medien.

Ob die Aktion ein Erfolg war, fragt ein Journalist am Ende. Da kann sich Flatz, zugleich Kenner und Nutzer der Medien, ganz entschieden geben: »Sonst wären Sie ja nicht hier.«