Die Filme von Heinz Emigholz

Regisseur des Raums

Über die Filme von Heinz Emigholz.

Manche Begriffe haben nicht viel mehr für sich, als dass sie sehr einfach sind. Das gilt für diejenigen, in denen wir über den Raum zu sprechen gewohnt sind, und die ihn, seit Euklid und Newton, als eine stetige, unendliche und gleichförmige Struktur, als absolut, wahr und mathematisch setzen, eine Struktur, von der der Alltagsverstand die bekannte dreidimensionale Billigkopie besitzt. Diese Begriffe haben überhaupt nichts mit dem Raum zu tun, in dem wir handeln und wahrnehmen, welcher nicht stetig, sondern unterbrochen, nicht unendlich, sondern begrenzt, nicht gleichförmig, sondern eigenartig, weder absolut noch wahr noch mathematisch ist, sondern relativ, kontingent und nicht formalisierbar, und in dem andere Dimensionen von Wert sind als die der Ausdehnung. Welche? Hier hört die Sache auf, einfach zu sein.

Nicht allein, dass der Raum, in dem wir uns bewegen, immer ein anderer sein muss, er passt auch nicht in den Rahmen von oben, unten, links, rechts, vorn und hinten, Wörter, die wir gleichwohl brauchen, wenn wir uns mit anderen austauschen und etwa einem Gelangweilten bezeichnen wollen, wo die Fernbedienung liegt. Aber spätestens, wenn wir »dort« und »hier« sagen, verlassen wir den neutralen Raum Euklids und Newtons und treten in unseren eigenen ein. Nicht dass diese Adverbien nicht neutral wären, aber sie deuten an, wie sehr der Raum immer auf uns selbst bezogen ist, wie sehr die Kräfte, Bewegungen und Empfindungen, die ihn aufspannen, unsere sind. »Hier« hat eine andere Bedeutung, wenn du es sagst, als wenn ich es sage, und wir befinden uns vielleicht im selben Wartezimmer, aber doch nicht im selben Raum.

Diese emotionale, eigensinnige, subjektive Bezogenheit des Raums war, von Brunelleschi bis Broodthaers, immer ein Gegenstand der Kunst, sie war und ist ein Gegenstand des Films. Nicht viele Künstler aber haben den Gegensatz zwischen begrifflichem und begriffenem Raum so klar analysiert wie Heinz Emigholz. Nicht viele haben uns so sehr spüren lassen wie er, dass uns die gewöhnliche Sprache »ans Koordinatenkreuz des Raums schlägt« (Mauthner). Und sehr wenige haben es wie er gewagt, eine andere, persönlichere, schwierigere Sprache zu sprechen.

Das Koordinatenkreuz des Films ist die klassische Kadrierung - feste Vertikale, sichere Horizontale -, aus ihr ergibt sich sein Oben und Unten, sein Vorn und Hinten; und kein Hitchcock, der in Paris spielt, beginnt ohne eine Totale, in deren Zentrum der Eiffelturm figuriert. So wissen wir gleich Bescheid, und die Landschaft spielt weiter keine Rolle. Bei Emigholz spielt sie eine Hauptrolle.

Um die Landschaft zu begreifen, muss erst die Grammatik zerschlagen werden, die sie arrangiert. »Schenec-Tady« (1972-1975), eine Folge von drei stummen Kurzfilmen, zeigt eine Lichtung im Taunus und Dünen in Dänemark. Die Landschaften sind, einer Partitur folgend, die sowohl die Position der Kamera als auch die Einstellung des Objektivs festlegt, in Tausenden Einzelbildern aufgenommen und durch die Montage in Bewegung gesetzt worden.

Wie immer, wenn Literatur, Malerei, Film sich von alten Formen emanzipieren, nähern sich auch diese Landschaftsschilderungen den abstraktesten der Künste an, Musik und Mathematik. Aber sie tun das gerade nicht aus einem anti-mimetischen Affekt, weil sie verwerfen wollten, was zu sehen ist, sondern weil sie sehen wollen, was verworfen wurde. Ein Film wie »Schenec-Tady«, schreibt Emigholz, »behandelt Landschaft als Objekt und ist gleichzeitig ihr Objekt«.

Die mathematische Konstruktion dieser frühen Arbeiten dient gerade dazu, sich von dem vulgärmathematischen Begriff, den der traditionelle Film vom Raum hat, zu lösen; statt Rechtecken Rhythmen, statt Chiffren Stoff, statt Starre Bewegung.

Durch die Musikalisierung des Materials ist es möglich geworden, die unserer Raum-Erfahrung natürliche Polyphonie oder Simultaneität zu simulieren, denn wir blättern ja nicht in Räumen wie in Otto-Katalogen; sich in ihnen zu bewegen, heißt doch immer, von ihnen bewegt zu werden. Selbst in Wüsten geschieht vieles zur selben Zeit.

