Zivilisation vs. Barbarei

Konkurrenz der Barbaren

Unmittelbar nach den Terroranschlägen in den USA verständigte sich das westliche Establishment auf eine Sprachregelung, die jede weitere Eskalation rechtfertigt. Ohne formelle Übereinkunft äußerte sich ein Reflex, der automatisch auf die Gründungsmythen der bürgerlichen Gesellschaft zurückgriff.

Was bereits die Philosophen der Aufklärung erkannt hatten, dass nämlich die Einwohner der kolonisierten Länder Taugenichtse sind, fasste der Literat des britischen Kolonialismus, Rudyard Kipling, der 1907 den Nobelpreis erhielt, in seinen berühmtesten Versen zusammen: »Nehmt auf euch des Weißen Mannes Bürde - / die grimmigen Kriege zur Befriedung, / gebt den hungrigen Mäulern zu essen / und gebietet der Seuche Einhalt. / Wenn ihr dann dicht vor dem Ziel steht, / was ihr anderen zuliebe erstrebt, fast erreicht habt: / seht zu, wie Faulheit und heidnischer Irrwahn / eure ganze Hoffnung zunichte machen.«

Der Geist dieser Verse ist wieder aktuell. Er kennzeichnet viele der Erklärungen, die nach den Mordanschlägen abgegeben wurden. In den USA war viel vom »Bösen« die Rede, Bundeskanzler Gerhard Schröder sprach von einer »Kriegserklärung an die zivilisierte Welt«, Nato-Generalsekretär George Robertson von »barbarischen Aktionen«. Auf der Bild-Titelseite vom vergangenen Freitag war das Foto eines der mutmaßlichen Attentäter mit »Terror-Bestie« überschrieben, und in derselben Ausgabe stellte der Historiker Arnulf Baring fest: »Es ist ein Krieg zwischen Morgenland und Abendland, der uns bevorsteht.«

Auch wenn es tausendmal gesagt ist: Dieser Krieg steht nicht bevor, er ist seit 500 Jahren im Gange. Die westliche Zivilisation basiert nicht unwesentlich auf der Barbarei, mit der sie den Rest des Planeten für ihre Zwecke einrichtet. Trotzdem haben in der Vergangenheit viele Revolutionäre der Dritten Welt, von Fidel Castro bis Ho Chi Minh, die Zivilisation beim Wort genommen und versucht, deren Errungenschaften für die Entwicklung ihrer eigenen Länder zu nutzen. Teilweise hatten sie sogar vor, die Zivilisation noch zivilisierter zu machen und etwa Armut und Elend abzuschaffen.

Der Westen beantwortete jeglichen Ansatz, Teile der Welt seiner Verfügung zu entziehen, mit einer effizienten Verschärfung des Krieges. Das fiel ihm auch deshalb leicht, weil seine Philosophen die Idee, Armut und Elend abzuschaffen, fast unwidersprochen als irrationale Spinnerei abtun konnten. In der Folge etablierten sich in der Dritten Welt immer mehr Regimes und Führerfiguren, deren Aberglauben dem des Westens in dem barbarischen Grundgedanken gleicht, Armut und Unterdrückung seien gottgegebene Dinge. Einfluss konnten diese Figuren aber nur erringen, indem sie die bisherigen Erfahrungen der Dritten Welt ihrerseits in dem schlichten Bild zusammenfassten, alles Böse komme aus Amerika.

Mit dem World Trade Center brach auch die Idee der »One World« zusammen. Wenn Friedensforscher nun erst recht fordern, der Westen müsse zur Verhinderung weiteren Terrors den berechtigten materiellen Ansprüchen der Dritten Welt endlich Genüge tun, befördern sie lediglich den Aberglauben, die westliche Politik beruhe auf bedauerlichen Irrtümern. Eine ähnliche Tendenz zeigen jene Linke, die in dem Massenmord, wenn er denn aus der Dritten Welt kommt, eine Art von verkürztem oder pervertiertem Antiimperialismus erblicken.

Das Attentat war in keinem Sinne Gegenwehr, sondern bekräftigt seinerseits den Anspruch auf reaktionäre Herrschaft. Man spricht sich gegenseitig die Existenzberechtigung ab. Der scheinbare Antagonismus, der zwischen den Barbaren der Ersten und der Dritten Welt entstanden ist, läßt dem linken Bedürfnis nach Parteinahme keinen Raum. Wer dennoch zwischen Pest und Cholera wählt, ist ein Idiot. Da ist es vernünftiger, eine verspätete Schweigeminute für Che Guevara abzuhalten.