Tagebuch, 5. Teil

Man schreibt immer für andere

Der fünfte und letzte Teil des Tagebuchs von detlef kuhlbrodt

Donnerstag, 10. Januar

Er warf ihm vor, sich nicht für die Welt zu interessieren, sich nicht zu »informieren«. Er sollte sich wenigstens mal einen Fernseher kaufen. Wolfgang gab die üblichen Antworten; die Nachrichten seien doch alle manipuliert, Fernsehen würde ihn nur ablenken, auch bräuchte er gerade mal Zeit für sich, um mit sich selbst irgendwie besser klarzukommen.

Während wir Schach spielten, surfte er im Internet und murmelte ein paar Mal »hm, hm«, »ist ja krass« und dann leicht dramatisch: »Schon gehört: zwischen Indien und Pakistan geht es jetzt richtig zur Sache!«

Später kam Eric. Wir redeten Englisch. Auf Englisch ist es so, als wenn man sich grad neu kennenlernt. Deshalb redet man mehr. In der Nacht über dieses blöde Gefühl der Stagnation und Selbstwiederholung. Er hatte keine Lust mehr, von Job zu Job zu hetzen und wollte eine Internetausbildung machen. Massage wäre auch was Feines. Und dann auf Ibiza was aufmachen. Sportlehrer wäre auch lustig. »Man könnte zum Beispiel drei Knirpse ins Tor stellen und dann Elfer schießen.«

Lange standen wir im Flur rum. Als Kind hatte er oft Wutanfälle gekriegt, wenn er etwas ungerecht gefunden hatte, und sich auf den Boden geworfen und mit dem Kopf immer auf den Boden gehauen. So fühlte ich mich mit ihm verbunden.

Sonntag, 13. Januar

J. ist nie da, die halbe Wohnung ausgekühlt. Das Zimmer ist zu weiß, der weiße Schreibtisch definitiv ein Fehlkauf, die Vorhangfrage schlecht gelöst. Nur Spießer haben keine Vorhänge. Manchmal schreit der Nachbar, manchmal besucht ihn auch jemand. Besuche sind doch was Feines eigentlich.

Dann will man sich nachts ein bisschen entspannen, hört so eine leicht drogige Technokassette von früher, und am Ende der Kassette sind dann plötzlich zwei Minuten eines Interviews, das man mit Sascha Anderson vor zehn Jahren gemacht hatte. Wie strange sich das anhört: »Ich hab nie den Druck zu begründen, dass es stimmt, was ich denke« oder auch meine Frage am Ende der Kassette: »Hast du vielleicht noch eine Kassette?«

Man schreibt immer für andere, auch wenn man allein schreibt. Im Selbstgespräch ist entweder der Zuhörer oder der Sprechende ein anderer.

Oder auch beide. Darin liegt das grundsätzlich Paranoide am Schreiben, andererseits ist es auch tröstlich, dass andere immer mit dabei sind.

Das fette Ich in Helmut Kraussers Tagebüchern: »Bin zornig und blamiert, habe dabei gründlichst getan, was ich konnte« oder: »Schreibe der Presseabteilung einen geharnischten Brief« oder »Selbst jemand, der wie ich (...)«.

Dienstag, 22. Januar

Und als ich gerade an diesem wunderschönen, sonnigen Vormittag um halb elf aufstand, hatte sie schon eine SMS von dem Wolf-Prozess geschickt: »Richter Krank+ Umsonst Nach Potsdam Gefahren Und Jetzt Kotzen+Ki«.

Im Fernsehquiz knurrte die Frau kurz erfreut, nachdem sie die 2000-Euro-Frage korrekt beatwortet hatte.

Montag, 28. Januar

K. schrieb mir, dass Du seit einer Woche in der Uniklinik bist, um da noch mal »durchgecheckt« zu werden. Das sind ja Neuigkeiten! Aber es ist wohl das Beste, was man machen kann; sich die ganze Zeit fragen zu müssen, ob man nun was hat oder doch nicht, kann einen ja nur furchtbar nervös machen.

