Tagebuch, 4. Teil

Nur Gott kann allein sein

Der vierte Teil des Tagebuchs

Montag, 24. Dezember

Netter Abend mit S.: Schachspielen, Flippern. Mehrere gute erste Bälle, kein Freispiel. S. wirkt endlich mal wieder halbwegs zufrieden, hat sogar Farbe im Gesicht. Vor vier Jahren war Annette noch richtig erschrocken, als er vor der Tür stand. Dann saßen wir an der Theke neben den anderen drei oder vier Stammgästen, S. reichte etwas papahaft einen Joint rum, mir wurde schwindlig, völlig dicht schwankte ich nach Hause über die zugefrorenen Straßen und Bürgersteige, und während ich ging, scannte ich in meinem Kopf die nahe Zukunft, wie ich in die Schleiermacherstraße einbiegen und die Treppe hochgehen würde. Kein Gefühl für Weihnachten, nur dass ich früh aufwachte und aufstand, dass es still ist auf den Straßen im Schnee.

Donnerstag, 27. Dezember

Weihnachten war so ambivalent wie jedes Jahr. In Lübeck schön, zu Hause anstrengend. Man erfüllt seine Familienpflichten und ist auch oft gerührt. Meine Mutter redete ununterbrochen, ihre Schlaflosigkeit sei noch schlimmer geworden, erzählte sie begeistert. Jede Nacht schlich sie bis fünf Uhr morgens durchs Haus. In der ersten Nacht konnte ich kaum schlafen, schreckte um halb fünf auf, dachte, sie wäre ins Zimmer getreten und hätte gesagt: »Gute Nacht, Dedi«, wusste aber nicht, ob ich mir das nicht nur eingebildet hatte.

Mit ihren Vertreibungsgeschichten hielt sie sich diesmal zurück. Absurd, wenn man sich vorstellt, dass man mit acht Jahren alle Städte und Flüsse Ostpreußens auswendig konnte. So oft hab' ich erzählt, dass meine Schwester und ich uns früher zu Weihnachten einen Joghurt teilen mussten, dass ich gar nicht mehr weiß, ob es stimmt. Cola gab's auf jeden Fall nur an Weihnachten. Die das Haus betreffenden Sicherheitsmaßnahmen sind grotesk wie so oft in westdeutschen Kleinstädten. Als Katja und Jenny kamen, war alles wieder prima. Als Onkel ist man in einer privilegierten Position. Am Abend des zweiten Weihnachtstages wollte meine Mutter, dass wir Weihnachtslieder singen. Als die Weihnachtslieder fertig waren, fing ich dann mit »Olé, wir fahr'n in'n Puff nach Barcelona« an. Harald sang auch mit und mein Vater grinste wie vor 30 Jahren bei »Klimbim«; meine Mutter lachte kindlich. In meinem Kopf heißt es nie Papi oder Mutti.

Die Witze der Nichten: »Sitzen zwei Hochhäuser im Keller und stricken Kartoffeln. Was ist daran falsch? - Bananen haben keine Gräten.«, »Treffen sich zwei Männer auf der Straße. Haben wir uns nicht schon mal in Casablanca gesehen? - Kann nicht sein. Ich war noch nie in Casablanca. - Da werden es wohl zwei andere Männer gewesen sein.« K.s Siebziger-Jahre-Witz kam nicht so gut an: »Geht ein Schwarzer in' Bäckerladen und möchte fünf Brötchen haben. Sagt die Verkäuferin: Nehmen Sie doch acht. Dann haben sie drei mehr.«

Gut genährt, aber fertig wie jedes Jahr wenn man nach Weihnachten zurückkommt, ist niemand da, den man treffen könnte. Schneegestöber. Zwei arabische Jungs fragen mich auf der Gneisenaustraße, ob sie mich mit Schneebällen bewerfen dürfen. Schöne Schneeballschlacht.

Freitag, 28. Dezember

Endlich ist es mir gelungen, »Bow Down Mister« von Boy George runterzuladen: »It's time to check your karma now / Hare, hare, hare«.

