Nanni Balestrinis »I Furiosi« in Stuttgart

Boygroup on Speed

Das Schauspielhaus Stuttgart bringt den Hool-Choral »I Furiosi« von Nanni Balestrini auf die Bühne. von

Ohrenbetäubend erheben sich die Choräle der Fans über den Rängen der Gegengerade. Soeben stimmen sie, rotschwarze Schals in den Händen, von ihren Stehplätzen aus einen neuen Gesang an: »Die Rotschwarzen sind wir, aber wer zum Teufel seid ihr? Wir vom Milan sind hier heute, für euch gibt's keine Gnade, Leute«, donnert es drohend zu uns herüber. Meine Sitznachbarin rutscht unruhig auf ihrem blauen Plastiksitz hin und her. Ob es uns nun an den Kragen geht?

Doch die Fans des AC Milan sind in Wirklichkeit Darsteller von »Die Wütenden - I Furiosi«, einem Theaterstück nach dem Roman des italienischen Schriftstellers Nanni Balestrini. Das Stadion befindet sich auf der Bühne des Stuttgarter Theaterhauses, wo das Stück in Koproduktion mit dem Staatstheater aufgeführt wird.

»I Furiosi« erzählt von den Rotschwarzen Brigaden, einem Fanclub, dessen Name nicht zufällig an die italienische Stadtguerilla erinnert. Sie sind die Ultras unter den Anhängern des AC Milan. Es geht um ihre Erlebnisse bei den Reisen zu diversen Auswärtsspielen, ihre Drogenexzesse und Prügeleien, aber auch um ihre Biografien. Als der Roman vor sieben Jahren herauskam, war er auch ein Kommentar Balestrinis zu einer Hetzkampagne gegen Fußballhooligans in Italien. Balestrini, der 1935 in Mailand geboren wurde und seit den frühen Sechzigern Teil der radikalen Linken in Italien ist, erzählt in »I Furiosi« vom ritualisierten Rebellentum der Hooligans. Frei von jeder sozialarbeiterischen Intention handelt der Text nicht zuletzt von Balestrinis Erstaunen darüber, dass die Jugendlichen nicht härter auf die Gewalt reagieren, der sie in der Gesellschaft ausgesetzt sind.

Für den Regisseur Sebastian Nübling war es zunächst ein »voyeuristisches Interesse an dem Milieu«, das ihn auf die Idee zur Inszenierung von »I Furiosi« brachte. Ihn beschäftigt die besondere Form der Gesellschaftskritik. »Was die Hooligans machen«, sagt er, »ist ein Hohn auf jede Effektivität. Freizeit wird nicht dazu genutzt, Arbeitskraft wieder aufzubauen, sondern die Energie wird verschleudert.« Es ist vor allem die politische Dimension des Buchs, die Nübling interessiert. Die Verschärfung polizeilicher Methoden, neue Polizeiknüppel, die Einschränkung der Reisefreiheit - all das sei zuerst an den Hooligans ausprobiert worden. Tatsächlich wurde das Schengener Abkommen schon mal im letzten Sommer anlässlich der Europameisterschaft ausgesetzt, und in diesem Jahr wurde dieselbe Maßnahme gegen die von Otto Schily als Polithooligans bezeichneten Globalisierungsgegner angewandt.

Doch wie setzt man die Sprache des Buchs in Szene, wie dramatisiert man einen Text, der atemlos, ohne Punkt und Komma durcheinanderruft, Geschichten erzählt? Ein Buch, das mit »Wir kommen zum Flughafen früh morgens waren wir losgefahren und wie immer waren eine Stunde später alle schon hammermäßig breit wie immer wenn wir im Zug im Bus fahren so ists halt so nach einer Stunde sind alle Leute fertig da gibts keinen mehr der klar ist das ist die allgemeine Dröhnung das passiert wenn die Abfahrt nicht nachts ist weil wenn du nachts losfährst kommst du da an und bist schon vorher dicht und dann wirds immer schlimmer« anfängt und diesen Sound bis zum Ende durchhält?

