Argentinischer Krisenpop

Du bist ein Scheißbulle

Seit die Krise in Argentinien den Mittelstand erfasst hat, wird rebellische Popmusik auch in Nobeldiscos gespielt.

Sie sind total korrupt, alle. Alles Drogendealer. Der Präsident hält die Leute ruhig mit dem gewaschenen Geld, und die aus dem Norden machen uns fertig.« So denken im Moment viele ArgentinierInnen über ihre Politiker. Seit am 20. Dezember 2001 ein sozialer Aufstand quer durch alle Bevölkerungsschichten die Regierung de la Rúa aus dem Amt gejagt hat, traut man sich auch, es laut auszusprechen. In asambleas barriales (Nachbarschaftsversammlungen), bei piquetes (Straßenblockaden der Arbeitslosen) oder Demonstrationen wird der Wut freier Lauf gelassen. Doch Argentinien befindet sich nicht erst seit Dezember in der Krise, die Misere hat eine lange Vorgeschichte, denn die peronistische Regierung des Populisten Menem perfektionierte den neoliberalen Ausverkauf des Landes schon in den neunziger Jahren.

Bereits 1998 setzte ihm die Band Las Manos de Filippi mit dem Stück »Señor Cobranza« (Herr Kassierer) ein Denkmal; übrigens ein zeitloses, denn die oben zitierte Politikerschelte stammt aus diesem Song. Der Sänger Cabra erklärt dazu: »Wir klagen Dinge an, die eigentlich jeder weiß. Wir erfinden die Sätze nicht, sondern übernehmen sie von der Oma aus dem Eckladen.« Ende der neunziger Jahre gehörten Musiker wie die Manos zu den wenigen kämpferischen Stimmen in Argentinien. Sie verbanden Punk mit Cumbia, einem in ganz Lateinamerika populären Stil. Ihre scharfen Töne wie »Wir müssen den Präsidenten töten, wir müssen sie alle töten, wie soll ich sonst mein Kind ernähren« fanden in den Neunzigern allerdings keine weite Verbreitung, nicht zuletzt, weil die großen Radiosender ihre Stücke zensierten.

Dieselben Sender haben nach dem 20. Dezember 2001, als nach Krawallen die Regierung de la Rua gestürzt wurde, ihre Meinung geändert. Seitdem ist es chic, die extremistische Punk-Cumbia zu spielen. Bands wie die Manos verfügen über Street Credibility. Deshalb dürfen sie ihre 2002-Tour durch Argentinien auch insurrección popular, huelga general (Volksaufstand und Generalstreik) nennen, ohne sich opportunistisches Gehabe vorwerfen lassen zu müssen. Deutlich wird dies z.B., als der Tour-Bus der Manos auf der Fahrt durch Patagonien an einem piquete vorbeikommt. Hier wird von allen AutofahrerInnen eine »Solidaritätsgebühr« verlangt. Einer der jugendlichen Arbeitslosen trägt ein T-Shirt der Manos. Die gegenseitige Sympathie ist unverkennbar, sie kommt auch im neuesten Hit der Manos zum Ausdruck: »Die besten, die einzigen / sind die Methoden der piqueteros.« Angesichts solcher Agitproptexte sprechen einige Medien schon vom Rock Piquetero.

Propheten in der eigenen Band

»Sie sind sehr explizit in ihren Texten. Aber das ist gut so«, meint Pedro von Karamelo Santo über seine Kollegen. Die siebenköpfige Band, die in der Andenstadt Mendoza ihren Ursprung hat, ist in diesem Sommer zum ersten Mal durch Europa getourt. Ihre Musik verbindet Rock und Ska mit lateinamerikanischer Folklore und Cumbia. Die politischen Standpunkte gleichen denjenigen der Manos, sind allerdings weniger polemisch. Aber: »Wir kommen alle aus Mittelschicht- oder Unterschichtfamilien, allein deshalb betreffen auch uns die wirtschaftlichen Probleme Argentiniens.«

Trotz des relativen Booms der linken Bands ist ihre Musikproduktion von der Krise betroffen. Während die Manos erst gar keine neue Platte aufnehmen können, wird die neueste Produktion von Karamelo Santo mit neunmonatiger Verspätung auf den Markt kommen. »Das Interessante an der Platte ist, dass wir sie vor dem 20. Dezember aufgenommen haben und sich Argentinien seitdem sehr stark verändert hat. Dennoch hat unsere Platte nichts an Aktualität eingebüßt«, erzählt der Saxofonist Pablo. Der Bassist Diego ergänzt: »Einige Stücke haben nach dem Aufstand sogar an Aussagekraft gewonnen.« Zum Beispiel »la picadura«. Dieses Stück von der neuen Platte »Los guachos« handelt von der Schuldenlast Argentiniens, ihrem Zusammenhang mit der Militärdiktatur und den IWF-Maßnahmen: »Mit Hilfe des Todes / fingen sie mit der Verschuldung an / und jetzt wollen sie, dass wir bezahlen / was man nicht bezahlen kann.«

Tatsächlich sind Arbeitslosigkeit und Armut während der letzten Monate in Argentinien rapide angestiegen. 20 von 36 Millionen EinwohnerInnen leben unter der Armutsgrenze. Pablo hebt die wirtschaftlichen Engpässe beim Publikum hervor: »Obwohl unsere Konzerte nicht sehr teuer sind, meistens knapp einen Dollar, können die Leute das nicht zahlen. Für uns ist Musik total wichtig, aber neben dem Bedürfnis der Leute, was zu Essen zu haben, ist sie doch zweitrangig.«

