Die Meister der Krise

Drei Ausschnitte aus dem neuen Buch von Gerhard Scheit über den Zusammenhang von Vernichtung und Volkswohlstand

»Uns eint in Wahrheit das Nichts.
Darum gehört uns ALLES.«
Elfriede Jelinek: »Wir, Herren der Toten«

Es geht um einen einzigen Gedanken, der auch in einem einfachen Satz ausgedrückt werden kann: Der Wohlstand in den Nachfolgestaaten des Nationalsozialismus und darüber hinaus - aber dadurch vermittelt - der ganzen westlichen Nachkriegswelt hat die Vernichtung zur Voraussetzung, die von den Deutschen organisiert worden ist.

Der Gedanke ist keine These im gewöhnlichen Sinn: Er lässt sich nach den Maßgaben des herrschenden Begriffs von Wissenschaft nicht »beweisen« - eine notwendige Folge seiner Negativität. Verstanden als Hypothese eines kausalen Zusammenhangs wäre er nur beweisbar, wenn sich Totalität als Versuchsanordnung (wie in einem naturwissenschaftlichen Experiment) rekonstruieren ließe; wenn man also wissen könnte, was gewesen wäre, wenn ... Da das unmöglich ist, hat der Gedanke lediglich eine einzige positive Bedeutung, die zu beweisen nicht Sache der Wissenschaft oder des Schreibens sein kann - und heute vielleicht schon als Inbegriff von Wahnwitz gilt: Dass ein Leben ohne Kapital und Krise, ohne Staat und Vernichtung, und darum auch ohne die Meister der Krise, nicht nur möglich, sondern notwendig ist.

Wenn es im Folgenden scheint, als würden dennoch wissenschaftliche Beweise gesucht und zu diesem Zweck sogar empirische Fakten beigebracht, handelt es sich also allein darum, etwas nahe zu legen: den Zusammenhang von Menschenvernichtung und Volkswohlstand unmöglich zu machen, die Wahrheit des Gedankens im doppelten Wortsinn zu realisieren.

Zur Logik der Krise

Die Krise ist eine Konstellation, worin die Identität des Ganzen sich gewaltsam geltend macht. Insofern ist die kapitalisierte Gesellschaft ein Zusammenhang von Menschen, der die Krise systematisch hervorbringt.

Die Krise ist damit keine Sachlage, die einem selbst äußerlich sein könnte. Sie existiert nicht unabhängig vom Bewusstsein, das die Menschen von ihr haben. Denn dieses Bewusstsein ist seinerseits ein Moment jener Identität, die sich in der Krise unnachgiebig durchsetzt - und nicht etwa deren Widerspiegelung, wie der vulgärökonomische Verstand meint. Als solches verweist es auf die Macht, die mit aller Gewalt für das falsche Ganze einzustehen hat: den Staat.

Der Begriff ist also mit gutem Grund doppeldeutig - und die Formulierung: eine Krise werde »bewältigt«, bestätigt diese Doppeldeutigkeit. Zum einen bezeichnet er drohende Nichtidentität (als Zerfallstendenz) - zum andern Wiederherstellung von Identität (auf erweiterter Basis); ob darin eine Entscheidungssituation liegt - Krise kommt vom griechischen Wort krinein, das scheiden bedeutet - bleibt so lange offen, wie der Kreislauf des Ganzen, der sich in der Krise bisher nur vollendet hat, nicht unterbrochen wird. Um eine Situation der Unterscheidung aber handelt es sich unbedingt.

Ist die Krise auch der Punkt, an dem Marx gerade in der Verselbständigung ökonomischer Vorgänge den Zusammenhang des Ganzen vor Augen führen kann, so sieht er dennoch von den praktischen Möglichkeiten ihrer Bewältigung und damit vom Staat weitgehend ab. »Dass die selbständig einander gegenübertretenden Prozesse eine innere Einheit bilden, heißt ebenso sehr, dass ihre innere Einheit sich in äußeren Gegensätzen bewegt. Geht die äußerliche Verselbständigung der innerlich Unselbständigen, weil einander ergänzenden, bis zu einem gewissen Punkt fort, so macht sich die Einheit gewaltsam geltend durch eine - Krise.«

In welcher Weise die Einheit sich geltend machen und welche Gewalt dabei ausschlaggebend sein kann, wird nicht weiter ausgeführt (obwohl Marx das Moment der Gewalt immer wieder betont), und historisch gesehen war eine solche Kritik der ökonomischen Politik auch noch kaum denkbar, soweit der Rede vom Nachtwächterstaat eine gewisse Realität zukam und der Souverän sich tatsächlich über den Schutz des Eigentums hinaus nur wenig um die Wirtschaft kümmerte.

