Giorgio Agambens »Homo sacer«

Des Staatsbürgers neue Kleider

Giorgio Agamben zieht die Menschenrechte ab und lässt den Homo sacer einsam zurück.

Paradoxien sind in letzter Zeit der absolute Hype in der Philosophie.Was soll nicht alles paradoxerweise dasselbe sein, Leben und Tod, Herrschaft und Unterwerfung, Recht und Unrecht, Täter und Opfer, Engagement und Indifferenz - rein strukturell betrachtet natürlich. Ein solches paradoxes Denken kann zu neuen Erkenntnisse über gesellschaftliche Strukturen verhelfen und produktive Verunsicherung schaffen; es kann aber auch in grenzenloser Verwirrung enden und damit ins gesellschaftliche und politische Nirwana steuern. Derart gestimmt, liest sich die Vorrede zu Giorgio Agambens »Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben« wie im Rausch. Da ist endlich einer, der sich wirklich mit dem ominös-schillernden Lebensbegriff, wie ihn die Kritik der Biopolitik gebraucht, auseinandersetzen will; endlich einer, der neben der »Positivität der Diskurse« und der subjektivierenden Mikromächte auch der Objektivität und Negativität staatlicher Macht und Herrschaft als ihrer Voraussetzung gewahr ist; und endlich einer, der nicht in antiken Praktiken des Selbst eine mögliche Perspektive zur Kritik moderner Macht- und Herrschaftspraktiken sucht, sondern in einer Analyse und Kritik »der Grenzen der originären Struktur der Staatlichkeit« die Unzulänglichkeit der anarchistischen und marxistischen Staatskritik beheben möchte. Denn diese Kritik des Staates lief in der Praxis darauf hinaus, dass sie sich mit dem Gegner identifizierte.

Der Rechtsphilosoph Giorgio Agamben will im Anschluss an die biopolitischen Thesen des späten Michel Foucault dessen nicht-juridisch-institutionelle Konzeption der Biomacht überprüfen und sie gewissermaßen komplettieren, indem er sie mit dem Kern der souveränen Macht - der Macht über Leben und Tod - konfrontiert. Die Biomacht wird mit Phänomenen wie dem KZ, dem Flüchtling, dem medizinisch-technischen Komplex, genauer: dem staatlich produzierten Recht dazu, überprüft und erweitert. Foucault selbst sei nicht mehr dazu gekommen, diese Konzeption weiter auszuarbeiten, nachdem er die juridisch-institutionellen Aspekte und Voraussetzungen seiner Diskursanalysen der modernen Biomacht vorerst beiseite gestellt habe. Agamben beansprucht also, das Buch geschrieben zu haben, das Foucault selbst hätte schreiben müssen, wenn er sich nicht zuletzt von der Kritik der Biopolitik abgewendet und sich den Fragen der Staatlichkeit und Souveränität unter dem eher subjektiven Aspekt der »Gouvernementalité« gewidmet hätte.

»Homo sacer« argumentiert streng rechtsphilosophisch und stellt die Makropolitik und die Frage nach der Souveränität ins Zentrum der Überlegungen. In einer brillanten Auseinandersetzung mit Carl Schmitts Souveränitätstheorie und einer mythologisch inspirierten Amalgamierung der antiken Rechtsfigur des Homo sacer mit der Thomas Hobbesschen Naturrechtslehre und ihrer Einschreibung in den Gesellschaftsvertrag werden die zentralen Thesen entwickelt. Agamben geht dabei von der aristotelischen Unterscheidung zwischen zoé, dem nackten, bloßen Leben, und bíos, dem politisch-gesellschaftlichem Leben, und zên, dem Leben im Allgemeinen, und cû zên, die dem Menschen eigene Lebensart, aus. In der Politisierung des nackten, bloßen Lebens erkennt er das entscheidende Ereignis der Moderne, nämlich die »radikale Transformation der klassischen politisch-philosophischen Kategorien«. Indem die Souveränität den biopolitischen Körper der Bevölkerung produziert, wird das nackte Leben einerseits zur Grundlage der abendländischen Politik, andererseits aber wird das nackte Leben aus der Politik ausgeschlossen.

Das nackte Leben meint bei Agamben »das Leben des Homo sacer, der getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf«; der Homo sacer, diese »obskure Figur des archaischen römischen Rechts«, wird zur Grundlage seines Gedankengebäudes. Genealogisch arbeitet er heraus, wie dieses nackte Leben »ursprünglich am Rand der Ordnung angesiedelt, im Gleichschritt mit dem Prozess, durch den die Ausnahme überall zur Regel wird, immer mehr mit dem politischen Raum zusammenfällt und auf diesem Weg Ausschluss und Einschluss, Außen und Innen, zoé und bíos, Recht und Faktum in eine Zone irreduzibler Ununterscheidbarkeit geraten«.

Der Souverän nämlich definiert ein Gesetz, ohne ihm selbst unterworfen zu sein. Er steht nach Agamben quasi gottgleich außerhalb der Norm und ist doch durch »einschließende Ausschließung« mit der Norm verbunden. Recht und Gewalt, Naturzustand und Gesellschaftlichkeit, Regel und Ausnahme fallen in eins. Die Gesellschaft und ihre Politik ergeben eine Art Ausnahmezustand in Permanenz.

