Fußballwetten

Herr Memed sucht das Glück

Wer professionell auf Fußballergebnisse wettet, hat eine richtige Arbeit inklusive Ausbildung.

Memed führt eine prekäre Existenz. Den Grundlohn erhält er vom Sozialamt, saisonal arbeitet er als Zocker im Goldesel, einem Sportwettbüro in Friedrichshain. Der Job als professioneller Zocker erfordert permanente Weiterbildung. Zweimal wöchentlich studiert Memed den Kicker, einmal wöchentlich das Sportwettenmagazin Tipp Mit vom staatlichen Sportwettenunternehmen Oddset und die türkische Fussballzeitung Fanatik. Hinzu kommen Tageszeitungen mit einem guten Sportteil und Updates aus dem Internet.

Aber das reicht nicht. Wir sitzen in Memeds Wohnung. Der Fernseher läuft. Auf dem Bildschirm sind die Kryptogramme des Videotextes zu sehen. »Wenn ich zu Hause bin, ist das da immer an«, sagt Memed. Hier werden die aktuellen Ergebnisse aller Fussballspiele des Planeten in unendlichen Zahlenreihen aufgeführt.

Vor Memed liegt ein dicker Papierstapel: »Das ist mein Unglück!« Die Zettel sind seine gesammelten Tippscheine aus der letzten Saison. Alles Verlustgeschäfte. Am Ende einer Saison bilanziert Memed den Kapitaleinsatz und den Reingewinn. »Nach Rechnungsabschluss«, so versichert er, »entscheide ich, ob es lukrativer ist, diesen Job weiterzumachen oder einer gewöhnlichen Lohnarbeit nachzugehen.«

Memeds Freund Emre kommt zufällig vorbei. Sein Chef braucht morgen früh noch einen Mann zum Zeltaufbau. »Wie viel zahlen die?« fragt Memed. »Sieben Euro!« Memed überlegt kurz, aber er ist Rock'n Roller und Autonomer: »Ach Scheißarbeit. Sechs Uhr aufstehen, schwitzen, kein Bock, lass uns gehen!«

Es ist Freitagabend und Zeit, den Goldesel zu besuchen und die Tippscheine, oder wie Memed sie nennt, seine »Gedichte« abzugeben. Die Mischung aus biederer Stammtischkneipe und Bahnhofswartehalle in diesem Etablissement erinnert an die Tristesse in Jim Jarmuschs »Stranger than Paradise«. Allerlei normales Berliner Elend, aber auch die migrantische Schickeria betritt den Ort. Im Zentrum des Raums steht das Kassenhäuschen. Trotz, aber wahrscheinlich eher wegen seiner unbestreitbaren Bedeutung sieht es aus wie eine Gartenlaube. Hier herrscht ein fast lautloses Kommen und Gehen. Tippscheine und Geld werden abgegeben, Quittungen mitgenommen.

An den Tischen herrscht eine konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Hier werden Statistiken ausgewertet, Tabellen verglichen, und Quoten errechnet. Die einzigen, die laut reden, sind Fred, ein ostdeutscher Busfahrer im Vorruhestand, und seine Kumpels. »Seit 30 Jahren bleiben wir dem Goldesel treu«, erzählen sie.

Wenn Zocker arbeiten, interessieren sie sich nicht für den Sport, sondern für die zugrunde liegende Datenstruktur aus Zahlen, Zeichen und Buchstaben. Sofern man »seine Ausbildung« abgeschlossen hat, kann man im Goldesel überall mittippen, von der argentinischen bis zur japanischen Fußballregionalliga. Ausbildung? Memed erläutert, dass man bis zu einem halben Jahr unentgeltlicher Lehrzeit investieren muss, um einen Überblick über Mannschaften und Spielsysteme anderer Länder und Sportarten zu gewinnen. Alles andere funktioniert dann wie in einem eigenständigen Unternehmen, man muss immer am Ball bleiben.

Bernd Hobiger, der schon in der DDR eine Buchmacherlizenz für Pferderennen besaß und heute der Inhaber des Goldesel ist, entdeckte im Jahr 1990 eine Lücke im System. In der Zeit der Übernahme der DDR durch die BRD holte er sich die Konzession für Sportwetten vom Rat der Stadt Berlin. In der DDR und in der BRD waren Sportwetten eines privaten Buchmachers illegal, und im vereinten Deutschland sind sie es immer noch. Bis auf die 1922 legalisierten und privatisierten Pferderennen kann man nur über das staatliche Lotterieunternehmen Oddset aus der Sportwette eine privatwirtschaftliche Investition machen.

