Tagebuch, 2. Teil

Sich peinlich fühlen, weitergehen

Der zweite Teil des Tagebuchs

Dienstag, 13. November

Der Tag verschiebt sich nach hinten. Man geht um vier ins Bett; steht halb zwölf auf, es gibt Pommes mit Fleischspieß zum Frühstück, dann Afghanistan und dann ist es schon wieder dunkel und Marc Almond steht gut beleuchtet auf der Bühne. Ich fand's toll, Katrin mäkelte. Die Radio-Eins-Plakate nervten. Bei »Torch« und »Tainted Love« rief ich C. an, ließ sie mithören und war ein paar Minuten glücklich. C. arbeitet mit diesem Mädchen zusammen, das in dieser Handywerbung so klasse »billig - aber da stehst du doch drauf!« sagt. Es war so deprimierend, als Marc Almond plötzlich mit Rosenstolz eine Platte gemacht hatte.

Sonntag, 18. November

Noch unvorbereitet für eine erste Kontaktaufnahme mit der Außenwelt fuhr ich um zwölf über die graue Lindenstraße durch Nieselregen zur taz, sah mich kurz im Eingangsflur im Spiegel, grüßte im Gang irgendjemanden, den ich von weitem für den taz-Meinungsredakteur Rüdiger Rossig gehalten hatte, zunächst zurückhaltend - erst war er mir nur bekannt vorgekommen -, in mittlerer Entfernung dann freudig, albern gestikulierend vermutlich, näherkommend bemerkte ich meine Verwechslung, fühlte mich peinlich, ging dann weiter.

»Alle amerikanischen Männer werden durch Fernsehen fremdgesteuert und alle amerikanischen Frauen haben dicke Ärsche, aber die Presse verschweigt es«, sagt ein in Moskau lebender Exil-Ami in einer Geschichte von Wladimir Kaminer, die irgendwo auf der Homepage von Henryk M. Broder - Link: »Fremde Federn« - steht. Beim Umräumen über ein Buch gestolpert (»68 am Rhein«) in dem Teile der 68er-Undergroundzeitungen, die Broder mal gemacht hatte, abgedruckt waren. Seine Zeitung hieß damals popopo = Pop, Politik, Pornografie.

Montag, 19. November

Gegen Mittag Besuch von P. Er fuhr grad wieder irgendeine Band durch die Gegend. Am Südstern trafen wir S. Er war betrunken und guter Dinge. Es sprudelt so fröhlich aus ihm heraus, er hätte noch nicht geschlafen, er sei die ganze Nacht unterwegs gewesen. Er wirkte so befreit wie ein Teenager nach einer durchgemachten Nacht. Zu dritt gingen wir nebeneinander. Manchmal bildeten unsere Köpfe eine über die parkenden Autos hinweg zur Fahrbahn hin absteigende Linie, P., der kleinste, ging nahe der Fahrbahn, ich in der Mitte und S. zwischen mir und den Hauswänden. Die Bergmannstraße an der Passionskirche vorbei in die »Pagode« an einen Tisch am Ende der Kellertür, zwei Meter von dem Aquarium entfernt, in dem die Fische krank aussahen, wenn ihre weit aufgerissenen Mäuler an der Glasscheibe klebten.

Spazierengehen mit C. Zunächst in den Bioladen. Weil sie so viel Vitamin B und so wenig Milchprodukte essen würden, hätten die alle so eine schlechte Haut, sagte C., und dass die alle so verhärmt, unglücklich und vorwurfsvoll wirken würden. Sie kauft oft im Bioladen, ich nie. Ich verteidigte die Biotanten und Onkels, auch wenn sie mich an diese Ex-Junkies in den Synanon-Biobäckerläden erinnerten, die immer so eine ganz besonders triste Atmosphäre halbwegs kontrollierter und lebensideologisch gefestigter Zwangskrankheitskontrolle verbreiten und eine viel unangenehmere Stimmung erzeugen als die Fertigen vom Görlitzer Bahnhof, die als Krankengruppe meist ganz gut rüberkommen.

