»Ussama wird zum Idol«

Ein Gespräch mit Rangin Dadfar-Spanta über die politische Zukunft Afghanistans

Markiert der 11. September den Anfang vom Ende der Taliban-Herrschaft?

Die Gruppe der Taliban setzt sich aus vier Elementen zusammen, nämlich Freischärlern aus zahlreichen arabischen und mittelasiatischen Staaten unter der Führung Ussama bin Ladens, aus ehemaligen Religionsschülern aus dem pakistanischen Gebiet, pakistanischen Armeeangehörigen und Geheimdienstagenten sowie aus den Resten ehemaliger Mudschaheddin-Gruppen. Diese vier Fraktionen waren mit dem Einverständnis der US-Administration bewaffnet worden. Vor dem 11. September gab es Spannungen unter den Gruppen und Fraktionen. Doch waren sie nicht so stark, dass man von einer Gefährdung der Taliban-Herrschaft reden könnte.

Stimmen Sie also denen zu, die im Angriff auf Afghanistan die ultima ratio zum Sturz des Regimes und zur Beseitigung des islamistischen Terrors sehen?

Nein. Dieser Krieg schafft, so wie man ihn führt, mehr Probleme als Lösungen. Dieser Krieg verursacht weitere Zerstörungen und weiteres Leid der Zivilbevölkerung, und er verstärkt die Hungerkatastrophe. Fast sieben Millionen Menschen sind in Afghanistan von Hilfslieferungen humanitärer Organisationen abhängig, die jetzt nicht mehr arbeiten können.

Zweitens wird der islamistische Terrorismus zumindest in den islamischen Ländern außerhalb Afghanistans verstärkt aus diesem Krieg hervorgehen. Der Terroristenführer bin Laden und seine Bande werden unabhängig davon, ob er überlebt, und unabhängig davon, ob al-Qaida zerschlagen wird, als mythische Erscheinung und als Vorbilder für die Jugendlichen vieler islamischer Länder an Einfluss gewinnen. Bin Laden ist schon heute die populärste Persönlichkeit im arabischen Raum.

Meine These ist, dass die amerikanischen und pakistanischen Geheimdienste ihn bewusst als mythische Gestalt, als antikommunistischen Krieger, aufgebaut haben. Durch seine Verfolgung und seinen möglichen Tod schafft der Westen jetzt ungewollt ein antiwestliches Idol, anstatt diese Figur zu demontieren und zu entmystifizieren.

Mit dem Mythos bin Laden dürfte auch der Antisemitismus gestärkt aus dem Krieg hervorgehen.

Ja. Ein zentraler Bestandteil der Ideologie bin Ladens und seiner Organisation ist die Behauptung, eine von Juden beherrschte weltlich-westliche Kultur wolle die islamische Welt beherrschen und zerstören. Hinter jeder Misere der islamischen Länder stehe das Weltjudentum. Wenn bin Laden von seinen fiktiven oder realen Gegnern zum Hauptfeind erklärt wird, so wird auch sein Antisemitismus weitere Anhänger finden.

Sie vertreten acht Gruppen aus einem Spektrum, das von demokratischen Sozialisten über feministische Organisationen bis zu Liberalen reicht. Ein Konsens besteht über die Geltung demokratischer und menschenrechtlicher Prinzipien in der afghanischen Nachkriegsgesellschaft. Ist auch die Ablehnung des Krieges Konsens?

Die Ablehnung des Krieges ist die Mehrheitsmeinung. Weil die zerstörerische, Menschen verachtende und fundamental zivilisationsfeindliche Politik der Taliban keine Möglichkeit eines zivilen Widerstandes und einer auch nur minimalen Demokratisierung für die Gesellschaft übrig gelassen hat, sehen jedoch auch einige die militärische Zerschlagung der Taliban-Herrschaft als Chance, die unter bestimmten Bedingungen die Demokratisierungsperspektive eröffnen würde.