Stattdessen kehrt der Kritiker der politischen Ökonomie zum dialektischen Ansatzpunkt der Krise zurück: In dem der Ware immanenten Gegensatz »von Gebrauchswert und Wert, von Privatarbeit, die sich zugleich als unmittelbar gesellschaftliche Arbeit darstellen muss, von besondrer konkreter Arbeit, die zugleich nur als abstrakt allgemeine Arbeit gilt, von Personifizierung der Sache und Versachlichung der Personen«, ist bereits die Möglichkeit - »aber auch nur die Möglichkeit« - der Krisen gesetzt. (1)

Wenn nun die Krise darin besteht, die Einheit dieses Gegensatzes gewaltsam zur Geltung zu bringen, die Identität von Identität und Nichtidentität zwanghaft herzustellen, dann darf sie auch nicht auf das real Abstrakte, das überall mit sich identisch ist, reduziert werden; dann kann die Krise keineswegs unabhängig von jenem real Konkreten, das Kapitalverhältnis nicht losgelöst von seinen nicht identischen Voraussetzungen begriffen werden - obgleich diese Voraussetzungen und jenes real Konkrete immer nur durch das real Abstrakte und das identische Kapitalverhältnis vermittelt sind. (2)

Die Frage, mit welchem Bewusstsein vom Konkreten - von Gebrauchswert und besonderer Arbeit - abstrahiert, in welcher ideologischen Gestalt die »Sache« personifiziert wird, zielt darum selber auf ein Konkretes im Ideologischen. Als Frage nach den Unterschieden im falschen Ganzen ist sie mit dem Hinweis auf dessen Identität nicht erledigt. Radikalität verlangt Differenzierung.

So wenig irgendein Konkretes das Wahre oder Echte sein kann, auf das im Gegenzug zur Abstraktion positiv zurückzugreifen wäre, so wichtig der Gedanke (der den frühen Georg Lukács mit dem späten Theodor W. Adorno verbindet), dass Erfahrung im Negativen und Erkenntnis als Kritik überhaupt nur möglich sind, wenn jenes Nichtidentische in der Abstraktion eben nicht verschwindet. Gegen eine Theorie gewendet, der alles eins ist, weil sie vor allem anderen vom physischen Leiden der Opfer abstrahiert, eröffnen allein Erfahrung und Kritik, die im »quälbaren Leib« (Bertolt Brecht) ihren ständigen, nicht aufhebbaren Bezugspunkt haben müssen, worin die Gewaltsamkeit besteht, mit der die Einheit in der Krise geltend gemacht wird.

Die oberste Instanz der Gewalt ist aber der Staat. Seine Souveränität ist so allgemein wie das Kapitalverhältnis. Anders als bei dessen Fetischismus, der im Logisch-Abstrakten der Wertform steckt, erschließt sich Ideologie hier jedoch im Historisch-Konkreten - möglich allerdings nur durch die Kritik jener fetischistischen Form. Denn Souveränität wird letztlich durch die von vornherein gegebene Möglichkeit der Krise konstituiert - in Carl Schmitts apologetischer Diktion: durch den »Ausnahmezustand«. Die Kritik der Warenform (von der Schmitt begreiflicherweise nichts wissen will) ist zwar die Bedingung dafür, die Macht radikal in Frage zu stellen, die das Monopol auf die gewaltsame Durchsetzung dieser Form beansprucht - aber die Staatsmacht geht darum in der Warenform so wenig auf wie der Gebrauchswert im Tauschwert.

Für die Darstellung bedeutet das die so gut wie nicht zu meisternde Aufgabe, die Logik des Kapitals und die Geschichte des Staats jederzeit als einen einzigen, unauflösbaren Zusammenhang zu begreifen - ohne sie entweder als Logisch-Abstraktes oder Historisch-Konkretes kommensurabel zu machen, ohne die Nichtidentität in der Identität verschwinden zu lassen.

Der Wert ist immer und überall derselbe - mit sich selbst absolut identisch (Differenz ist allein quantitativ möglich); und er kann überhaupt nur als diese absolute Identität auf den Begriff gebracht werden; seine einzige Bestimmung liegt darin. Der Staat entspricht zwar seinerseits solcher realen Abstraktion und ist insofern immer und überall der gleiche; untrennbar davon aber - also gerade in seiner Allgemeinheit - lässt er sich nur als ganz bestimmter begreifen, das heißt: im Zusammenhang, in dem er mit seinesgleichen steht und worin er sich unterscheidet.