An der Wand eines Fiat- und Gebrauchtwarenhändlers stand: »Autos muss brennen, damit wir leben können.« Der kleine Lebensmittelladen in der Gneisenaustraße wirkte so, als sei er aus den sechziger Jahren übrig geblieben. Ein schlanker älterer Herr im weißen Kaufmannskittel, sagte: »Jetzt gleich nicht mehr!« nachdem S. gesagt hatte: »Ich habe leider nur einen 50-Mark-Schein.«

Bei Gras am Nachmittag überwiegt zunächst das sozusagen energetische Moment. Das Herz beginnt schneller zu schlagen, man gerät in so eine komische Gegenwärtigkeit und hat große Lust, gleich den nächsten Joint zu rauchen. Das Graue, das begonnen hatte, in den Tag einzudringen, ist wieder für ein paar Momente gebannt.

Dann fühlt man sich doch gestört am Computer wegen des Dissens zwischen großer Konzentration im Einzelnen und einer assoziativen Sprunghaftigkeit des Denkens, die man mit drei Fingern schreibend nicht mehr in den Griff bekommt. Immer weiter verliert man sich in Nebensächlichkeiten, kommt allein nicht rein in den angestrebten Flow. Man sehnt sich nach einen Zustand reiner Medialität und wäre sowieso ganz gern eine aufmerksame Verwandlungsmaschine dessen, was an Welt von draußen und von drinnen auf einen einstürmt. Manchmal sehnt man sich auch nach diesem Freiheitsgefühl, das man aus Kinderträumen kennt. Diese Träume, wo man merkt, dass man träumt und dieses Wissen ganz behutsam ins Vorbewusste drängt, und man dann mit bloßer Geisteskraft fliegen kann und alles ist einfach und ergibt sich wie von selbst.

Nebenbei läuft auf dem Computer Musik. Nach Aphex Twin kommt Freddy und danach dann die Tagesthemen mit Afghanistan und dem SPD-Parteitag und am Ende: »Novemberwetter. Mehr muss ich Ihnen ja gar nicht sagen!«

Freitag, 23. November

Aus irgendeinem Grund höre ich »Everything is wrong« von Moby. Peinliches Gefühl dabei. Rausgehen, neuen Kaffee holen, bei Plus war es zu voll, also Kaiser's. Ein Brötchen. Zehn Minuten hin- und herrennen, suchen, auch im Kühlschrank natürlich und im Bad. Wo hab ich nur den Kaffee gelassen? Vermutlich draußen, beim Einkaufen irgendwo, vielleicht hatte ich den Kaffee auch in den Briefkasten gesteckt, als ich die Post rausnahm. Nee, wäre auch zu gut gewesen. Lachend begrüßt mich die Frau vom Zigaretten-Zeitungsladen; auch ich freue mich. In der Post ein Auftrag für's Kursbuch, in dem es um »die Rückkehr des Biografischen« gehen soll. Der Titel des Textes, den ich schreiben soll: »Mein gänzlich ungeplantes Leben«.

BBC gucken wie Big Brother. Berichte von Blutbädern. Bröckers machte bei Kuttner verschwörungstheoretische Anmerkungen in Sachen WTC. Weil im Hanfhaus Vogelfutter mit aktiven Samen verkauft worden war und weil die Polizei bei einer Hausdurchsuchung ein bisschen Hasch gefunden hatte, war er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Im Prinzip müsste er jetzt ins Gefängnis, wenn man ihn mit einem Joint erwischen würde. D. war am Tag vor der Kriegszustimmung auf einem Empfang der Grünen. Einer hätte gesagt, wenn die Europäer nicht mitmachen würden, hätten die Amis das allein gemacht und taktische Atomwaffen eingesetzt. So haben die Grünen mal wieder das Schlimmere verhindert.

»Das rockt.« Keine Ahnung, ob Jugendliche das authentisch, halb-authentisch oder zitathaft sprechen. Ich sag das eher zitathaft und denke an »das schockt« oder auch »das schockt nicht mehr« aus dem Film »Rollo Aller« mit Rocko Schamoni. In den Siebzigern gab es auch mal »shocking«. Das ist ja »shocking«, also geil.

Der kleine nette türkische Opa vom Edeka-Markt wechselt immer zwischen »Tschüssi« und »Tschüssing« zum Abschied. Er ist sich selbst nicht sicher, ob »tschüssi« oder »tschüssing« richtig ist. Er deutet das »ing« leise an und wirkt überhaupt ein bisschen schüchtern.

