Tagebuch, 1. Teil

Lieber Schreibtisch als Bett sein

Erster Teil des Tagebuchs

Montag, 22. Oktober

Das Dokumentarfilmfestival in Leipzig war super; sechs Tage lang von morgens früh bis abends spät Dokumentarfilme geguckt. Gute Zeit mit schönen Filmen, vielen Leuten und ohne depressive Löcher. K. fragte immer, bevor wir schlafen gingen: »Wolln wir noch ein bisschen Krieg gucken?«

Jedes Jahr ist das Dokumentarfilmfestival super und das Schreiben darüber völlig deprimierend. Jedes Jahr versucht man dem zuständigen Filmredakteur klar zu machen, dass es Unsinn ist, nur 200 Zeilen über sechs Tage Filmegucken in Leipzig zu schreiben, jedes Jahr bekommt man gesagt, man könne es im nächsten ja anders regeln, jedes Jahr ist es im nächsten Jahr eben nicht anders geregelt. Dokumentarfilme haben schlechte Karten. Filmredakteure sind auf Spielfilme fixiert.

Leipzig war einerseits Urlaub - tausend Filme aus fernen Ländern -, andererseits Simulation eines Arbeitsalltages, den man zu Hause nur selten so konzentriert hinkriegt, weil das Gewohnte lähmt und das Erwartete geschieht. Dann hatte K. gesagt, grad sei jemand gestorben und da müsse noch ein Nachruf auf die Seite und man hatte noch weniger Platz.

Kettenrauchend hatte ich in der Redaktion gesessen und mit dem gebotenen Masochismus alle Witze rausgekürzt. Am Ende war ich todunglücklich, mir war schlecht, ich beschwerte mich beim stellvertretenden Ressortchef, und er sagte, ich würde 220 Zeilen, also 6 600 Zeichen bezahlt kriegen, und irgendeine Essensquittung könne ich auch noch abrechnen. In einer Woche hatte ich ungefähr 350 Mark verdient. Das trampelte so als Zwangsgedanke in meinem Kopf herum, während ich die Kochstraße runterfuhr, am Plus-Laden vorbei. Dann drehte ich um und kaufte mir für 199 Euro einen Sonderangebotsdrucker. Hatte ich schon immer mal machen wollen.

Zuhause war P. auf dem Anrufbeantworter. Er sagte, er wolle nun doch nicht einziehen, er wolle in Göttingen bleiben, er habe sich auch gerade neu verliebt usw. Das gab mir den Rest: Vor einem Jahr hatten wir beschlossen zusammenzuziehen, sobald A. ausgezogen sei. Vor zwei Wochen hatte er mich noch besucht. Alles war klar gewesen. Und nun sitze ich mit meiner bescheuerten 5-Zimmer-Wohnung allein da. Natürlich kann ich P. verstehen. Wir kennen uns ja seit der Schulzeit. Vielleicht wäre unser Zusammenleben völlig daneben gegangen, aber es ist doch ein Schlag ins Gesicht.

»Wenn ich 18 wäre, hätte ich auch PDS gewählt. Einfach so aus daffke«, sagt der Chef des Abgeordnetenlokals Ständige Vertretung im Fernsehen.

Dienstag, 23. Oktober

Spazierengehen: In der Mittenwalder Straße, neben einem dieser Bäume, vor dem Blumenladen, dessen Betreiberin Feng-Shui-Kurse anbietet, steht eine ungefähr zwei Meter hohe Sonnenblume. Schräg gegenüber sind die Kacheln vor dem Fenster des zweiten Bäckerladens in der Straße zerschlagen. In den Büschen, auf dem breiten Mittelgrünstreifen der Gneisenaustraße liegen sieben Fahrradvorderräder unterschiedlicher Größe. Im Umkreis von einem Kilometer liegen hier garantiert 100 Fahrradleichen in unterschiedlichen Stadien der Verwesung. Alle Briefkästen im Treppenhaus sind auch kaputt gehauen. Irgendein Mieter hat einen Zettel hingehängt, auf dem was von »Halbstarken« steht und dass man nicht jedem aufmachen solle, der was von »Reklame, bitte« sagt.