So ist es ein- und dasselbe Kapitalverhältnis, das überall in die Krise gerät, doch gerät es überall auf je verschiedene Weise in die Krise, und darüber entscheidet nicht zuletzt, welches Bewusstsein von Krise und Krisenbewältigung das Verhältnis zum Staat bestimmt und die Menschen zur Nation formiert. So wären nicht nur ganz allgemein die Warenbesitzer mit dem Staat in Beziehung zu bringen - unter dem Gesichtspunkt: Was ist eine Nation? -, sondern genau in diesem Punkt die Staaten zueinander ins Verhältnis zu setzen. Also: Was ist deutsch?

Das Unerklärliche erklären

Den Juden gegenüber stellt sich - so die Dialektik der Aufklärung - »die Harmonie der Volksgemeinschaft automatisch her«. Nirgendwo aber - und vor dieser Erkenntnis schreckten Max Horkheimer und Adorno wirklich zurück - stellte sich diese Harmonie so automatisch her wie in Deutschland.

Das ist keine Erklärung der Shoah. Es kann eine solche Erklärung mit den Mitteln der Vernunft so wenig geben wie eine Begründung dafür, warum das falsche Ganze überhaupt existiert, das die Vernichtung möglich gemacht hat. Was aber sichtbar werden kann und soll: Dass dieses Ganze sie ebenso ermöglicht, wie es durch sie existiert - und in dieser Immanenz des Sinnlosen müssen die vernünftigen Mittel jedes Erklärungsversuchs notwendig sich selber in Frage stellen, muss die historisierende Erkenntnis die Wiederkehr des Immergleichen eingestehen und das aufgeklärte Bewusstsein den magischen Bannkreis, dem es nicht entkommen kann, reflektieren. »Zwischen Antisemitismus und Totalität bestand von Anbeginn der innigste Zusammenhang.« (Theodor W. Adorno/Max Horkheimer)

Wer jedoch nicht aufhört, das Ganze als das wie auch immer Wahre anzusehen und die Vernunft als das bereits Wirkliche zu behaupten, wird der Shoah - soweit sie nicht einfach verschwiegen oder als beliebige Katastrophe behandelt werden kann - stets einen nachträglichen Sinn geben, und sei es den, dass sie eben das Singuläre ist, von dem der Pluralismus sich abzugrenzen hat. So wird die Totalität zwangsläufig auf das »Totalitäre« reduziert, damit die Demokratie, die sie fortsetzt, vom »Ganzbrandopfer« ihre Legitimation abschöpfen kann.

Über diesen Ursprung der postfaschistischen Demokratie, dem wirklich das neuere Wort vom »Holocaust« auf ebenso frappierende wie unbewusste Weise entgegenkommt, soll also die Erkenntnis einer Art Binnenrationalität im deutschen Faschismus nicht hinwegtäuschen. Die Tötungsmaschinerie funktionierte natürlich nach überaus rationalen, d.h. Zeit und Aufwand sparenden Gesichtspunkten; Verfolgung und Massenmord zeugten ebenso rationale Nebeneffekte: Die »Arisierung« erleichterte die Modernisierung der deutschen Wirtschaft, die der Nationalsozialismus vorantrieb, und die Verwendung der für den Tod Bestimmten zur Zwangsarbeit brachte Extraprofite, die das deutsche Bürgertum gern kassierte.

Worin sich Massenmord und Vernichtungskrieg aber als »funktional« im Sinn der Totalität, als deren Fluchtpunkt und integrierendes Moment, erwiesen haben, da versagen solche Begriffe - nicht anders allerdings die Rede vom Irrationalismus. Hier unterscheidet sich ja auch der antisemitische Wahn, der eine Gesellschaft synthetisiert, radikal vom normalen Wahnsinn, dem ein Individuum verfallen kann: Dessen Dignität beruht darauf, dass sein »Irresein« fürs gesellschaftliche Ganze nicht funktional, sein Verhalten alles andere als systemkonform ist - das Individuum wird darum für gewöhnlich sofort isoliert und »behandelt«, um Störungen des Betriebs zu vermeiden; während die antisemitisch Wahnsinnigen und rassistisch Paranoiden überhaupt keine Würde bewahren, weil sie in ihrem Innersten vollkommen integriert und integrierend, funktional fürs krisenhafte Ganze, mit Staat und Kapital identisch geworden sind - und in entsprechenden Situationen zum gesellschaftlichen Leitbild werden. (Nur in dieser Hinsicht, weil er diese Unterscheidung nicht macht, erscheint Horkheimers und Adornos Begriff der pathischen Projektion fragwürdig und wäre vielleicht besser durch funktional-pathische Projektion zu ersetzen.)