Simultaneität bleibt ein Grundprinzip auch der Spielfilme der achtziger Jahre. »Normalsatz« (1978-1981) etwa spielt am 30. April 1975 (nach der Beendigung des Vietnamkrieges) in Brookburg, einem Hybriden aus Brooklyn und Hamburg, in durchgängiger Simultaneität, in kontinuierlicher Diskontinuität, die selbst die Protagonisten einbezieht, deren einer die Sätze und Handlungen des anderen fortsetzt.

Den ans aristotelische Dogma gewöhnten Zuschauer mag das irritieren, doch ist das Gefühl, sich zur selben Zeit an mehreren Orten, am selben Ort in mehreren Zeiten zugleich zu befinden, in einer Küche und in allen Küchen, in einer Straße und in der, an die sie uns erinnert, auf einer Wiese und auf der Wiese, von der wir träumen, nicht den dissoziierten Persönlichkeiten vorbehalten. Es ist auch eine moderne Erfahrung; wir sitzen im Taxi und blicken auf ein Meer, wir reisen im Netz und bleiben zu Haus, wir stehen in der Sagrada Familia und glauben uns im Wald.

In »Normalsatz« hat Emigholz seinen Formenkanon vollständig entwickelt, und er spielt ihn mit der größten Souveränität aus. Orientiert wird auf die Bewegungen und Kräfte des Ensembles der Gegenstände, die dadurch aufhören, Gegenstände zu sein und zu Relativa werden. Immer ist die Bindung von Objekten und Personen, sind ihre Intervalle bedacht, ein Spiel von Anziehung und Abstoßung, in welchem nichts im Peripheren lungert und nichts kaputtkadriert wird. Hier gleicht der Kader nicht einem Rahmen, sondern einem Kräfteparallelogramm.

Scharfe Anschnitte, strenge Diagonalen zielen nicht auf Verfremdungseffekte, sondern ergeben sich aus der Dynamik der Objekte und Formen im Blick des Regisseurs, aus der Bewegung im Bild und in es hinein. Durch die dynamische Komposition erzeugt Emigholz eine hohe Spannung, die sich selbst in den Standbildern noch vermittelt. Diese Räume sind von der Zeit her gedacht, von der Bewegung im Raum, in ihnen hat eine urbane Unruhe die ewig zu Boden ziehende Gravitation ersetzt.

Die Spielfilme, die folgen, »Die Basis des Make-Up« (1979-1985), »Die Wiese der Sachen« (1974-1987), »Der Zynische Körper« (1986-1990), bauen auf den erworbenen Kenntnissen auf, sie besitzen nicht immer die Nervosität, die »Normalsatz« auszeichnet, nicht immer dessen Strenge, aber doch immer dessen gut geschärften Witz: »Jetzt ging ich ohne einen Anflug von Müdigkeit die Straßen einer Stadt entlang, die ich seit Jahren kannte, und ich hatte ihren Namen ebenso vergessen wie den Namen des Ozeans, an dem sie lag. Kurz vor der Haustür fiel mir alles wieder ein. Mein Name ist Fuckface. Und diese Stadt hier heißt Clonetown.«

Die Spielfilme sind dicht aufeinander bezogen (»Normalsatz«, »Die Basis des Make-Up« und »Die Wiese der Sachen« bilden eine »Trilogie der Siebziger Jahre«), in ihnen hat Emigholz sein Universum umrissen, in dem so merkwürdige Orte wie Clonetown, Brookburg, Hammerbrook, Billbrook und Topoi wie die Retina eines Kaninchens, Bernard Buffet, Freudsche Versprecher, soap operas, Schiffe, Teppichmuster, Domarchitektur und vor allem Notizbücher immer wiederkehren.

Ich rate davon ab, in diesen Orten und Topoi Symbole sehen zu wollen. Ich rate auch davon ab, in diesen Filmen nach allgemeinen Aussagen, etwa über die Zukunft der Psychoanalyse, über die Medien, das Geschlechterverhältnis, die soziale Stellung des Schwulen, das Schicksal des Künstlers, den Kapitalismus oder die deutsche Einheit, zu suchen. (Aber selbstverständlich lässt sich die Interpretation keine Schranken setzen.)