Am iMac ist gut, dass man ihn viel einfacher von einem ins andere Zimmer tragen kann. Nachteil: Die Uhr stellt sich dann immer auf den 01.01.1904. Manchmal auch auf den 01.01.2040. Einige Texte auf meinem Computer sind am 01.01.2040 geschrieben.

Montag, 26. November

Tagebuch. Andy Warhol. Krausser. Kafka. Rainald Goetz. Big Brother. Kiffende Teenager schreiben auf »kiffen.de« rührend verpeilte Briefe an die Eltern, die die Eltern nie erreichen. »Tagebuch: Erzähl deine Geschichte auf jetzt.de (...) Ausgewählte Schreiber berichten aus ihrem Leben. Hast du auch Lust? - Dein Publikum wartet«, »Alle Beiträge von Nadinchen«. Selten echte Szenen; stattdessen Selbstgespräche. Warum nur muss dies und das immer so sein? Manchmal wird der Leser sogar gesiezt. Unter »Highlights« die Tagebücher von David Wagner, Tobias Hülswitt, Maike Wetzel, die für das Goethe-Institut durch USA und Kanada fahren.

Domäne am Halleschen Tor. Der blaue Papierkorb mit Deckel kostete 17,60. Hätte nie gedacht, wie teuer Papierkörbe sind. Und das war der billigste! Bei drei oder vier Eimern war der innere Eimer beschädigt. Die Verkäuferin, bei der ich anfragte, ob es da nicht einen Preisnachlass geben könne, antwortete unwirsch. Ich sollte mir einfach einen anderen inneren Eimer aussuchen.

An meinem Zimmer hängt immer noch der Aufkleber: »Behältervermüllung. Bitte sorgen Sie für korrekte Befüllung, ansonsten erfolgt Behälterentzug.«

Über den Pissoirs im »Bierhimmel« steht: »Die schwule Bewegung ist an ihrer eigenen Dickarschigkeit und Selbstgefälligkeit erstickt. Was noch zählt, ist Frauenfeindlichkeit, Intoleranz und das Wissen um eine Unterdrückung, welche gestrig ist.«

Viele langweilige Menschen haben die Eigenschaft, einfach sitzen zu bleiben, wo andere längst schon aufgestanden wären, weil ihnen die gemeinsam erzeugte Langeweile irgendwie unangenehm ist. Diese Eigenschaft hat ihnen ein irgendwie okayes soziales Leben ermöglicht. Harald hatte mal von einem erzählt, der saß plötzlich in der WG-Küche - ein Freund von irgendjemandem, der längst schon ausgezogen war - und blieb dann einfach sitzen, wochenlang, und wurde schließlich durch sein hartnäckiges Sitzenbleiben zum Mitbewohner.

Wenn man die Leipziger Straße Richtung Alex hochfährt, steht auf irgendeinem grauen Bauwagen so achtziger Jahre-Rapmäßig groß »ANGST«. Man begrüßt das und liest es wie den Text unter dem Bild, durch das man gerade fährt als kleiner Held seines eigenen Films, der man gern wäre.

Um neun, am »Theatre of Magic«-Flipper in der Langhaarigenkneipe, sagte S., er sei grad erst aufgestanden. Ich kenne ihn nur als ewig arbeitslosen Siebziger-Jahre-Revolutionär mit ideologisch gefestigten schädlichen Angewohnheiten.

S. ist sechs Jahre älter als ich. Wenn wir uns treffen, behandelt er mich immer als Gleichaltrigen, während ich, fast gekränkt, die Unterschiede hervorhebe. Im Sommer steht er meist um drei auf; im Winter eher so um sieben. Und nach dem Frühstück halt flippern und die Nächte dann zugedichtet herumbrüten. Dabei schläft er nicht mal wenig, neun oder zehn Stunden sind normal bei ihm. Er spielte für seine Verhältnisse eher mittelmäßig. Haltbare Bälle gingen ins Aus. Gereizt und wütend trat er irgendwann gegen die Wand und sagte, nun könne er Fußballspieler, die nachtreten, die ihrem Gegenspieler, wenn der Ball schon längst weg ist, gegen das Schienbein treten, gut verstehen.

Nächste Woche: »Den Gemüseladen meiden«