Hebt der Gesamtzusammenhang die Rationalität ebenso auf wie ein davon separierbares Irrationales, resultiert er doch aus einer Krise, wovon er nicht mehr abgelöst werden kann; degradiert die zwecklose Akkumulation des Kapitals auch alles zum Mittel - und hebelt so dessen Begriff aus -, ist sie nunmehr zugleich und unabdingbar das Ergebnis einer von den Deutschen in Angriff genommenen Zwecksetzung: »Tod den Juden«. Solche »Kausalität« spottet der logischen Begriffe und ideellen Abstraktionen, die sich hinterher einstellen. Sie kann nicht »bewiesen« werden, und sie vollständig zu erkennen, wäre gleichbedeutend damit, die Bedingung ihrer Möglichkeit abzuschaffen.

Genau darin hat sich kritisches Denken zu bewähren: Diese Bedingung - im Nachhinein und von vornherein - zu denunzieren, solange sie besteht; gegen jeden Beschwichtigungsversuch das Schlimmste anzunehmen - das, was die Erfahrung der Opfer ausmacht, deren Tod so sinnlos war, wie das Ganze unwahr ist, das sich durch ihn hindurch reproduziert hat.

Für die Betreiber des Massenmords gab es eine wahnhafte Zwecksetzung im Sinne eines Erlösungsglaubens. Wenn die Juden ausgerottet werden, sind die Deutschen und mit ihnen die Welt erlöst; dieser irrationale Glaube war identisch mit einem ökonomischen Kalkül: Wenn der Krieg von Deutschland gewonnen wird, können alle Schulden beglichen werden und Volkswohlstand kann einkehren. Die letzte Phase des Kriegs, in der die Niederlage absehbar geworden war, zeigte schließlich, dass sich die Identität nicht mehr einfach zugunsten irgendeiner ökonomischen Rationalität auflösen ließ. Die Volksgemeinschaft zerbrach nicht, der Wahn blieb intakt.

Das Wirtschaftswunder, das den Verlierern des Zweiten Weltkriegs, soweit sie auf der richtigen Seite des ehemaligen Dritten Reichs lebten, einen nie gekannten Reichtum bescherte, ist also keineswegs nach den Vorstellungen des nationalsozialistischen Erlösungswahns realisiert worden - und gab ihm dennoch Recht. Es setzte seinerseits Rationalität und Irrationales in eins; entsprang dem kapitalistischen Ganzen und bejahte den deutschen Teil.

Hinter dem Rücken der Beteiligten hatte sich im bewusst geplanten Krieg die weltweite Krise des Kapitals »von selbst« erledigt. Der deutsche Wahn, die Krise durch Vernichtung zu bewältigen, wurde damit ungewollt, d.h. nicht von den Siegern des Kriegs, sondern vom automatischen Subjekt des Kapitals, bestätigt - und das in einem bisher unbekannten Ausmaß.

Die Anerkennung blieb, der Fetischform dieses »Subjekts« gemäß, anonym; weder Sieger noch Besiegte haben offen ausgesprochen, dass der Reichtum des Nachkriegsbooms, der die Stabilität der politischen Ordnung einschloss, nicht ein Geschenk des Himmels oder die Frucht der Arbeit, sondern ein Resultat von Vernichtungskrieg und Massenmord war. Nur dort, wo der deutsche Wahn weiterwucherte, in den Herzen der Besiegten, brach sich dieses Verdrängte plötzlich Bahn: »Wenn das der Hitler noch erlebt hätt'!« (3)

Kriegsverlierer und Vernichtungsgewinner

Der Nachkriegsaufschwung, die erstaunliche Regenerationsfähigkeit der westdeutschen und österreichischen Gesellschaft und die eminente Akkumulationsfähigkeit ihres Kapitals beruhten zunächst auf der Beute, die man im Zweiten Weltkrieg und im Massenmord an den Juden gemacht hatte, ebenso wie auf der Zwangs- und Sklavenarbeit, die vom Dritten Reich in diesem Zusammenhang organisiert worden war.

