Umfrage in Ostberlin

Ostberliner sind auch Amerikaner

Oder etwa nicht? Kai Pohl hat Leserbriefe studiert und auf den Straßen zwischen Mitte und Penzlauer Berg nachgefragt.
Von

Nähert man sich dieser Tage von Osten oder Westen dem Brandenburger Tor, so sieht man schon von weitem auf schwarzem Tuch die Worte: »Wir trauern. Our deepest Sympathy.« Dieser Bekundung von Trauer um Tausende unschuldiger Opfer des Terrors jenseits des Atlantiks mag sich kaum jemand in Berlin und dem Umland verschließen.

Als Peter Struck, der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, am 12. September sagt: »Heute sind wir alle Amerikaner«, ist der Schock über die Ereignisse noch frisch. Der Satz bekommt erst in der zeitlosen Form »Wir sind alle Amerikaner« ähnliche Tragweite wie der Ausspruch John F. Kennedys »Ich bin ein Berliner«.

Doch nicht alle Deutschen fühlen so. Bei Neonazi-Aufmärschen in Stralsund und Frankfurt an der Oder wurden kürzlich amerikanische Flaggen verbrannt. In der KZ-Gedenkstätte in Dachau wurden wiederaufgebaute Lagerbaracken mit antiamerikanischen Sprüchen beschmiert. Im sächsichen Ort Hohenstein-Ernstthal soll eine Geschichtslehrerin am dortigen Lessing-Gymnasium im Unterricht bekundet haben, die USA hätten mit den Anschlägen einen Denkzettel bekommen, weil sie sich überall einmischten. Das Regionalschulamt suspendierte die Frau daraufhin vom Dienst.

Und wie sehen die Berliner die Sache? Ist die Solidarität mit den USA in beiden Stadthälften gleich groß? Für Ostdeutsche, die weder einen Marshallplan noch Rosinenbomber kennen lernten, also auch nicht in den Genuß von Care-Paketen kamen, sei es nicht selbstverständlich, die »Teilnahme an neuerlichen US-Abenteuern zu akzeptieren«, war kürzlich in einem Leserbrief des Neuen Deutschland zu lesen. Wer mit Einkommensabschlägen leben müsse, wolle nicht zu 100 Prozent als »Kanonenfutter« oder »Knetmasse für beliebige Unterwürfigkeitsbekundungen« zur Verfügung stehen. Ein anderer Leserbriefschreiber meinte: »Der hochgestapelte Ausspruch ðNun sind wir alle AmerikanerÐ ist aberwitzig.« Ein Dritter räsonniert: »Mehrfach hat Präsident Bush den lieben Gott im Munde geführt. Dabei hat selbiger Gott als Allmächtiger das Verbrechen seitens Ungläubiger nicht verhindert. Wollte er die USA damit strafen?« Und eine Leserbriefschreiberin gestand freimütig: »Statt immer wieder die schrecklichen Bilder von Manhattan anzusehen und das stundenlange Gerede von den ðgutenÐ Amerikanern und ðbösenÐ Moslems anzuhören, griff ich zur Musik der Puhdys.«

Kann es also sein, dass die Menschen im Osten gar nicht hinter dem Satz, wir seien alle Amerikaner, stehen? Wie denken zufällig befragte Ostberliner über ihr neues Dasein als »Amerikaner«? Hier ein paar Zeugenaussagen, allesamt vom 21. September 2001:

Ein Ostberliner Rentner etwa sagt der Jungle World: »In Berlin sind Amerikaner eine Kuchensorte, etwas Essbares. So ein Amerikaner möchte ich nicht sein. Ein Ende durch Gefressenwerden wäre mir unangenehm. Die uneingeschränkte Unterstützung, welche unsere Regierung sofort nach den Anschlägen den USA zugesichert hat, läßt mich an die letzte Zeile einer Hymne denken, die mir vor 60 Jahren eingetrichtert wurde: ðFührer befiehl, wir folgen dir.Ð Wenn wir den USA blindlings hinterherlaufen, kann das teuer für uns werden.«