Die Mehrheit von uns ist dagegen der Meinung, der Konflikt sei nicht mit den Streitkräften der Vereinigten Staaten und Großbritanniens lösbar. Afghanistan benötige vielmehr eine international zusammengestellte Friedenstruppe unter der Leitung der Vereinten Nationen, die die Entwaffnung der bewaffneten Gruppierungen, und zwar sowohl der Taliban als auch der Nordallianz, mit dem Aufbau ziviler Strukturen, der Minenräumung und dem Entwurf einer demokratischen Verfassung für Afghanistan verbindet. So kann man dem Terrorismus und dem Antisemitismus die soziale Basis nehmen, bin Laden entmystifizieren und mit weniger Zerstörung den Frieden und den Wiederaufbau in Afghanistan bewerkstelligen.

Als Monarchie unter dem ehemaligen König, als »multiethnische« Republik? Oder droht ein jugoslawisches Szenario?

Die weitere Destabilisierung der Region birgt die Gefahr in sich, dass einige Staaten auseinanderfallen und interethnische Spannungen zu neuen Kriegen führen. Nicht nur Afghanistan, sondern auch Pakistan ist gefährdet, wenn es so weitergeht. Die pakistanischen Machthaber versuchen, das Dasein der Nation mit religiösen Mythen zu begründen, während neben den islamistischen und islamischen Strömungen eine Fülle von tribalistischen irredentistischen Tendenzen in diesem Land existiert. So gesehen ist die Jugoslawisierung eine ernst zu nehmende Gefahr. Mit einem großen Unterschied: dass Pakistan eine Atommacht ist.

Die Allianz der Demokratie für Afghanistan setzt auf eine Republik und auf eine Rückkehr des Monarchen. Passt das zusammen?

In der aktuellen Notsituation stehen wir vor dem Problem, dass außer dem Ex-König keine Persönlichkeit, die als Integrationsfigur dienen könnte, den Krieg und die Terrorherrschaft der letzten 22 Jahre überlebt hat. Darüberhinaus wurden die traditionellen Strukturen und Institutionen enorm beschädigt und der Aufbau moderner verhindert. Wir denken, dass der König in einer Übergangsphase als Chef der Übergangsregierung, die keine Monarchie sein darf, eine positive Rolle spielen kann, vorausgesetzt, dass die demokratischen Kräfte an dieser Regierung beteiligt werden und die Dominanz der bewaffneten Gruppierungen gebrochen wird. Es muss erst darum gehen, die Waffen zum Schweigen zu bringen und den Kriegerbanden und Warlords ihr Handwerk zu legen.

Wo in der jüngeren afghanischen Geschichte sehen Sie Anknüpfungspunkte für eine Republik?

Afghanistan hat eine fast hundertjährige Tradition der Aufklärung und Modernisierung; obwohl dieser Prozess nicht alle gesellschaftlichen Bereiche umfasst hat, konnte er doch einiges beeinflussen.

1921 wurden in Afghanistan die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit eingeführt, und die damalige Verfassung beinhaltete demokratische Elemente. Im gesamten 20. Jahrhundert haben wir Phasen konstitutioneller Bewegungen, und zwischen 1963 und 1973 fand ein Demokratisierungsprozess statt, in dessen Verlauf sich viele sozialistische, liberale und andere Bewegungen bilden konnten. Darüber hinaus gibt es in Afghanistan einige vormoderne Formen konsensualer Konfliktlösung, die immer noch eine Rolle spielen können. Hinzu kommen die afghanischen Flüchtlinge, die im Exil mit vielen demokratischen Normen und Traditionen vertraut wurden. All das macht uns Hoffnung auf ein demokratisches, friedliches Afghanistan. Aktuell geht es erst einmal darum, wie wir minimale Werte der Humanität, Zivilisation und Demokratie verankern können.

Rangin Dadfar-Spanta war Aktivist der afghanischen Studentenbewegung der sechziger und siebziger Jahre. Heute lehrt er in Aachen Politikwissenschaft und ist Sprecher der im Juni ins Leben gerufenen Allianz der Demokratie für Afghanistan.