Durch die Sondergenehmigung für Ostlizenzen, die nach dem Einigungsvertrag Bestandsschutz haben, gewinnt der Zocker im Goldesel jedoch am Staatshaushalt vorbei. Außer Hobiger haben nur noch zwei weitere Wettbüros in Ostdeutschland diese Konzession. Zahlreiche Prozesse wurden gegen seine Lizenz angestrengt, jedoch vergeblich.

Zu Ostzeiten war das Business langweilig, erzählt Hobiger, heute hingegen lohne es sich. Wegen der Türken. Mittlerweile fünf Dependancen hat der Goldesel in Berlin eröffnet. Allerdings ist Hobigers Verhältnis zu seinen Kunden ein gespaltenes: »Mit den Türken geht's nicht«, meint er, »aber wir leben ja von denen.« 70 Prozent seines Umsatzes stammen von Migranten. Er hat nur ein Problem mit ihrer »Mentalität«, denn »die werden schnell sauer, wenn sie verlieren«.

Während in der Zentrale an der Landsberger Allee die ostdeutsche Jogginghosenfraktion seinen Laden dominiert, sieht es in der Herrmannstrasse in Neukölln ganz anders aus. Dreimal so viele Fernseher befinden sich an den Wänden. Neben Sportübertragungen laufen andere Wettbewerbe wie Jörg Pilawas Quizsendung. An den mit Papieren übersäten Tischen sitzen fast ausschließlich Migranten, die in kleinen Gruppen ihre Strategien diskutieren.

Dominant ist hier nicht die deutsche Gemütlichkeit, sondern die zehn Meter lange Kassentheke. Hunderte von Leuten stehen vor dem Panzerglas und warten darauf, ihre Arbeitswoche mit einem Fußballwetteinsatz abzuschließen. »Wenn du kein Startkapital hast, dann kannst du auch kein Business machen«, meint Memed. Die Gewinner kommen ein- bis zweimal im Jahr in den Goldesel und wetten 5 000 Euro auf ein Spiel. Wenn sie verlieren, ist es auch egal.

Die anderen, die Lohnabhängigen, die an jedem Wochenende für fünf bis zehn Euro tippen, haben keine echte Chance. Nachdem sie ihren Tippschein abgegeben und die Quittung erhalten haben, laufen sie »drei Tage mit dem Gefähl durch die Stadt, das Glück in der Tasche zu haben«. So sieht es Memed.

Dass sie es doch schaffen können, wird ihnen jedesmal vor Augen geführt, wenn sie den Goldesel betreten. Eine ganze Wand ist mit Tippscheinen behängt, die Auszahlungsbeträge zwischen 10 000 und 20 000 Euro bei fünf bis zehn Euro Einsatz ausweisen.

Die Gründe, sich für den Zockerjob zu entscheiden, sind unterschiedlich. Sinan zum Beispiel, ein Bekannter Memeds, hat kein Geld und eigentlich auch keine Ahnung vom Fußball. Aber alle seine Verwandten machen Fußballwetten. Er braucht gerade 7 000 Euro, um sich vom Militärdienst in der Türkei freikaufen zu können. Was liegt da näher, als die Wochenenden im Goldesel zu verbringen?

Mit solchen prekären Existenzen wollen die deutschen Zocker nicht an einem Tisch sitzen. Im Goldesel hocken die Ostrentner und der Anstandspole in einer Ecke zusammen. Bei Fortuna-Wetten in Kreuzberg sitzen die deutschen Alkis in einem winzigen Zimmer zwischen zwei Fernsehräumen. Bei Albers in Neukölln hocken die Deutschen an einer vom Rest des Raumes getrennten Stammtischtheke.

Auch wenn es manchmal zu einem männlich herzhaften Schulterklopfen zwischen Deutschen und Migranten kommt, schaffen sich die deutschen Zocker überall ihr Separée. Denn, so Memed: »Die Deutschen suchen ihre Gemeinschaft, die Migranten ganz einfach das Geld.«