Hoffentlich ist es im Krankenhaus nicht zu anstrengend, grad mit dem Schlafen und hoffentlich sind die anderen in Deinem Zimmer ganz angenehm und die Schwestern auch nett! Aber Du hast ja noch K., deren Station wohl in Deiner Nähe ist und J, die ab und an vorbeikommt. Schade, dass ich zu weit weg wohne, um Dich besuchen zu können ... Mir geht es prima, den halben Tag sitz ich am Computer und den Rest geh ich meist spazieren, treffe Ki, die Dich grüßen lässt oder spiele Schach mit meinen treulosen Freund M., der ja ansonsten meist bei seiner Freundin ist und sich gestern abend erdreistete, gleich mehrfach gegen mich zu gewinnen.

Das Wetter spielt ein bisschen verrückt; heute soll es 14° warm sein und wenn man draußen ist, denkt man, es sei Frühling.

Ansonsten freue ich mich auf die Filmfestspiele, die Mitte nächster Woche beginnen.

Samstag, 9. Februar

Neues Powerbook. J. hatte es auf einer Mitarbeiterversteigerung für 200 Mark gekauft. Komisches Gefühl, dadrauf zu schreiben. Plötzlich scheint es mir wieder fast perfekt zu sein, hier so zu sitzen, die gleiche Tastatur zu bedienen, die auf so eine irgendwie freundliche Art nach oben gewölbt ist, g und h liegen höher als a und #, eine ganz sanfte Erhebung in der Landschaft, und dann ist man plötzlich wieder verbunden mit früher, mit dieser Zeit, in der der Computer irgendwie ein Freund gewesen war.

Der i-Mac ist ja eher ein lärmender Feind und sieht scheiße aus.

Sonntag, 24. Februar

Im Dezember hatte ich an C. gedacht und versucht, über seinen Selbstmord zu schreiben.

Dies halbe Jahr vor 20 Jahren war entscheidend gewesen. Danach hatte ich das gemacht, was er gemacht hätte. Vielleicht hätte ich auch so das gleiche gemacht, aber so war er immer dabei, irgendwie, der Tod, die Leiche im Keller, wie Do sagen würde, das eigene Versagen, aber gleichzeitig auch das Bild von C., wie er sich im schwarzen Mantel ganz schnell um die eigene Achse drehte vor der Schule, die Tasche um sich herumwirbelte, um irgendwas zu beweisen. In der Tasche »Sein und Zeit«, Kaffee, Zucker und Zahnbürste, um immer schnell wegfahren zu können.

Es klingt immer unangemessen, wenn man darüber schreibt. Aber der Tod wird ja immer noch überall ausgeklammert. M. war 46 als er zum ersten Mal damit wirklich konfrontiert wurde. Das ist doch nicht normal.

Über seinen Tod, wie er dazu gekommen, wie er sich selber aufschreibend in diese Selbstmord- und Wahnsinnsbegeisterung hineingesteigert hatte, denke ich so ähnlich wie vor 20 Jahren.

Jeder hat das Recht dazu, sich umzubringen und ist frei in dem Moment, in dem er das tut. Ihm diese Freiheit abzusprechen ist nur Rache der gekränkten Lebenden, die es keinem verzeihen können, der sich aus ihrer Mitte stiehlt, die den Selbstmörder für wahnsinnig erklären oder nach billigen Erklärungen suchen, die ihn dazu »trieben«; die den Selbstmord als Selbstmord nicht wahrhaben wollen und nach Schuldigen suchen.

Nach Jahren hatte ich noch mal ein paar Seiten seines Tagebuchs gelesen. Mir war es obszön vorgekommen; dass ich das las, obgleich er mir die Sachen ja vorgelesen hatte, als er noch lebte. Seine »Reise in den Wahnsinn«. Am schlimmsten der Abschiedsbrief, das Sterbeprotokoll, das er geschrieben hatte, als die Tabletten schon wirkten.

Später hatte ich auf der Walze der Schreibmaschine noch Worte eines Gedichts gefunden, dass er geschrieben hatte. »Mord ist nicht fern.«

Später war Ingeborg Drewitz in die Kleinstadt gekommen. Sie hatte an einem Buch über Jugendselbstmord gearbeitet. In dem Vorwort des Buches hatte sie geschrieben, mein Zimmer sei schwarz gewesen, dabei hatte ich es mit grüner Tusche angemalt.