Donnerstag, 25. Oktober

Das Schlafzimmer der Vormieterin glänzt orange und ist wie eine Höhle. Auf dem honigfarbenenen Parkett klebten so kleine, gummiartige Sachen, die ich vom Boden kratzte. Im Klebrigen klebte noch ein Haar. Ich rollte ein Kügelchen daraus und stopfte es in die Zigarette. Das eine schmeckte nach Hasch mit Dreck; das andere nach Gummi. Vielleicht war's auch Gummi mit Hasch.

Plötzlich wollte ich das Schlafzimmer streichen. Fünf Liter Farbe bei »Wand & Boden«. Der Mann an der Kasse sagt, wir heißen nicht mehr »Wand & Boden«, sondern »Teppich Fricke«. Sonst bleibe alles beim Alten. »Sie müssen sich das so vorstellen wie beim Heiraten. Da verliert ja auch einer den Namen und bleibt der gleiche.«

Der Vorteil an Nordzimmern ist, dass die Farben farbechter sind. Alle Möbel sehen besser aus. Wahrscheinlich stellt man beim Möbelumräumen Familienkonstellationen nach. Man will lieber Schreibtisch als Bett sein.

Dienstag, 30. Oktober

Ich spiele Musik, die der Vormieterin, mit der ich die letzten zwei Jahre kaum gesprochen hatte, gefallen könnte, um die Geister in den neuen Zimmern zu besänftigen. Eigentlich gefällt mir die Musik nicht wirklich. Auf RTL2 gibt's einen Poknutschwettbewerb. Die Männer knien hinter den Frauen, die Tangahöschen tragen. Es geht darum, große Knutschflecken zu machen. Ein schmaler Typ in schwarzem Leder leckt die Frau mit größter Begeisterung. Lecken ist vermutlich die eine, Knutschfleck machen die andere Disziplin. Es ist zu bescheuert.

B. hat erzählt, S. sei letztes Jahr mit seiner neuen Freundin nach Hamburg gefahren, um ein paar Bücherkisten von früher abzuholen, die noch in irgendeinem Dachboden herumstanden. Seine Freundin fuhr, S. kann ja nicht fahren. Dann waren sie da. Es hatte geregnet, und er war so genervt, dass er nicht nach oben ging, um seine Sachen zu holen. Er hatte sich total in sein Angewidertsein über die Anstrengung des Nach-oben-Gehens hineingesteigert. Sie fuhren dann ohne seine Bücher wieder nach Hause.

Samstag, 3. November

Grauer Nachmittag. Zwei Stockwerke unter mir schrie wieder die Alkoholikerin, aber man hörte sie gut. Neben dem Schlafzimmer gab's Heavy Metal.

»Täglich verhungern 20 000 Kinder. In welchem egomanischen Desaster bewegen wir uns eigentlich?« (taz-Leser Peter Staimmer, Berlin)

Sonntag, 11. November

Wenn man mit Leuten rumsteht, die man noch nicht so kennt, gibt es oft diese klassischen Fragen: »Schreibst du noch woanders als in der taz?«, und vor allem: »Kann man denn davon leben?« Man hasst diese Fragen, die eher so smalltalkmäßig gestellt werden. Man kann's nicht mehr hören. Man möchte die Sätze in einem quäkenden Tonfall wiederholen. Kann-man-denn-davon-leben? Das zielt natürlich ins Zentrum der eigenen Lebensproblematik. Wenn man ehrlich wäre, müsste man antworten: nein, und: Man kann nicht davon leben. Die Schulden wachsen mit jedem Jahr, und richtigen Urlaub gab's zuletzt vor drei Jahren.

Andererseits lebt man seit elf Jahren davon und weiß auch, dass »man« davon leben könnte, wenn man disziplinierter wäre, wenn man das Schreiben nicht so persönlich nehmen, sondern eher als Dienstleistung sehen würde. Andererseits hat man dazu nun überhaupt keine Lust, möchte nicht Teil eines Kulturbetriebs sein, den man aus biografischen Gründen als kulturbourgeoise Veranstaltung von und für Töchter und Söhne aus besserem Hause ablehnt.