Mit dieser Beute konnten - ganz anders als nach dem Ersten Weltkrieg - in der Währungsreform von 1948 die übrig gebliebenen Schulden des Dritten Reichs gegengerechnet werden. Die deutsche Bevölkerung verlor dabei angeblich noch immer neun Zehntel ihrer Ersparnisse, der große Gewinn sprang jedoch dadurch (auch für sie) heraus, dass das industrielle Sachvermögen zum vollen Wert in die DM-Eröffnungsbilanz eingesetzt werden konnte. Und dieses Sachvermögen war durch den einzigartigen Investitionsschub des Nationalsozialismus, durch Aufrüstung und Krieg, beträchtlich gesteigert worden.

Mit diesem Investitionsschub war auch eine ungemein erfolgreiche Bildungsoffensive des Nationalsozialismus einhergegangen, die in Zusammenhang mit dem Ausbau des Sozialstaats (Ehestandsdarlehen, Kindergeld, Gesundheitsfürsorge, Altersversicherung...) eine breite Schicht von Facharbeitern hervorgebracht hatte. Sie ermöglichte zunächst unter den besonderen Bedingungen des deutschen Angriffskriegs einerseits Rationalisierung der Produktion und andererseits Zwangsarbeit auf hoher technologischer Grundlage - und bald nach der Niederlage schließlich den wirtschaftlichen Aufschwung.

Mit dem »System Speer« im Rüstungsministerium kam ein neuer Typus von Wirtschaftsführer hinzu: der des jungen, selbstverantwortlich handelnden Managers (»Speers Kindergarten«), der auch in der Zeit des Wiederaufbaus nach 1945 weitgehend auf seinem Posten blieb. Es ist allgemein bekannt, dass die Bundesrepublik Deutschland beim Wiederaufbau in hohem Maße auf die alten Funktionseliten, die schon dem NS-Regime gedient hatten, zurückgriff; weniger bekannt ist, dass sie als homogene Arbeitsgesellschaft - d.h. als Einheit von Eliten, Angestellten und Arbeitern - nur darum so gut funktionierte, weil ihr die Volksgemeinschaft zugrunde lag. Denn die nationalsozialistische Verbesserung der Bildungschancen ist nicht von dem Interesse zu trennen, die Klassengesellschaft als Volksgemeinschaft, den Obrigkeitsstaat als Volksstaat zu realisieren.

Wenn der Nationalsozialismus, wie Horkheimer sagt, die Krise für die Dauer des ewigen Deutschlands hypostasierte, konnte davon die Nachkriegsentwicklung den größten Nutzen ziehen, sie gehört eben auch dem verewigten Deutschland an. Der Raub von Rohstoffen, Gold und Lebensmitteln in kaum berechenbarem Ausmaß und der Einsatz von sechs Millionen Zwangsarbeitern, zwei Millionen Kriegsgefangenen und über einer Million KZ-Häftlingen waren die Voraussetzung dafür, dass Deutschland sich nach 1945 weiter modernisieren konnte. Vorbereitung und Durchführung des Vernichtungskriegs legten das Fundament für den Nachkriegsboom. Der Volkswagen, zärtlich Käfer genannt, in dem der Wohlstandsbürger mit Frau und Kind durchs Wirtschaftswunderland kurvte, war bekanntlich im Dritten Reich geplant worden: mit »Raum für zwei Soldaten, ein MG nebst Munition« (Ferdinand Porsche).

Gerade auf dem Höhepunkt und in der Endphase des Kriegs, unter dem wachsenden Druck der drohenden Niederlage mit dem totalen Feindbild der »Weltverschwörung des Judentums« vor Augen - das zur selben Zeit in den Vernichtungslagern in die Tat umgesetzt den Druck der drohenden Niederlage nur noch steigerte -, unter den Bedingungen also des totalen Vernichtungskriegs setzten die deutsche Industrie und die deutsche Arbeitsgesellschaft ihre entscheidenden innovativen Kräfte frei und realisierten die für die Nachkriegsentwicklung ausschlaggebende Rationalisierung (die vor dem Krieg noch durch unproduktive Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gebremst worden war).

Ab 1942 - zeitgleich mit der Massenvernichtung der Juden - setzten diese Umstrukturierungen voll ein. Die Arbeitsproduktivität in der Rüstungsindustrie stieg derart, dass dort 1944 der Pro-Kopf-Ausstoß eines Arbeiters mindestens 60 Prozent über dem Niveau von 1939 lag. Der Überschuss an Facharbeitern, der durch die Bildungsoffensive zustande gekommen war, konnte fortlaufend durch Fremd- und Zwangsarbeiter ausgeglichen werden. Der Kapitalstock verjüngte sich ganz erheblich: 55 Prozent der Anlagen, im Bereich der Produktionsgüterindustrie zwei Drittel, waren jünger als zehn Jahre.

