Hermann Ungar: Die Verstümmelten

Subkutaner Sex

Stefan Zweig fand ihn widerlich, Thomas Mann bewunderte ihn. Über Hermann Ungars Roman »Die Verstümmelten«.

Als Hermann Ungar am 28. Oktober 1929 in einem Prager Krankenhaus an akuter Blinddarmentzündung starb, 36jährig, war er gerade dabei gewesen, sich als Dramatiker einen Namen zu machen. Alfred Kerrs Kritik zur postumen Uraufführung des Lustspiels »Die Gartenlaube« im Dezember des Jahres schlug dann auch einen Ton an, den man bei ihm nur selten hörte, wenn er die jüngere Dramatikergeneration verarztete: »Geht hinein - und seht, was wir verloren haben!«

Verloren hatte das tschechoslowakische Außenministerium auch einen tüchtigen Legationssekretär und die Literatur den neben Kafka wohl bedeutendsten Erzähler des deutschsprachigen Prag. Ungar, ein in Mähren aufgewachsener Jude, publiziert im Laufe der zwanziger Jahre ein schmales, aber originäres Werk mit Erzählungen (»Knaben und Mörder«, 1920) und zwei Romanen (»Die Verstümmelten«, 1923; »Die Klasse«, 1927), das in der literarischen Öffentlichkeit seinerzeit durchaus für Beachtung sorgt, aber wegen der besonderen Exponiertheit des Sexuellen und der scheinbar erbarmungslosen Schilderung psychopathologischer Zustände kontrovers diskutiert wird. Thomas Mann etwa gehört schon früh zu seinen Bewunderern und widmet Ungar einen freundlichen, wenn auch etwas verdrucksten Nachruf, der viel von der »Sakramentalität der Sinnlichkeit« und der »geschlechtlichen Melancholie« redet, weil der Verdrängungserotiker nicht zugeben mag, was ihm wirklich an diesen Texten liegt, die durchgehende homoerotische Unterströmung nämlich, vor allem in Ungars erstem Roman.

Stefan Zweig hingegen zeigt sich abgestoßen von dem Buch, macht hier »eine furchtbare Vorliebe (...) für schlechten Geruch, für die Miasmen der Seele, für ungelüftete, schweißige, unreinliche Situationen« aus, gibt dann aber auch zu, dass man »mit Grauen in ihm verharren« müsse.

Zweig hat ganz Recht, es ist der Ekel am Organischen, den Ungar in »Die Verstümmelten« evoziert, und dies in einer kargen, sachgemäßen, geradezu klinischen, metaphernarmen, aber nicht kunstlosen Beschreibungsprosa, die man leicht für unbarmherzig halten könnte, die aber nichts weiter ist als die formale Entsprechung der Ausweglosigkeit, der schicksalhaften Determiniertheit, der prästabilierten Disharmonie menschlicher Existenz, wie Ungar sie inhaltlich vorführt. Seine Protagonisten handeln nicht aus freien Stücken, sie handeln eigentlich überhaupt nicht, ihnen stößt etwas zu. Sie sind Opfer.

Zum Beispiel Karl Fanta, der reiche libertinäre Jude und ehemalige Lebemann, der bei lebendigem Leibe verfault, dem man schon zwei Beine abgenommen hat und im Laufe des Romans noch einen Arm amputiert, und der seine Angehörigen mit zügellosem Hass auf sich und die Welt quält. »Er hat kein Herz mehr. Sein Herz ist auch von Geschwüren zerfressen. Darum ist er so grausam zu mir«, erklärt seine Frau dem einzigen Freund, der ihm noch geblieben ist: Franz Polzer, der Hauptperson des Romans. Aus seiner Perspektive wird erzählt, und seinen Erfahrungshorizont überschreitet der Erzähler an keiner Stelle.

