Die Wissenschaftlerin Shalini Randeria über die Macht der WTO

»Niemand will verantwortlich sein«

Die einzige Möglichkeit, die Welthandelsorganisation (WTO) zu refomieren, liege in ihrer Abschaffung, argumentieren ihre Kritiker. Die Institution selbst hingegen hält das für eine Dämonisierung ihre Tätigkeit und verweist auf ihre Funktion als Vermittlerin bei internationalen Handelsfragen. Bei ihrer gerade angelaufenen neuen Verhandlungsrunde sollen Protektionimus und Subventionen vor allem in den Industrienationen abgebaut werden. Nur damit seien die so genannten Entwicklungsländer besser in die Weltwirtschaft zu integrieren. Eine Argumentation, die wenig glaubhaft wirkt, da sich die Länder des Nordens kaum an die WTO-Vorgaben halten. Shalini Randeria ist Professorin für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit dem Schwerpunkt Nichtregierungsorganisationen (NGO) und internationale Institutionen.

Die WTO betont immer wieder, dass sie faktisch machtlos sei. Ist sie, anders als ihre Gegner meinen, nichts weiter als ein Papiertiger?

Die WTO weist gerne darauf hin, dass ihr Jahresetat deutlich unter dem einiger NGO liege. Bereits diese Tatsache demonstriere ihre praktische Machtlosigkeit. Doch die WTO besitzt eine absolute Sonderrolle, die sie sogar zu einer einflussreicheren Institution macht als etwa den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank.

Die WTO verfügt als einzige supranationale Institution sowohl über rechtliche Kompetenzen als auch über die Möglichkeit, transnationale Normen zu etablieren. Durch so genannte Panels, in denen ausschließlich von den streitenden Staaten benannte Juristen agieren, wird die Einhaltung der WTO-Entscheidungen durch Sanktionen erzwungen. Dabei müssen sich die vom Staat verhängten Sanktionen keinesfalls auf den jeweiligen Streitfall begrenzen, sondern können auf beliebige andere Handelsfelder ausgeweitet werden.

Was kritisieren Sie besonders an den WTO-Entscheidungen?

Kleinere Drittweltstaaten haben bei diesen Panels oft schlechte Karten, weil sie sich keine Rechtsbeistände leisten können, die mit denen der Industrieländer vergleichbar wären. Die Regierungen der G 7-Länder agieren in der WTO gemeinsam mit den multinationalen Konzernen und fungieren faktisch als deren Interessenvertretung. Wenn sich die WTO darauf beruft, dass hier souveräne Staaten agieren, verkennt sie dabei die Machtasymmetrie zwischen den Mitgliedstaaten. Viele der kleineren Staaten des Südens haben nicht einmal die finanziellen Mittel, um sich in Genf eine Vertretung zu leisten.

Ihre These, dass die vermeintliche Machtlosigkeit eine bewusst gewählte Strategie ist, bezieht sich aber nicht allein auf die WTO.

Nein. Hier ist ein interessantes Wechselspiel zu beobachten. Natürlich liegt der WTO an einem möglichst schwachen Image. Sie möchte die Interessen der Industrienationen und multinationalen Konzerne durchsetzen und gleichzeitig diese Vereinbarungen als gleichberechtigte Entscheidung der beteiligten Nationalstaaten kaschieren. Umgekehrt geben aber auch die einzelnen Regierungen vor, gegenüber der WTO völlig machtlos zu sein. Dabei hätten größere und wirtschaftlich stärkere Länder der so genannten Dritten Welt wie Indien, Brasilien oder Südafrika sehr wohl die Möglichkeit, die Interessen ihrer Bevölkerung besser zu vertreten. Sie lassen allerdings rechtliche Spielräume absichtlich ungenutzt, weil auch sie nicht vorrangig die Interessen der Armen, sondern die der Großkonzerne und der Oberschicht repräsentieren.

Wenn sie der Bevölkerung vermitteln können, dass die WTO für die nationale Politik und die entsprechenden Gesetze zumindest in einem hohem Maße verantwortlich ist, brauchen sie ihr eigenes Handeln nicht mehr zu rechtfertigen. Deshalb argumentieren sowohl die nationalen wie die supranationalen Akteure, dass sie kaum Einfluss auf die Entscheidungen haben. Niemand will verantwortlich sein.