Montag, 31. Dezember

Stoned. Wie komisch unzusammenhängend mir mein ganzes Leben vorkommt. Kein schlimmes Gefühl. Aber auch nicht besonders romantisch. Vor allem gehetzt, unruhig. Ach, Unsinn. Die Tage gefallen mir doch, es ist schön, der neue, weiche Schnee, der dort draußen liegt.

Mittwoch, 2. Januar

Erschöpft vom e, mein Hals tut weh. Rauchen macht auf e so viel Spaß. Draußen ist richtig Winter. An einer Straßenecke am Hackeschen Markt stand ein komischer dünner Mann im Parka, mit einem Rucksack voller Raketen. Er stand immer noch da, als wir eine Stunde später die Party verließen. Bei Françoise Cactus im Flur war ein aufgeregtes Kommen und Gehen. Sie hat eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit viel streetcredibility. Viele Gäste sahen glamrockermäßig aus und die Musik hörte sich an wie: »Wir sind aus Kreuzberg. Wir sind Rocker!« Wir gingen bald, saßen dann zu Hause bis in den Morgen auf dem Sofa, hörten alte Platten von Carl Craig und Jeff Mills und waren den ganzen nächsten Tag noch angedichtet. Am Nachmittag saßen wir zwei Stunden bei Harald und Bettina, aßen Berliner, tranken Tee, redeten über die taz.

»Wenn Sie diese Serie für Feuilleton halten, lesen Sie dazu einfach einmal das Interview mit dem ehemaligen Bundesminister und Geheimdienst-Kontrolleur.« (Homepage von Matthias Bröckers)

Montag, 7. Januar

Nur Gott kann allein sein. Deshalb sei es Anmaßung und Sünde, für sich zu leben, hätte Kasim gesagt, erzählt Michaela. Ich würde gerne einen Sexfilm machen. Einen romantischen Film mit vielen Einsamkeiten, ein schöner blaustichiger Film ohne Happy End. Ein Film, in dem die Liebenden nicht zueinander finden, sondern allein hinter ihren Fenstern in ihren Wohnungen träumen und verblöden und erstarren in ihrem formelhaften Denken und Wahrnehmen, aber ein Rest bleibt. Niemand sieht sie dabei, so müssen sie sich selbst betrachten. Und so betrachten sie ihre Gedanken und gleichzeitig die Welt vor ihren Augen. »Ich möchte eine Maschine sein«, hat Andy Warhol mal gesagt, das stand auf einer Tafel bei der Warhol-Ausstellung.

Danach die letzten zwei Stunden Viva 2. Die letzten Wochen hatten sie fast nur experimentelle Videos gesendet. Wir hatten uns totgelacht, als plötzlich Françoise Cactus und Brezel Göring da auf der Admiralbrücke standen, dies und das sagten und alle paar Sekunden ging einer mit Baguette, Zigarette und Baskenmütze vorbei. Das war großartig. Am Ende gab's die singenden Puppetmasters:

Ding, dong, Zwobot ist tot
Ding, dong, Zwobot ist tot
Ding, dong, ich spuck auf mein Grab
Ding, dong, ich spuck auf mein Grab

Und gestern, als wir Backgammon spielten, und G. viermal hintereinander gewann, dachte ich, ich jammer' viel zu viel, das artet ja zur Sucht aus, das Leben ist doch eigentlich ganz prima und wie angenehm ist es doch, für die taz zu arbeiten. Das wissen ja viele gar nicht.

Die Luft ist klar. Eine Musik rhythmisiert das. Als Jugendlicher würde man versuchen, sich mit der Musik zu synchronisieren, in der Musik zu verschwinden, nur noch so ein angenehmes Gefühl zu sein. So, wie man ist, spürt man die Differenz zwischen sich und der Musik, atmet tief durch, fühlt sich gleichzeitig aufgeregt und ruhig, raucht, spielt weiter Backgammon. Eigentlich ist alles super, denkt man und gleichzeitig »eigentlich«. An diesem »eigentlich« könnte man schon fast wieder paranoid werden.

Ki sagte, sie laufe am liebsten ohne Kontaktlinsen herum. Da würde alles besser aussehen und man würde sich so Wong-Kar-Wai-mäßig fühlen, so wie im Film halt und ich dachte an diese ganzen Nichtgegrüßtwerdendramatiken aus der Studienzeit, wie viele beginnende Freundschaften sind an nichteingesetzten Kontaktlinsen gescheitert. Alles wäre anders gekommen, wenn alle immer daran gedacht hätten, ihre Kontaktlinsen einzusetzen.