Als Arbeiterkind sozusagen hatte man sich seit dem Gymnasium eher fremd und nicht zugehörig gefühlt, die Eltern hatten einen ständig darauf hingewiesen, dass man eigentlich nicht dahingehört, dass man ihnen dankbar sein müsse, dafür, dass man auf's Gymnasium durfte. Man war mit Vertriebenengeschichten aufgewachsen, die Mutter war psychisch krank und die meiste Zeit in Kliniken, der beste Freund hatte sich umgebracht, als man 19 war, man hatte also einen ganz anderen Background als die anderen.

Teilweise war es von Vorteil gewesen, dass man mit einem Sprung in der Schüssel nach Berlin gekommen war, man war straighter als die Kommilitonen. Teilweise von Nachteil, man nahm die Dinge des Studiums viel zu existenziell und kriegte natürlich seinen Abschluss nicht auf die Reihe. So begann man bei der taz zu schreiben. In der eigenen Vorstellung stand die taz für die 68er-Subkultur. Man hatte sie schon mit 18 abonniert gehabt und war sehr stolz, da schreiben zu dürfen.

Eine Weile war das großartig, man fühlte sich zugehörig und wollte sogar Redakteur werden, weil die Kollegen der Berlin-Kultur (man schrieb nicht für die taz, sondern für die Berlin-Kultur), den offiziellen Kulturbetrieb nicht ausstehen konnten, lustig dagegen anschrieben, viel herumexperimentierten und mit der überregionalen Kulturredaktion zutiefst verfeindet waren. Diese Feindschaft hatte die taz damals gut gemacht. Und nach der Arbeit gab's manchmal Hasch. Das war super, auch wenn man danach nichts mehr auf die Reihe kriegte.

Eine Weile lief's dann prima und dann halt nicht mehr so. Man wird älter, lebt immer noch vom Journalismus im Kulturbetrieb, der einem fremd ist, obgleich man mit drin steckt, man schreibt immer noch für die taz, weil man da halt zu Haus ist und einem die anderen Zeitungen suspekt sind und weil man viele, die bei der taz arbeiten, nett findet, und weil man ab und an ein Lob kriegt von Leuten, die in ähnlich unsicheren bis verpeilten Zusammenhängen leben. Gleichzeitig kotzt einen das eigene Schreiben immer öfter an, das Kettenrauchen am Schreibtisch macht einen fertig, und viele Artikel traut man sich gar nicht mehr, noch mal zu lesen.

Sowas denkt man, wenn einen jemand fragt, ob man davon leben könnte, und es dauert ein bisschen, bis man die Endlosschleife im Kopf durch ein entschlossenes Ist-doch-alles-prima wieder gestoppt hat. Und der Fragende, der mit seiner Frage auf irgendsoeinen Unsinn zielte, wie: Geht das finanziell, wenn man »kreativ« ist und irgendwie »selbstbestimmt«, »unentfremdet« und außerhalb der Hierarchien arbeitet, guckt einem blöde ins Gesicht.

Montag, 12. November

»In England gab es bis 1971, als Ärzte noch Heroin verschreiben durften, 5 000 Abhängige. Heute, in der Illegalität, sind es 500 000. Da lacht der Kolumbianer.« (Dope am Sonntag)

»Emil & die Detektive« für den tip. Zwei Kolleginnen Anfang 30 in Kostümen mit lächerlichem Paillettenmüll drängelten sich vor und bellten die nette Stella-Pressefrau an, sie wollten gefälligst sofort ihre Pressekarten haben.

Das Café Einstein, leer am frühen Abend. »Ich hätte gern ein Kristallweizen.« - »Oh, das ist was Feines!« Paar Meter weiter saß Matthias Greffrath. Ich hatte ihn erst gar nicht erkannt, weil er so frisch aussah und sonnenbraun. Karo ging zu ihm hin, beide unterhielten sich, und als er aufstand, um mich zu begrüßen, war ich etwas irritiert und hielt ihn erst für Kapielski.

Später dichtete der dichtende Tagesspiegel-Verkäufer was von der Koalitionskrise usw. Ein junger Mann, braune kurze Haare, Anfang 30, freundlich entschlossen wirkend. Sein Kollege, der singende Tagesspiegel-Verkäufer, hat eher die Kreuzbergroute.

Nächste Woche Teil zwei: »Sich peinlich fühlen, weitergehen«