Emigholz hat seine Lesart der Filme (und seiner graphischen Arbeiten) in den (nicht mit »Die Basis des Make-Up« zu verwechselnden) Kurzfilmen »The Basis of Make-Up« I (1974-1983) und II (1983-2000) geliefert. Sie zeigen Blatt für Blatt sämtliche Notizen des Künstlers. Zwischen die häufig durch Zeitschriftenausrisse und Bildcollagen kontrastierten Schriften hat er ausgewählte Grafiken und Filmbilder gestellt. Wohl lässt sich trotz der raschen Abfolge der Seiten erkennen, dass alles, was Emigholz jemals veröffentlicht hat, in diesen Kladden vorbereitet sein muss. Aber mehr ist nicht möglich, denn die Aufzeichnungen sind in der Geschwindigkeit nicht zu lesen. »Die Tür wird auf- und sofort wieder zugemacht« (Emigholz). Dieses Universum bleibt unzugänglich.

Bevor die Räume petrifizieren, bevor sich in ihnen eine neue Sprache verhärtet, müssen sie verflüssigt werden. Mit »The Basis of Make-Up« hat Emigholz sein eigenes Universum den Wärmetod sterben lassen, hat er seine Landschaft musikalisiert, diesmal sostenuto. Es sind Filme, die, wenn der Zuschauer erst, wörtlich verstanden, resigniert, d.h. die Zeichen gelöscht hat, höchst angenehm wirken; in großer Gleichmäßigkeit fließen die Formen vorüber, sowohl die geschaffenen als auch die, mit denen wir täglich zu schaffen haben. Gelassenheit stellt sich ein.

Die Schönheit dieser radikalen Selbstinterpretationí bezeugt auch ein Gutachten der deutschen Filmbewertungsstelle:

»Der Bewertungsausschuss hat die Erteilung eines Prädikats einstimmig abgelehnt.

Dieses Trick-Experiment lässt die Augen des Zuschauers vom ersten Bild an nicht zur Konzentration kommen. Hier wird jede sinnvolle Anknüpfungsmöglichkeit, die auf einen einsehbaren Zusammenhang hoffen lassen könnte, offensichtlich bewusst verweigert.

Auf jeden Ton verzichtend, werden autobiografische Bildmaterialien in computerähnlicher Kombination und Zeitraffergeschwindigkeit zusammengefügt, die jede noch so tiefsinnige Kontrastmontage um ihren Charakter bringen muss, weil sie auch dem aufmerksamen, dem neugierigen Zuschauer keine Chance gibt. Eine derartige 'Rebus-Manier' lässt ein optisches Klein-Rätsel auf das andere folgen. So dürfte auch die Geduld des nach Lösungen suchenden Auges bald am Ende sein. Textpassagen, Fotografien, Zeichnungen, Druckgrafik u.a. folgen aufeinander, überlagern sich in einer pseudo-enzyklopädischen Hektik, die kaum ins Kino 'gehören' dürfte, um so mehr in andere experimentelle Räume.

Für die Zuerkennung eines Prädikates fand sich im Ausschuss keine Stimme.
Im Entwurf gezeichnet: Reimers (Prof. Dr. K. F. Reimers) stellv. Vorsitzender
Als Beisitzer haben an der Begutachtung mitgewirkt: Hermann Gerber (i.V. Schobert), Ernst Erich Strassl (i.V. Ruf)
Für die Richtigkeit: Steffen Wolf Verwaltungsdirektor«

Wenn je ein Film besonders wertvoll war, dann dieser; ihm ein Prädikat zu verleihen, hätte bedeutet, die ausgezeichneten Produkte der anderen einander noch ähnlicher zu machen, als sie es ohnehin schon sind.

Wenn also die Tür zu diesem Raum zugeschlagen ist, bleiben wir in unserem eigenen sitzen? Ich glaube nicht, dass sich während des Anschauens eines Films Zuschauer und Regisseur in einem »transcendent space« (Sobchack) treffen. Ich glaube, dass sie, gerade weil sie das nicht tun, etwas miteinander anfangen können.

Gerade weil der Zuschauer in diesen Räumen und Geschehnissen, in dieser Phantasie, anders als in planen Geschichten, nicht eingepfercht ist, kann er eigene Räume bauen. Jeder hat seine Bilder. Unvergesslich bleibt mir etwa die erste Einstellung zu »Der Zynische Körper«: Roy (Klaus Behnken) erwacht in einer Schlucht inmitten von Bücherregalen. In der glänzenden Komposition jener ersten Kader liegt er vor den düstern Bergen und gleichzeitig bilden diese die Ausläufer seines müden Kopfes. Das Mallarmésche »la chair est triste, hélas! et j'ai lu tous les livres« fällt mir ein, das Ende am Anfang, »fuir! là-bas fuir«, aber da unten kann auch da oben sein.