Die Göringwerke (später Salzgitter und Voest-Alpine genannt) und die Volkswagenwerke (für die eine ganze neue Stadt aus dem Boden gestampft wurde) waren nur die Spitze eines Eisbergs, denn die größten der bereits existierenden Industriebetriebe erreichten im Krieg neue Rekorde an Produktionssteigerung. Krupp konnte den Jahresumsatz mit Rüstung von 1933 verzwanzigfachen, Daimler-Benz verzehnfachen - und die Gewinne wurden, abgesehen von einem geringen Teil, nicht von den Herren Kapitalisten verprasst, sondern neu in die Industrie der Volksgemeinschaft investiert.

»Der Stand des Bruttoanlagevermögens bei Kriegsende (1945) lag um fast 21 Prozent über dem Stand von 1936. (...) Also hat der Umfang der Investitionen die Bomben und andere Kriegsschäden bei weitem aufgewogen. Deutschland stand am Ende des Krieges tatsächlich mit einem stärkeren industriellen Potenzial da als bei Kriegsbeginn. ( ...) Die untersuchten Fakten der deutschen Kriegskonjunktur drückten der Nachkriegsgeschichte ihren Stempel auf. Sie entkleiden das westdeutsche 'Wirtschaftswunder' der 'freien Marktwirtschaft' allen mirakelhaften Scheins.« (4)

Mit der Bezeichnung Wirtschaftswunder traf die Nachkriegsöffentlichkeit allerdings ganz spontan die richtige Wortwahl, die jene Kontinuität nur bestätigte; bereits in den dreißiger Jahren hatte man vom »deutschen Wirtschaftswunder« gesprochen, um die deutsche Rüstungskonjunktur zu beschreiben.

Bereits ab Herbst 1943 hatten allerdings die großen Unternehmen überall im Dritten Reich eine Exportoffensive gestartet, um Vermögen und Produktionskapazitäten in neutrale Länder (Schweiz, Spanien ...) auszulagern. Karl Heinz Roth spricht von einer »wilden Nachkriegsplanung« des Kapitals: »Was aus heutiger Sicht nicht nur skrupellos und zynisch, sondern auch konfus und widersprüchlich wirkt, wurde von den damaligen Wirtschaftsakteuren offensichtlich komplementär verstanden. Sie wollten einerseits die 'Festung Europa' so effizient und so lange wie nur möglich verteidigen, andererseits klammerten sie sich durch die vorweggenommene Exportoffensive in den Wirtschaftsstrukturen der neutralen Länder so fest, dass die künftigen Sieger zu einer europäischen Nachkriegspolitik ohne wesentliche deutsche Beteiligung nur um den Preis radikaler struktureller Eingriffe auch in den neutral gebliebenen Ländern in der Lage waren. (...) Für die Verwirklichung beider Varianten gab es genügend ausländische Partner, die zur Kollaboration bereit waren, weil sie sich eine europäische Nachkriegsperspektive ohne das Wirtschaftspotenzial der Deutschen nicht vorstellen konnten.« (5)

Auf welchen Grundlagen die günstige Ausgangsposition Deutschlands und Österreichs im Nachkrieg ruht, wird unmittelbar an den letzten Maßnahmen deutlich, die im Dritten Reich zur Sicherung der industriellen Anlagen getroffen wurden. Die Verlagerung dieser Kapazitäten unter die Erde und in Bunkerbauten »konnte nur funktionieren, indem die Arbeitskraft von KZ-Häftlingen bis in die letzten Kriegswochen rücksichtslos ausgebeutet wurde. Tausende von ihnen mussten sterben, damit die Werksleitungen möglichst große Anteile der in der Rüstungskonjunktur akkumulierten Anlagen, Fertigungsstraßen und Vorrichtungen über den Krieg hinaus retteten.« (6)

Die gewaltigen Zerstörungen des Kriegs aber sorgten ihrerseits für die nötige Nachfrage nach Waren und Arbeitskraft, damit diese Anlagen, Fertigungsstraßen und Vorrichtungen wieder profitabel arbeiten konnten, deren Potenzial überhaupt wirksam wurde und die Arbeitsgesellschaft kontinuierlich funktionieren ließ.

