Französische Popmusik

Ausweitung der Tanzzone

Popmusikalisch ist Frankreich ein Entwicklungsland. Aber neuerdings passiert was.

Im Sommer vor fünf Jahren tönte aus tiefergelegten Golfs mit heruntergelassenen Fensterscheiben und offenem Schiebedach nicht wie sonst die Sorte Techno, zu der man auf Ibiza Sangria aus Eimern trinkt, sondern Daft Punks »Around the world«. Plötzlich war alles anders. House war Massenmusik und nicht mehr nur der Sound, zu dem sie in New York und Chicago in stark von Schwulen frequentierten Clubs die Hände in die Luft reißen und zu dem sich ein paar Hipster in Europa ein ewig hedonistisch gelebtes Utopia erträumten. Auch Whirlpool Productions aus Köln gelang mit »From: Disco to: Disco« das Wunder, einen credibilen Housetrack an die Spitze der italienischen Charts zu katapultieren und bei Strandpartys an der Riviera Badehosen zum Flattern zu bringen. Doch niemand hatte je zuvor mit einer House-Platte einen weltweit derart massiven Erfolg wie Daft Punk mit ihrer Debütplatte »Homework«, dem »Nervermind« der Dancemusik, die die Kategorien Underground und Mainstream nun auch auf dem Housesektor gehörig durcheinanderwirbelte.

Das eigentlich Erstaunliche aber am Phänomen Daft Punk und der bald darauf ausgerufenen French-House-Bewegung, die sich zwar nicht nur, aber doch sehr stark auf Paris konzentrierte, war, dass diese Neudefinition von House als massenkompatible Musik ausgerechnet von Frankreich ausging. Frankreich mag einiges zum Denken des Abendlandes beigetragen haben, auch die Filme von Jean-Luc Godard und François Truffaut sehen wir uns immer wieder gerne an, doch in Sachen Popmusik konnte man aus Frankreich noch nie Entscheidendes und nur selten Erträgliches erwarten. Chansons, in denen es darum ging, wie es ist, wenn man einen Rotwein über den Dächern von Paris trinkt, haben nie dafür getaugt, als Soundtrack für eine anständige jugendliche Rebellion zu dienen, und letztlich sind Chansons nun mal die einzige Musikform, die in Frankreich wirklich so etwas wie eine Tradition hat.

Popmusik funktioniert nicht, wenn sie nur Klischees und Tradiertes aufgreift; die Klischees müssen vielmehr hemmungslos überstrapaziert werden, und gleichzeitig müssen Traditionen zugunsten fremder, neuer Einflüsse aufgegeben werden. Manchmal gelang das den Franzosen. Serge Gainsbourg mimte wie kein anderer den typisch französischen Lebemann, den man heute immer noch begeistert in einer Figur wie Michel Houellebecq erkennen mag. Er hatte die schönsten Frauen, obwohl er morgens schon seinen ersten Drink brauchte, und war fähig, die verruchtesten Songs zu schreiben, obwohl er mittags schon sternhagelvoll war. Wein, Weib und Gesang, das verspricht man sich ja von Frankreich wie dolce vita und Pizza von Italien und auf den Tischen tanzende Trachtenträger vom Münchner Oktoberfest. Und alles, was man sich von Frankreich versprach, bekam man von Gainsbourg. Voilá!

Oder die Lolita. In französischen Filmen hüpfen immer irgendwelche Lolitas herum, die Männer verführen, die ihre Väter sein könnten, um am Ende mit einem Loser aus einer schlimmen Rockband abzuziehen. Weil Vanessa Paradis so perfekt die französischste aller französischen Lolitas mimte, fanden alle ihr »Joe Le Taxi« so toll, hier bekamen Männerphantasien ein Zuhause, ein schöner Song war es außerdem und eine Eintagsfliege erst recht.

Das, was sie hin und wieder für einen Moment weltweit erfolgreich machte, war auch gleichzeitig immer das große Problem der französischen Popmusik. Da sie auch sprachlich immer etwas typisch Französisches hatte, fehlte ihr das Universale für einen dauerhaften globalen Erfolg. Auch wenn in den späten Achtzigern Bands wie Mano Negra oder Les Negresses Vertes mit ihrem bunten Folklore-Punk ziemlich aufregend waren, blieb ein ähnlich gearteter Act wie die Pogues auf Dauer erfolgreicher, schon deswegen, weil etwa Les Negresses Vertes zu sehr ein statisches exotisches Multikulti-Modell anboten, dass sich dennoch mit ihrem französischen Gesang assimiliert gab, ohne sich von Platte zu Platte zu transformieren. Immer wieder gab es französische Eintagsfliegen wie etwa das seltsame Fräulein Lio, deren Platten auch auf dem Londoner Camden-Markt zu finden sind, doch es wollte sich einfach nicht so etwas wie eine irgendwie geartete Szene entwickeln, die auch außerhalb Frankreichs Beachtung fand.

Wirkliche Entgrenzung hat tatsächlich nur die französische Dance-Szene hinbekommen. Lange Zeit wurde der französische HipHop für international konkurrenzfähig gehalten, doch es blieb bei Ausnahmeerfolgen wie dem von IAM oder MC Solaar, der zwar vor einiger Zeit auf einer Platte von Missy Elliot mitmachen durfte, von dem man aber seitdem nichts Weltbewegendes mehr gehört hat. Nur die französische Dance-Szene scheint sich vom Nationalen wirklich lösen zu können, nur hier wird wirklich global agiert. Weil es in Frankreich, anders als in Deutschland oder England keine Tradition elektronischer Musik gibt, wird sich einfach auf Kraftwerk oder New York berufen, werden die eigenen Roots irgendwo in der Welt vermutet. Das hat eine Freiheit geschaffen, die der stark im eigenen Saft schmorenden deutschen Elektronikszene oft abgeht. Nicht nur im französischen HipHop, auch im French-Dance kommt viel von Migranten, wobei dem französischen Dance jedoch das Street-mäßige des French-HipHops völlig abgeht, der stark in den Banlieus verwurzelt ist. Man sehe sich nur mal die beiden Milchbubis von Air an, das sind die, denen die Lacoste-Polohemden so gut stehen. Ein Migrant ist auch Mirwais, der das letzte Album von Madonna produzieren durfte und selber eine überzeugende Platte zwischen Trash-Disco, House und Kraftwerk vorgelegt hat. Er ist in der Schweiz geboren, seine Mutter ist Italienerin und sein Vater Afghane.

Nach dem ersten Hype um French-Dance konsolidiert sich die Szene derzeit. Die letzten Platten der first generation des French-House waren Enttäuschungen wie die von Daft Punk oder Alex Gopher oder verkauften sich nicht mehr so gut wie etwa der Nachfolger Airs zum global player »Moon Safari«. Es finden einige Bewegungen statt in der französischen Popmusik. Die große Zeit des French-House ist vorbei und dennoch tut sich was; es gibt immer mehr Dance-Acts und Labels in und aus Frankreich. Außerdem wird stark ausdifferenziert, Wege beschritten, die man in England und Deutschland längst abgegangen ist. Techno, Dub und Frickelelektronik, kommen inzwischen auch aus Frankreich, und immer mehr davon ist mehr als interessant. Wenn man bedenkt, dass Frankreich vor ein paar Jahren auf der popmusikalischen Landkarte gar nicht verzeichnet war, ist das eine durchaus erstaunliche Entwicklung.