Ein Rundfunkmitarbeiter aus Prenzlauer Berg erklärt: »Wenn ich höre: ðWir sind alle AmerikanerÐ, kann ich nur müde lächeln. Während vielleicht Leute aus dem Westen das wirklich verinnerlicht haben. Die sind am Wochenende danach mit der USA-Fahne ins Bundesligastadion gegangen. Auf diese Idee wäre ich nie gekommen. Das ist aber auch eine Generationssache. Zum Beispiel der jüngere Bruder meiner Frau, der hat gesagt: ðTerroristen müssen ausgerottet werden. Da geh ich selber mit der Waffe los und meld mich nochmal freiwillig zur Bundeswehr.Ð Zur Wende war er 14, er hat also nicht mehr soviel von der DDR mitbekommen. Er hat bestimmt weniger Probleme, sich mit dem Satz zu identifizieren.«

Ein Zeitungshändler am Helmholtzplatz (Prenzlauer Berg) erläutert: »Was Deutschland jetzt macht, ist eine einzige Arschkriecherei, genauso Großbritannien. In Hiroshima, Nagasaki, Bagdad und Belgrad hat es immer Unschuldige getroffen. Und wenn es jetzt zum Krieg kommt, wird es auch diesmal wieder Unschuldige treffen.«

Ein Mitarbeiter der Volksbühne (Mitte) ist der Meinung: »Der Beistanderklärung muß doch eine Diskussion vorangegangen sein. Das war schon irgendwie besonnen, mit Konsens. Und wenn da nun Einigkeit besteht, dann müssen wir auch dazu stehen, dann gehören wir dazu. Aber mich selbst als Amerikaner, nein, so fühle ich mich nicht. Zu diesem Spruch fällt mir ein Text von Klaus Hoffmann ein, wo es heißt: ðWir sind doch alle Amerikaner. Wir haben zumindest alle schon denselben Bürgermeister, McDonald's, oder wie der heißt.Ð Aber im Ernst: Wir müssen uns zu diesen Ereignissen ja irgendwie verhalten, werden Stücke ändern müssen. Welche Konsequenzen das alles für unser Theater hat, ist noch gar nicht abzusehen.«

Eine Studentin der Wirtschaftsinformatik (Lichtenberg) dagegen weiß: »Die Amerikaner sind Demagogen. Für den Kosovo-Krieg mussten die Menschenrechte als Rechtfertigung herhalten. Dieselben Menschenrechte sind aber für dieselben Leute kein Grund, um in Afghanistan einzugreifen. Wieviele Menschen in Afghanistan durch die Taliban sterben, interessiert niemanden. Niemand in Afghanistan möchte von den Taliban regiert werden. Mit militärischen Mitteln wird einzig erreicht, daß der Extremismus zunimmt. Das müßten gerade die Amerikaner wissen, die doch so bibeltreu sind.«

Ein Mitarbeiter einer Werbeagentur (Mitte) gesteht: »Amerika ist mir näher gekommen. Diese Katastrophe hat mich wirklich angegriffen. Frühere Anschläge fanden woanders statt, weit weg, da war nicht ich gemeint. Aber bei diesem habe ich plötzlich Angst gekriegt. Die Welt hat sich stärker polarisiert, es gibt nur noch Erste und Dritte Welt. Schrecklich ist, daß Differenzierungen verschwinden; die kleinen Unterschiede innerhalb des Westens sind nicht mehr so bedeutsam.«

Beim Schuhmacher in der Dunckerstraße (Prenzlauer Berg) meint schließlich ein Kunde: »Ich stehe voll dahinter, dass Deutschland sich beteiligt, die USA haben uns damals auch geholfen. Aber ich bin für Besonnenheit, auch wenn Wut verständlich ist. Denn weitere Unschuldige durch den Einsatz extremer Mittel zu opfern, wäre nicht besser als der erlittene Terror und würde die Amerikaner unglaubwürdig machen.«