Der Krieg hat das Terrain von Mehrwertproduktion und -realisierung bereinigt, unabsehbare Absatzgebiete für die Waren - einschließlich der Arbeitskraft - geschaffen, die Kaufkraft der Massen im großen Maßstab aufgestaut und die »günstigste Konstellation« der Alterszusammensetzung und des »Gütegrads« des industriellen Anlagevermögens hergestellt, sodass also die von den Nationalsozialisten in Gang gesetzte Modernisierung in Deutschland, nach einer kurzen Übergangsphase, weiter voranschreiten konnte. Der Krieg hat schließlich auch das Wunder vollbracht und die Volksgemeinschaft von ihren Schulden befreit.

Wenn jedoch irgendein ehemaliger Leiter von Görings und Speers Staatsapparaten seinen Lebenserinnerungen den Titel »Krisenmanager im Dritten Reich« gegeben hat, so scheinen manche Zeithistoriker solchen Memoirendreck allzu wörtlich zu nehmen.

Götz Aly und Susanne Heim etwa stellen den Nationalsozialismus vor allem als Werk bewusst geplanter Modernisierung, als Sache des Managements dar. Die eigentliche Krisenbewältigung, die der Nationalsozialismus ins Werk gesetzt hat, wird dabei verfehlt, die antisemitische Ideologie nur noch als »Hilfsmittel« begriffen, um Rationalisierungen möglichst rasch und großräumig durchzusetzen. Wer den Nationalsozialismus mit der Rationalität von Mittel und Zweck zu fassen sucht, blendet notwendig aus, was der Antisemitismus als Projektion für die Durchsetzung der Identität des Ganzen leistet. (Es erstaunt darum wenig, dass Götz Aly 1999, der Stimmung der Zeit folgend, Serbien mit Nazideutschland gleichsetzen konnte.)

Wenn demgegenüber Daniel Goldhagen den Antisemitismus als »kognitives Modell« völlig unabhängig von der Modernisierung durch Vernichtung analysiert, stellt er immerhin die Rationalität von Mittel und Zweck in Frage und löst das antisemitische Phänomen prinzipiell aus der Mittel-Funktion, die immer nur dazu dient, es zu verharmlosen. Allerdings wird der Antisemitismus der Deutschen damit zu etwas spezifisch Irrationalem, das völlig unabhängig vom Zusammenhang des Ganzen betrachtet werden kann. (Und nicht zuletzt deshalb konnte Goldhagen ebenfalls die Gleichsetzung von Serbien und Nazideutschland im Kosovo-Krieg machen.)

Die merkwürdig existenzialistisch klingende Frage Adornos, ob es sich nach Auschwitz noch leben lasse, kommt dabei dem gesellschaftlichen Zusammenhang von Menschenvernichtung und Volkswohlstand wesentlich näher, ohne ihn zu rationalisieren.

Das hat Adorno selbst in seinen Vorlesungen zur Metaphysik erläutert, wenn er sagt, man könne sich sehr schwer nur dem Gefühl entziehen, »dass man eigentlich bereits dadurch, dass man weiterlebt, gewissermaßen einem anderen, dem das Leben versagt worden ist, die Möglichkeit wegnimmt, ihm das Leben stiehlt; so wie wenn eine Gesellschaft, die in ihrer absurden Gestalt heute zwar nicht die Arbeit, wohl aber die Menschen überflüssig gemacht hat, gewissermaßen eine Rate, einen Prozentsatz, einen statistischen Prozentsatz von Menschen vorbestimmt, dessen sie sich entledigen muss, um in ihren schlechten bestehenden Formen weiterleben zu können. Und wenn man dann weiterlebt, dann hat man gewissermaßen das statistische Glück gehabt, das auf Kosten eben derer ging, die in den Vernichtungsmechanismus hineingeraten sind und, wie man fürchten muss, noch hineingeraten werden. Die Schuld reproduziert sich in jedem von uns - und ich rede nun wirklich mehr auf das Subjekt gewandt - deshalb, weil wir unmöglich dieses Zusammenhangs in jedem Augenblick unseres wachen Lebens ganz gewärtig sein können. Wenn wir: jeder von uns, die wir hier zusammen sitzen, in jedem Augenblick wüssten, was da geschehen ist und welchen Verkettungen wir auch unsere eigene Existenz verdanken und wie unsere eigene Existenz verflochten ist mit dem Unheil, selbst wenn man nichts Schlimmes getan hat, etwa nur dadurch, dass man es aus Angst versäumt hat, im rechten Augenblick anderen Menschen entscheidend zu helfen, und das ist eine mir sehr vertraute Situation aus der Zeit des Dritten Reichs, - dass man, wenn einem all diese Dinge in jedem Augenblick ganz gewärtig wären, dass man dann wirklich überhaupt nicht leben könnte; dass man gewissermaßen gedrängt wird, gestoßen wird auf jenes Vergessen, das selbst bereits etwas Schuldhaftes hat und das dadurch, dass man sich des Drohenden und des Geschehenen nicht in jedem Augenblick bewusst ist, zugleich auch dazu beiträgt, dass man zu wenig widersteht und dass es in jedem Augenblick sich wiederholen und sich wiederherstellen kann.«

Gerhard Scheits Buch »Die Meister der Krise. Über den Zusammenhang von Menschenvernichtung und Volkswohlstand« ist im Freiburger ça ira Verlag erschienen.