Der ursprünglich monologische Text wurde für die Bühne aufgesplittet. Acht Hauptdarsteller wechseln sich teilweise von Halbsatz zu Halbsatz ab. Manche Passagen werden von drei, vier oder von allen Protagonisten gleichzeitig gesprochen. Hektisch, bisweilen mit einem hysterischen Tonfall, reden sie von ihren Heldentaten, äffen Polizeisirenen und andere Geräusche nach. Picchio, die abgedrehteste Figur des Romans, wird von zwei Schauspielern gleichzeitig dargestellt. Die Bühne ist eine Mischung aus Spielfeld und Zielscheibe - der Anstoßpunkt ist das Zentrum eines Fadenkreuzes. Hier erzählen die Charaktere von den Auswärtsspielen in Brüssel, Udine und Genua. Wenn sie ihre Geschichten mit Gesten und Bewegungen unterstreichen, die von allen synchron ausgeführt werden, dann erinnert die Choreografie der Bühnentifosi an eine Boygroup auf Speed.

In einem der Monologe erzählt Falco, der die Gesänge der Fans dirigiert, von seiner Karriere in der Fußballarena. Während er spricht, tritt ein vierzigköpfiger Chor mit schwarzroten Schals und Fahnen hinzu, der die Schlachtrufe des AC Milan intoniert. Für einige Augenblicke herrscht eine Stimmung wie im Stadion. Dann erzählt Zigolo von seiner Entwicklung zum Linksradikalen und zum Ultra. Er berichtet von den sozialen Verhältnissen in seinem Viertel, von seiner Politisierung - und vom Reiz der Gewalt: »die vom Stadion hat kein Ziel ist reiner Selbstzweck es ist die reine Gewalt du hast in dem Moment keine Ziele es gibt zwei entgegengesetzte Gruppen die sich im Namen von Nichts bekämpfen (...) du bist nie so lebendig gewesen wie in dem Moment.« Die Furiosi setzen dem kapitalistischen Schweinesystem, das sie wie Schweine behandelt, ihre Gewalt entgegen. Eine sinnlose, ziellose Gewalt, mit der sie auf die Brutalität der abstrakten gesellschaftlichen Verhältnisse reagieren, deren Widersprüche nicht personalisierbar sind.

Gegenüber der Zuschauertribühne erheben sich die Ränge des »Fanblocks«, ansonsten kommt das Stück ohne Kulisse aus. Die Schauspieler schaffen es jedoch, eine räumliche Dichte zu erzeugen. Wenn sie von ihren Auseinandersetzungen mit den Beamten am Flughafen erzählen oder davon, wie sie den Durchgang eines Zuges blockierten, dann bilden sie mit ihren Körpern Skulpturen, drängen sich aneinander, keifen, knurren, weichen von unsichtbaren Schlägen getroffen zurück, spielen Hooligans, Wachhunde und Polizeibeamte zugleich. Am Schluss treten die sieben Protagonisten des Theaterstücks noch einmal zusammen mit dem Fanchor auf. Eine mit Hundemasken bekleidete, gesichtslose Masse, die in ihrem Kampf um Subjektivität auf der Stelle tritt, keinen Schritt vorwärts kommt, während eine süffisante Lautsprecherstimme - von der Hymne der Tifosi Rossoneri überlagert - die letzte Episode eines Gewaltexzesses erzählt.

Doch so eindrucksvoll diese letzten Szenen auch sind: Der Wechsel der erzählerischen Perspektive von den Darstellern zu der Stimme aus dem Off erlaubt es dem Publikum, eine Distanz aufzubauen - während der Roman den Leser ganz in das Geschehen hineinzieht. Der St. Pauli-Fan, der nach dem Ende der Aufführung im Foyer steht, zeigt sich jedoch zufrieden. Vereinzelt hört man noch Rufe: »Rossoneri siamo noi.«

»Die Wütenden - I Furiosi«. R: Sebastian Nübling. Schauspielhaus Stuttgart