Dienstag, 8. Januar

So ein wahnsinnig grauer Tag. Die neuen Innensohlen aus albernem Wacholder-Zeder haben zwölf Euro gekostet. Gibt's für Euro ein Zeichen im Computer? Natürlich nicht.

Markthalle. Jonnie ist Hausmeister in einem Haus, wo es im Sommer lustig ist, und er im Hinterhof mit einem Kollegen und einer barbusigen Freundin, Mitte 50 vielleicht und riesige Brüste, Dosenbier trinkt. Fünf Jahre lang hatten wir uns immer mal wieder hier in der Gegend gesehen, nach drei Jahren begannen wir, uns von weitem zu grüßen, ein Jahr später sprachen wir zum ersten Mal miteinander, als wir uns zufällig auf der Straße trafen. Ich war bekifft und er betrunken und das passte irgendwie ganz gut zusammen, als wir im Regen ein paar Minuten nebeneinander herschlenderten. Anfangs hatte mich der Hautausschlag in seinem Gesicht irritiert, später war er halt Jonnie. Er hat so seine Standardsätze. Weil wir beide aus Schleswig-Holstein kommen, sagt er immer irgendwann: »Gaarden mit acht a. Der Schleswig-Holsteiner zieht ja immer alles in die Länge.« Fleischspieß mit Pommes.

Auf der Alk-Bank sitzt der Mann, den ich zum ersten Mal auf dem Weg zur Hanfparade gesehen habe. Da war er an der Bushalte in der Zossener Straße hingefallen, sein Blaumann war ihm runtergerutscht und das hatte ganz gut gepasst. Gestern abend lag er auf dem nassen Boden vor der Ampel auf dem Mittelstreifen Gneisenau/Zossener. Eine Frau, Mitte 40, bemühte sich um ihn, während die Leute aus der U-Bahn vorbeigingen, vielleicht nur kurz guckten auf die dunkel gekleidete freundliche Frau, die den Betrunkenen im Blaumann mit dem Bürstenhaarschnitt kaum halten konnte. Ich half ihr, so halb routiniert noch vom Zivildienst, manche Dinge verlernt man ja nie in seinem Leben. Der Mann roch warm nach Schnaps, ein bisschen auch nach Kotze. Wir stellten ihn vor die Apotheke an die Bushaltestelle. Da konnte er sich am Fahrplan festhalten. Nun sitzt er wieder mit zwei anderen Trinkern um die 60 in der Markthalle und heißt vermutlich Günter.

Mittwoch, 9. Januar

Ich bin so wahnsinnig wohnungsneurotisch. Einen beträchtlichen Teil der letzten Jahre habe ich damit verbracht, meine Möbel umzustellen. In den letzten drei Monaten standen die wechselnden Schreibtische nie an einer Stelle. Klar - ich bin kaum drei Monate in den neuen Zimmern, muss erst ausprobieren, wo was gut ist, die Zimmer sind problematisch, zu viel erinnert an L., die Ende Oktober ausgezogen ist, der grünblaulasierte Fussboden zum Beispiel - wenn man länger in dem Zimmer ist, will man tatsächlich immer baden oder pissen, was weiß ich. Der weiße Ikea-Schreibtisch war ein Fehlkauf, der andere, den mir Ki vermittelte, hat noch keinen richtigen Platz.

Mit dem Platz ist es eh ein Problem, weil ich in L.s Zimmern nicht arbeiten kann und in dem kleinen Zimmer im anderen Flügel der Wohnung stinkt es immer so, wenn man heizt, weil der Allesbrenner nichts taugt, oder weil unter der Tapete die Reste von 50 Jahre Rauchen sind: Man fühlt sich schnell vergiftet. Dann hat mir Antonia einen einfachen großen Tisch geschenkt, der vielleicht gut sein wird. Nun hab ich also drei Schreibtische, von denen einer überflüssig ist.

Man fühlt sich völlig unterschiedlich in den verschiedenen Zimmern und seit Oktober wie ohne Zuhause.

Nächste Woche der letzte Teil: »Man schreibt immer für andere«