Ein paar Monate später war K. ermordet worden, als sie in der Nacht nach Hause fuhr.

Man spürte das, wenn jemand ähnliche Sachen erlebt hatte und freundete sich dann an, und die anderen waren die pausbäckigen Idioten.

Viele solcher Leute in der Technoszene. Am Morgen auf der Antaris erzählte dieser Typ, der ein bisschen so aussah wie ein Bodybuilder, von einem furchtbaren Mord, dessen Zeuge er im Fernsehraum des Gefängnisses gewesen war. Er hatte Pillen geschluckt und den ganzen Tag auf jemanden gewartet, der ihn nach Lüchow-Dannenberg mitnehmen sollte, weil seine Graspflanzen Wasser brauchten.

Dienstag, 26. Februar

Die Nachtigall von Ramersdorf ist immer noch auf dem AB: »Du wolltest doch was über mich schreiben, und du hast es vergessen. (...) Wir müssen uns unbedingt zusammensetzen. Weil: Ich hab in einem Lokal gesungen, da in der Käthe-Kollwitz-Straße und die Leute waren so begeistert von mir, aber es hat mir kein Mensch was gegeben, und da hab ich vor Wut jemandem auf die Schulter geklopft, und der hat mich genommen, und der hat mich wie ein Paket rausgeschmissen, dass ich einen Halswirbelbruch hab, und das Auge ist kaputt. Da wollten sie mich zwei Wochen zur Beobachtung ins Urban-Krankenhaus. Bin ich wieder abgehauen.

Weil in der Nacht so ein Verkehrsunfall war, und die haben geschrien, als wenn sie geschlachtet worden wären. Bin ich auf eigene Verantwortung wieder abgehauen. Das muss ich mir doch nicht als junger Mensch gefallen lassen; ich seh ja sowieso so furchtbar aus, ich seh sowieso älter aus, als ich bin. Und dann muss ich seelisch drunter leiden, immer wieder, nur weil ich nicht so dick und verfressen aussehe wie andere junge Menschen. Die essen ja nicht, die fressen ja auch, oder?! Aber du wolltest ja was schreiben über mich. Denk an mich. Bitte! Du hast jetzt meine Adresse, und du kannst mich jetzt anrufen. Ach, anrufen kannst du mich ja nicht. Du kannst mir jetzt schreiben, okay? Sei so nett! Servus.

Okay. Goodbye, Goodbye.«

Mittwoch 27. Februar

»Spielt alles keine Rolle für einen großen Geist, murmelt Astrid Lindgrens Karlsson dazwischen, jener kleine Herr mit dem Motor auf dem Rücken, dessen alleiniges Lebensproblem darin besteht, immer die Lage zu finden, in der man richtig liegt mit allen unerlaubten Mitteln.« (Theweleit, 2y, 486)

Freitag, 1. März

Wir taten nichts und redeten wenig, ohne dabei nervös zu werden, obgleich keine Musik lief. Die Stille bestand aus Straßenbahn von Weitem und Autos und dem Atem von uns halt.

Sonntag, 3. März

Am Ende der Party hatten wir zu viert auf Stühlen und Sesseln gesessen, die an der Wand gestanden hatten, und N. hatte weiter gedejingt, im Zentrum seiner Musik hatten verschiedene Versionen von »Sunny« gestanden, und als wir am Ende dann alle standen, hatte er Jim O'Rourke gespielt, »Women of the world take over. Cause if you don't the world will come to an end and it won't take long ...«

Zweimal hatte es am Rand des Gesichtsfelds blau geblitzt und du warst ein bisschen irritiert, hattest erst gedacht, du wärest jetzt doch wohl grad dichter, als gedacht. Vielleicht war es auch nur irgendein irritierendes Element in dem Zimmer gewesen. Da blinkten so viele Lichterketten herum. Einen Moment später hatte es gedonnert, und S. hatte gesagt, hast du das auch gesehn? Ein Gewitter. Ja, klar. »Guck mal. Der Fernsehturm ist weg!«

Der Fernsehturm war tatsächlich weg. Ein paar Sekunden am Morgen war der Fernsehturm umgefallen. Dann war er wieder da.