Polzer, ein kleiner Bankangestellter, ein Verwandter Josef K.s und Wiedergänger Woyzecks, ein Ordnungsfetischist, »autoritärer Zwangscharakter«, wie ihn Wilhelm Reich wohl bezeichntet hätte, gerät immer mehr unter den Einfluss seiner Vermieterin, der Witwe Porges, die ihn schließlich gegen seinen Willen und durchaus handgreiflich zu ihrem Geliebten macht. Polzer kann sich nicht wehren bzw. will es wohl nicht, wie er sich auch als Kind den Schlägen des Vaters und seiner Tante - die Mutter ist bei seiner Geburt gestorben - ausgesetzt hat, ja, sie gesucht hat, um seinem Hass auf die beiden einen Grund zu geben.

Ausgelöst hat diese masochistische Manie, von der er nicht loszukommen scheint, ein frühkindlicher Schock. Er erfährt von dem inzestuösen Verhältnis seines Vaters mit der Tante. Weibliche Sexualität löst bei ihm in der Folge nur mehr Ekel aus (»Der entsetzliche Gedanke, dass dieser nackte Körper nicht verschlossen sei. Dass er in grauenvollem Schlitz bodenlos klaffte.«) und nicht zuletzt die Wahnvorstellung, dass er den Inzest seines Vaters wiederhole.

So kommt es ihm auch nach der ersten Nacht mit Klara Porges vor, »als habe er seiner Schwester beigewohnt«. Und dieses neurotische Schuldgefühl, so will es seine masochistische Disposition, muss ebenfalls immer wieder neu durchlitten werden.

Ungar ergänzt seine komplexe pathopsychologische Fallstudie subtil, indem er Polzers Misogynie, literarisch verschlüsselt, eine uneingestandene Homosexualität zur Seite stellt. So scheint die Jugendfreundschaft von Polzer und Fanta möglicherweise auch erotisch konnotiert gewesen zu sein, und Polzer sehnt sich auch späterhin nach »einer kleinen Zärtlichkeit, einer Wiederholung jener Knabenküsse«.

Vor allem aber begibt er sich jeden Sonntag in ein kleines Billard-Café - und man beachte die subkutane Sexualisierung dieser Szene, in der sich Ungars erzählerische Meisterschaft dokumentiert: »Er sah den Billardspielern zu. Dieses Zusehen versetzte ihn in eine gehobene Stimmung. Er verfolgte das Rollen der glatten Kugeln über das grüne Tuch und freute sich des hellen Klangs des Zusammenstoßes. Zugleich beobachtete er die Bewegungen der Spieler, wie sie sich weit über das Brett bogen und zum Stoß ansetzten.«

Einige Zeilen später dann: »Seine Sehnsucht war, selbst Billard zu spielen. Sie erfüllte sich ihm nie. Polzer schrak davor zurück, seine Bewegungen öffentlich allen Augen preiszugeben.« Die offensichtliche Angst vor dem Coming-out, die dann gleich im Anschluss noch einmal allegorisiert und somit chiffriert wird: »Polzer hatte das Queue schon in der Hand und war sich bewußt, daß er es nun sorgfältig kreiden müsse. Da entsann er sich, dass er einmal schon ein Queue in der Hand gehalten habe. Es schien ihm, als seien Leute dabei gewesen. Er wusste im Augenblick nicht, ob es im Traum gewesen sei. Aber es konnte nicht gut anderswo gewesen sein. Als er zu kreiden begann, war es gewachsen und schwer geworden, und er hatte das Gleichgewicht verloren.«

Was diese homoerotische Latenz des Romans für die Autorpsychologie bedeutet, ob sie überhaupt etwas bedeutet, kann uns wohl egal sein, für den Text hingegen ist sie nur einmal mehr Bestätigung seiner hochgradig artifiziellen Struktur, die Thomas Mann offenbar eher zu goutieren, vielleicht auch eher zu deuten vermochte als Stefan Zweig.

Hermann Ungar: Die Verstümmelten. Maas Verlag, Berlin 2001. 150 S., DM 25