Ein anderes Beispiel: Die zweite Folge von »Miscellanea« (1988-2001), eine Sammlung von Sequenzen, die während der Filmarbeit entstanden, zeigt u.a. rohes Fleisch in roher Natur vergammelnd. Fliegen umsummen das in Rot- und Violett-Valeurs schillernde Stück, das man zu riechen meint und mit dem nicht Freundschaft zu schließen fast unmöglich ist. Das Baudelairesche Aas fällt mir ein, »et ce monde rendait une étrange musique«, andere mögen anderes vernehmen.

Dass Architektur, sowohl die des Films als auch die von Bauwerken, und erst recht die des Denkens, für Emigholz eine autobiografische, um nicht zu sagen idiosynkratische Angelegenheit ist, kann nach dem Gesagten nicht mehr überraschen. So erkennt er hinter dem Make-up der Bauten von Louis H. Sullivan und Robert Maillart die Basis, deren Köpfe, den »indelible imprint of their minds« (Sullivan). »Sullivans Banken« und »Maillarts Brücken« gehören, wie »Miscellanea«, zu dem auf 25 Teile angelegten Zyklus »Photographie und jenseits« und zum Besten, was Emigholz bislang gezeigt hat. Sie bilden in vielerlei Hinsicht die Summe seines Sehens.

Nicht Sullivans berühmte Wolkenkratzer ziehen Emigholz an, sondern das Alterswerk des Mannes, seine Banken im Mittleren Westen, in denen sich Schlichtheit und Spiel in wunderbarer Weise die Waage halten. Auch hier ist der Raum nicht Objekt, sondern Subjekt des Films, wird nicht der Raum gelesen, sondern diktiert er die Bilder. Gerade weil Sullivans Banken weder prunken noch aufstreben, verführt ihre Ornamentik, die nicht Zierat ist, sondern Aussage, wenngleich nicht eine mit der demokratischen Lehre Sullivans zu erschöpfende.

Das Organische der Ornamente, das aus dem modernen Geschäftshaus Herauswuchernde, das Treiben, Schlingen, Blühen, Aufplatzen, setzt erotische Ingredienzien frei. Es zeigt, gerade am gleichgültigen Ort des universellen Äquivalents, das Nicht-Austauschbare, die Anwesenheit einer im Geheimen arbeitenden Imagination. Emigholz ergibt sich, indem er den Kraftlinien folgt, die sie in diese letzten Gebäude seines Lebens einschrieb, der Leidenschaft des Architekten.

Ein ganz anderes Naturell tritt uns in Robert Maillarts Brücken gegenüber. Er duldet keinen Überfluss, er gestaltet Kraft. Die Brücken, meist in abgelege-nen Tälern der Schweiz errichtet, bestehen fast ausschließlich aus tragenden Teilen. Ihre Eleganz ergibt sich aus dem Zweck und verwirft ihn zugleich. Sie steht im Gegensatz zu einer ebenso opulenten wie tumben Natur, die in den Jahrzehnten, die seit dem Bau vergangen sind, damit begonnen hat, Maillarts Wer-ke zu verdauen.

Autobiografische Schriften wie die von Sullivan und Maillart sind nachzuvollziehen, nicht zu entziffern. Es gehört viel Freiheit dazu, sich dieser Freiheit zu öffnen. Die beiden Studien verzichten auf jeden Kommentar aus dem Off. Sie zeigen die Bauwerke in ruhigem Rhythmus, in großer Konzentration, lassen sie ausreden. Zu hören ist eine Menge. Ich kann mich übrigens nicht an einen anderen Film mit solch einem brillanten Originalton erinnern. Er könnte ein Stück von Luc Ferrari sein.

Ich gebe zu, dass mich früher Architektur nicht einen Deut interessiert hat. Die schönsten Gebäude waren für mich die, die sich unsichtbar zu machen wissen. Aber man kommt ja herum im Kino von Heinz Emigholz und sieht ein, dass es, außer den uns wuchtig vor die Füße gepflanzten Monumenten auch stillere Bauwerke gibt, errichtet von Künstlern, die selbst bedacht haben, dass wir diese Gebäude womöglich einmal betreten oder sie sogar umrunden. Das sind, habe ich gelernt, Regisseure des Raums.

Der Beitrag erschien zuerst im Katalog der Viennale; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung. Das Wiener Filmfestival zeigt vom 28. bis 30. Oktober »Der Zynische Körper« und alle bisher veröffentlichten Teile von »Photographie und jenseits«.

Gerade erschienen: Heinz Emigholz: Normalsatz - Siebzehn Filme. Martin Schmitz, Berlin 2001, 336 S., DM 36

Veranstaltungen zum Erscheinen des Buches: 1. November, 20.30 Uhr, Buchhandlung pro qm, Berlin; 6. November, 19 Uhr, Kino Arsenal, Berlin, Vorführung von »Die Wiese der Sachen«, anschließend Empfang.