Wenn nicht mehr erkennbar ist, wer die Verantwortung trägt, gegen wen sollen sich dann die Proteste richten?

Manche linke GlobalisierungskritikerInnen lösen dieses Problem, indem sie systemkritisch argumentieren. Sie begreifen sowohl Institutionen wie die WTO, den IWF und die Weltbank als auch die VertreterInnen der einzelnen Nationalstaaten als Teil eines gemeinsam Problems, d.h. einer neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Wenn damit jedoch gemeint ist, Institutionen wie die WTO oder den IWF abzuschaffen, dann halte ich das für Traumtänzerei. Wer diese politische Linie vertritt, verspielt jede Chance, auf politische Entwicklungen noch Einfluss zu nehmen.

Mittlerweile fordert doch sogar der Schweizer UN-Sonderbeauftragte für das Recht auf Nahrung, Jean-Ziegler, die Abschaffung der WTO.

Der Streit um die Abschaffung oder die Reformierung solcher Institutionen wird schon seit mehr als 20 Jahren geführt. Für mich ist und bleibt der einzig realistische Weg die ständige Kritik solcher Institutionen bei gleichzeitigem Bemühen um eine Reformierung. Und die darf nicht einigen Experten überlassen werden. Sie sollte vielmehr von basisnahen Gruppen und sozialen Bewegungen mitgetragen werden. Vor allem die Frauen-NGO sollten sich verstärkt um die harten Politikfelder, sprich Wirtschaft, Finanzen und Handel kümmern und Institutionen wie den IWF und die WTO unter Druck setzen, damit sie ihre Politik gender-gerecht gestalten.

Wieso setzen Sie besonders auf die Frauen?

Immerhin sind es vor allem die Frauen in der Dritten Welt, die unter den Auswirkungen der Globalisierung maßgeblich zu leiden haben. Die Globalisierung hat in den Ländern der Dritten Welt neue Arbeitsbereiche geschaffen, die oft von Frauen besetzt sind. Die dadurch gewonnene finanzielle Autonomie lockert bestehende patriarchale Strukturen und schafft für die Frauen größere Handlungsspielräume. Meist sind diese neuen Jobs allerdings im sozial ungesicherten Niedriglohnbereich angesiedelt und schaffen damit auch neue Unterdrückungsformen und Abhängigkeiten.

Es müssen also verstärkt die NGO-Frauen aus dem Süden sein, die sich mit der WTO und dem IWF an einen Verhandlungstisch setzen. Nur durch zivilgesellschaftlich getragene Reformen können die Auswirkungen des Kapitalismus sozial verträglicher gestaltet werden. Für die Weltbank und den IWF müssen die gleichen Maßstäbe gelten, die sie selbst seit langem von den einzelnen Nationalstaaten verlangen: Transparenz, Demokratie und Rechenschaftspflicht. Die internationalen Institutionen müssen für ihre Fehler Schadensersatz leisten. Diese Pflicht würde wahrscheinlich ihr Handeln wesentlich verändern.

Im Trikont werden mittlerweile viele Dienstleistungen, die der Staat nicht mehr anbieten kann oder will, von NGO übernommen - ohne dass sie dabei noch auf politische Veränderungen drängen.

Das ist tatsächlich eine problematische Entwicklung. NGO im Süden sind finanziell entweder vom Staat oder von Geberinstitutionen aus dem Norden abhängig. Oft verlieren sie dabei ihre kritische Funktion und ihr politisches Potenzial. Völlig entpolitisiert werden sie zum bloßen billigen Ersatz für diejenigen staatlichen Funktionen, die im Zuge der Strukturanpassung und neoliberalen Umstrukturierungen des Staates abgebaut worden sind. Anstatt politischen Protest gegen den Staat, transnationale Konzerne oder supranationale Institutionen zu leisten, werden die NGO als basisnahe Dienstleistungsinstitutionen tätig. Mit dem Unterschied allerdings, dass sie nicht den BürgerInnen gegenüber Rechenschaftspflicht haben, sondern primär gegenüber ihren Geldgebern.

Dennoch gibt es NGO, die institutionelle Reformen durchsetzen. Das ist auf jeden Fall besser, als von vornherein auf diese Möglichkeit zu verzichten. Denn davon auszugehen, dass das kapitalistische System und seine Institutionen verschwinden würden, ist reines Wunschdenken.