Die Souveränität und mit ihr der Ausnahmezustand als Regel sowie die Politisierung des nackten Lebens fallen in der Biopolitik der modernen Staaten zusammen. Im Unterschied zu Foucault meint Agamben, dass in der modernen Politik nicht mehr das Leben des Menschen als Lebewesen auf dem Spiel steht, sondern das »nackte Leben des Staatsbürgers«, der neue biopolitische Körper der Menschheit«. Leben und Politik - ursprünglich voneinander getrennt - werden identisch, alles Leben wird dadurch heilig und alle Politik Ausnahme. Die Politik wird notwendig Biopolitik, sie ist als solche totalitär und produziert stetig das »nackte Leben«, obwohl sie doch gerade das Gegenteil beansprucht. Das »Lager wird zum biopolitischen Paradigma der Moderne«. Statt Lebenssteigerung, wie bei Foucault, ist die Produktion bzw. Vernichtung des Anderen, Ausgegrenzten das Telos moderner Biopolitik - so könnte man Agamben zusammenfassen.

Hier aber beginnen spätestens die Probleme, die auf die trickreichen Operationen verweisen, welche Agamben anstellt. Produktion und Vernichtung des nackten Lebens - ist das tatsächlich dasselbe? Sind also Arbeits- und Vernichtungslager identisch? Strukturell - so glaubt Agamben - produziert das souveräne Recht lebende Tote; die Opfer in Auschwitz, der Koma-Patient und der Abschiebehäftling besitzen nun denselben Status, denn der Entrechtung folgt die Reduzierung der politischen Existenz auf das nackte Leben, mit dem die Souveränität willkürlich verfahren kann. Souverän ist nämlich nach Agamben nicht nur, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, »souverän ist, wer töten kann, ohne einen Mord zu begehen«. Der Ausnahmezustand wird zum Regelfall; ursprünglich auf den Krieg hin definiert, wird der Ausnahmezustand von Agamben so gefasst, dass er in der Lage ist, als solcher den Körper der Ausgegrenzten zu produzieren. Damit werden Ausgegrenzte und zum Tode Verurteilte identisch.

Während bei Foucault die moderne Biomacht noch dadurch definiert war, dass sie »Leben macht und Sterben lässt« - während die alte Souveränitätsmacht Sterben machte und Leben ließ -, so reduziert Agamben dies auf eine Macht, die wahlweise »nacktes« Leben schafft oder es tötet. Dies konnte allerdings auch schon der antike, feudale oder bürgerliche Staat, und zwar ohne sich eigens auf den Staatsnotstand berufen zu müssen.

Seit der Antike also nichts Neues? Trotz des beeindruckenden theoretischen Aufwands, den Agamben mit seiner Untersuchung betreibt, ist das Resultat letzlich enttäuschend. Am Ende steht die Metapher des Homo sacer der Macht so einsam und verlassen gegenüber, wie sie zu Beginn der Untersuchung eingeführt wurde. Diesen Homo sacer kann nur noch eine Gottheit retten; durch politische Handlungen ist seine Situation nicht mehr zu verändern. Diese apokalyptische Struktur ergibt sich auch deshalb, weil Agamben in post-poststrukturalistischer Manier seine Begriffe jeweils genau so weit ausdehnt, bis sie auch das genaue Gegenteil der ursprünglichen Bedeutung umfassen. Dekons-truktion funktioniert jedoch anders, Gesellschaftskritik auch.

Agamben gelingt seine apokalyptische Komposition nämlich nur, weil er im Begriff des Homo sacer historisch und gesellschaftlich Entgegengesetztes zusammenschnürt: die aus der archaischen Zeit stammende Bedeutung eines als heilig verehrten Eremiten und die aus der klassischen Zeit stammende eines Verbannten, Ausgegrenzten, der zum Tode verurteilt und damit straflos getötet werden kann. War der Homo sacer ursprünglich der Macht entzogen, und damit in gewisser Weise heilig, weil seiner selbst mächtig, so wird er im römischen Recht der Herrschaft unterworfen; er ist nicht mehr der Heilige, sondern der Vogelfreie.

Mit derlei schillernden Begriffen und suggestiv-strukturellen Operationen gelangt Agamben zügig von der Antike in die Gegenwart und landet damit beim Topos des Konzentrationlagers. Als »Recht auf Leben, auf den Körper, auf die Gesundheit, auf das Glück, auf die Befriedigung der Bedürfnisse«, wie er Foucault zitiert, sei heute das nackte Leben die Grundlage der modernen Gesellschaft und der Menschenrechte im Nationalstaat. Dabei wird von Agamben großzügig übersehen, dass das Streben nach Glück, Unverletzlichkeit des Körpers, Gesundheit und Bedürfnisbefriedigung das genaue Gegenteil des gesellschaftlich-geschichtlichen Gehalts seines Homo sacers darstellt. Es ist nämlich gerade nicht das nackte, sondern das qualifizierte Leben.

Trotz dieser Defizite bietet Agamben mit der Analyse der Position des Flüchtlings in einer Welt niedergehender Nationalstaaten, die erst die Bürger- und Menschenrechte hervorgebracht haben, einen brauchbaren Vorschlag, über deren Situation systematischer Entrechtung nachzudenken. Allerdings unterschlägt er großzügig, dass die Erosion der Nationalstaaten gerade mit einem Verlust an Souveränität einhergeht - und sie gerade deshalb nicht mehr, wie zur Zeit des Nationalsozialismus, bedrohte Menschen ignorieren können. Diesen Menschen das nackte Leben zu retten, ist keine totalitäre Entwertung von Leben, sondern bedeutet das Gegenteil.

Giorgio Agamben: Homo sacer. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2002, 211 S., 10 Euro