Seit 1997 wohnen die meisten Mitglieder von Karamelo Santo in La Boca. Dieser Stadtteil von Buenos Aires zeichnet sich durch seinen traditionell kämpferischen Charakter aus. Diego erzählt, wie sich die Band bei den aktuellen Mobilisierungen einbringt: »Wir haben schon auf vielen Stadtteilversammlungen Musik gemacht. Bei einigen haben wir den Ruf weg, dass wir die Band für die asambleas sind. Sie rufen bei uns an und sagen: 'Ey, ihr müsst nach Las Flores kommen, da ist gerade eine Straßenblockade!' Wir fahren dann hin und spielen ein paar Stücke. Man könnte sagen, dass das unsere Art und Weise ist, auf den Kochtopf zu schlagen.«

Trotz ihrer Nähe zu den aktuellen Protesten sind weder die radikalen Las Manos de Filippi noch die sympathischen Karamelo Santo Bands, die Massenhysterie auslösen. Unter Linken, Punks und Hippies sind sie zwar bekannt und beliebt, dennoch treten sie vor allem in kleinen Clubs auf. Die großen Stadien füllt eher die Rockband La Renga, etwa als die Gewerkschaftsjugend sie im Juli für ein Solikonzert »gegen den Hunger und die Arbeitslosigkeit« engagierte. Eintritt: eine nicht verderbliche Lebensmittelspende und ein Kleidungsstück für Kinderhorte in Armenvierteln, den sogenannten Villas.

Gangsta-Rap aus den Villas

In diesen Siedlungen am Stadtrand von Buenos Aires hat ein anderes, derzeit äußerst erfolgreiches Popphänomen seinen Ursprung: die Cumbia Villera. Musikalisch gesehen ist sie recht unspektakulär. Die Sprengkraft liegt in den Texten. Bands wie Flor de Piedra, Yerba Brava oder Los Pibes Chorros besingen plastisch den harten Alltag im Elendsviertel: Gewalt, Stress mit Bullen, Drogen und Sex.

Auch die Tatsache, dass echte Villeros auf der Bühne stehen, die vielleicht gerade selbst aus dem Knast entlassen wurden, stiftet Identität und füllt die Konzerte. Der erste Hit dieses Genres ist von Flor de Piedra und heißt »Gatillo Fácil« (»Schneller Abzug«). Mit diesem Terminus wird die brutale Linie der Hauptstadtpolizei bezeichnet, der in den neunziger Jahren Hunderte von Jugendlichen aus den Elendsvierteln zum Opfer gefallen sind.

Für Zeilen wie »Du bist ein Scheißbulle / du bist der größte Feigling / der mir je begegnet ist« musste Flor de Piedra schon viel Kritik einstecken. »Aber wenn wir in einem Refrain die Polizei kritisieren und die Leute darauf abfahren, dann muss es doch auch einen Grund dafür geben. Seien wir mal ehrlich: Wer von uns ist nicht sauer auf die Bullen?«, meint der Bandgründer Pablo Lescano dazu. Pedro von Karamelo Santo sieht in den Villeros gar »die Punks von heute. Allerdings reden sie auch viel Schrott, allein was sie über Sex und Mädels singen!«

Für den argentinischen Soziologen Jorge Elbaum stellen die derben Texte der Cumbia Villera eine Art symbolische Rache an gängigen sozialen Konzepten dar: »Nur die negativen Klischees über Villeros werden dargestellt, eine Art Selbstdiskriminierung findet statt.« Einige Analytiker ziehen den Vergleich zum US-amerikanischen Gangsta-Rap, in dem ebenfalls der Kult um Waffen, Gangs, Drogen und Misogynie gefeiert wird. Eine Parallele ist gewiss nicht von der Hand zu weisen: Als cabezas negras, »schwarze Köpfe«, bezeichnen die oberen Schichten abfällig die meist mestizischen BewohnerInnen der Villas. Die wiederum begrüßen die Fans mit einem stolzen »Guckt her, wie die Schwarzen singen!«

Die Cumbia Villera ist zum Modetrend geworden. Die langhaarigen Typen in Jeans und Trainingsjacken bringen mittlerweile auch Mittelschichtkids in Verzückung. Was früher ein Synonym für schlechten Geschmack war, wird heute in Nobeldiscos aufgelegt. Einige Linke sehen darin sozialromantisch verklärend einen Aufstieg der marginalisierten Bevölkerungsschichten. Doch den Erfolg haben einmal mehr die Marketingstrategen, die früh das kommerzielle Potenzial des Genres erkannt haben. Die uruguayische Zeitung Brecha bringt es auf den Punkt: »Die Villero-Bands sind weit davon entfernt, Protest-Musik zu machen. Die Musik ist tanzbar, lustig, und sie Thematisiert den Alltag.«

Ein anderes Massenphänomen, die kolumbianische Pop-Göttin Shakira, hat derweil im krisengeschüttelten Argentinien keinen leichten Stand. Mitte März erschütterte eine politisch brisante Nachricht die Popwelt: Die Musik-Kaufhauskette Tower Records boykottiert Shakiras letztes Album. Denn in dem Video »Underneath your clothes« turtelt der Megastar mit Antonio de la Rúa - und der ist nicht nur ihr Lebensabschnittspartner, sondern auch der Sohn und ehemalige Berater des früheren Präsidenten. When pop meets politics.

Karamelo Santo: Perfectos Idiotas (TTM-Records)
Karamelo Santo: Los guachos (Übersee-Records) erscheint voraussichtlich im September

Gekürzter Nachdruck aus iz3w.