Anmerkungen

(1) Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW, Bd. 23, S.128. Im dritten Band ist diese Möglichkeit dann spezifiziert: »Die Bedingungen der unmittelbaren Exploitation und die ihrer Realisation sind nicht identisch.« (MEW, Bd. 25, S.254) Produktion und Realisation des Mehrwerts, Produktivkraft und Konsumtionskraft der Gesellschaft fallen auseinander und sind doch zur Einheit gezwungen. Das ist die dialektisch gedachte Voraussetzung, damit das Kapital als seine eigene Schranke betrachtet werden kann, wie dies Marx im Gesetz über den tendenziellen Fall der Profitrate ausführt. Die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit erzeugt ein solches »Gesetz«, das »ihrer eignen Entwicklung auf einen gewissen Punkt feindlichst gegenübertritt und daher beständig durch Krisen überwunden werden muss«. (MEW, Bd. 25, S.268) Der Krisenbegriff von Marx besagt also, dass die Logik in jenem Gesetz durch die dialektische Einheit des Ganzen überwunden werden kann. Rein logisch lässt sich kein empirischer Punkt ermitteln, an dem das Kapital dialektisch zusammenbrechen müsste. Stattdessen stellt sich in jeder Krise immer wieder dieselbe einfache Frage (die Marx ans Proletariat delegierte): Wie lange denn die Menschen noch bereit sind, sich dieses Ganze anzutun.

(2) In »Geschichte und Klassenbewusstsein« (1923) fixierte Georg Lukács genau hier den entscheidenden Punkt der politischen Ökonomie wie der bürgerlichen Wissenschaften insgesamt: »So erweist es sich, dass gerade das Gelingen der restlosen Durchrationalisierung der Ökonomie, ihr Verwandeltsein in ein abstraktes, möglichst mathematisiertes Formsystem von 'Gesetzen'í die methodische Schranke für die Begreifbarkeit der Krise bildet. Das qualitative Sein der 'Dinge', das als unbegriffenes und ausgeschaltetes Ding an sich, als Gebrauchswert sein außerökonomisches Leben führt, das man während des normalen Funktionierens der ökonomischen Gesetze ruhig vernachlässigen zu können meint, wird in den Krisen plötzlich (...) zum ausschlaggebenden Faktor.« (Darmstadt-Neuwied. 7. Aufl. 1981, S.201f.) Der Faktor selbst jedoch - das qualitative Sein, Ding an sich, Gebrauchswert - kann nicht unabhängig von seiner Vermittlung durch die 'Gesetze' gedacht werden oder er wird seinerseits fetischisiert - zum wahren Sein innerhalb falscher Gesetze.

(3) Die Schriftstellerin Elisabeth Freundlich, die 1938 aus Wien flüchten musste, berichtet über einen solchen Ausbruch anlässlich der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags: »Am 15. Mai 1955 standen wir, Günter Anders und ich, im Wiener Belvederepark, oben im Spiegelsaal ging die Unterzeichnung des Staatsvertrags vor sich. (...) Neben mir stand eine einfache Frau mit Kopftuch und Küchenschürze und schluchzte bitterlich. So viel Anteilnahme rührte mich. Ich nahm sie um die Schulter, um sie ein wenig aufzurichten. Schließlich kam es stoßweise aus ihr heraus: 'Wenn das der Hitler noch erlebt hätt'!'. Erfunden? So etwas lässt sich nicht erfinden.« (E.F.: Die fahrenden Jahre. Erinnerungen. Hg.v. Susanne Alge. Salzburg 1992, S.134)

(4) Dietrich Eichholtz: Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939-1945. Bd. III. Berlin 1996, S.677

(5) Karl Heinz Roth: Wirtschaftliche Vorbereitung auf das Kriegsende und Nachkriegsplanungen. In: Dietrich Eichholtz: Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939- 1945. Bd. III. Berlin 1996, S.543

(6) Ebd. S.611