Am Wannsee

Deutsche Literaten reden über deutsche Literaten.

Ich wollte nicht mehr Radio hören, aber kürzlich schaltete ich beim Gemüseschnippeln doch wieder den Deutschlandfunk ein, weil ich in der Küche gern irgendeinem Geplapper zuhöre. An diesem Abend waren Literaten zu hören. Sie trafen sich am Wannsee zu einer Konferenz, doch nur über Literatur, nur über deutsche Literatur. Am Wannsee treffen sich nämlich regelmäßig Schriftsteller mit Kritikern in einer alten Villa zum »Literarischen Colloquium«.

Ich war auch mal in dieser Villa, sie erinnert an eine Jugendherberge. Alles mufft schwer, aber nach Literatur, in diesem Haus. Da drüben hat sicherlich Günter Grass schon einmal seine Pfeife ausgeklopft, dort an der Treppe könnte Heinrich Böll eine Bibliothekarin belästigt haben. Wer kein Literat ist, will sofort wieder nach Hause.

Als ich einschaltete, sprach dieser Schriftsteller. Der Schriftsteller Reinhard Baumgart. Reinhard Baumgart hatte ich schon vor einigen Monaten in so einem Wannseegespräch gehört, nur war er damals der Kritiker Reinhard Baumgart. Er ist eben beides, Schriftsteller und Kritiker, warum nicht, es gibt auch Verleger, die schreiben, und Juroren, die Preise erhalten. Bei der letzten Konferenz erzählte Baumgart, wie er die zu dieser eingeladene Schriftstellerin das erste Mal getroffen hat. Sie habe, erzählte er, ihn zuerst gar nicht ansprechen können, weil sie vor Bewunderung fast erstarrt war.

Endlich habe sie ihre Starre überwunden und sich ihm genähert, um ihm ihre große Bewunderung zu gestehen. Und diese große Bewunderung habe ihn gleich für sie eingenommen. Danach ging es um die erotische Literatur dieser jungen Schriftstellerin, und ich erinnere mich deutlich, mich damals gefragt zu haben, ob sie es nun getan haben, oder ob sie, keine Amateure, sondern Animateure, nur so taten, als ob sie es getan hätten; die Schriftstellerin, deren Bewunderung für den Kritiker dem Publikum wie ein Dessous dargeboten wird, und der Kritiker, der sich als käuflich durch Bewunderung zeigt. Er ist natürlich nicht käuflich, sondern hat ihr Werk gründlich geprüft und für sehr erotisch befunden. (Deutsche Literaten für Prostituierte zu halten, verbietet ohnehin der Respekt vor diesen.)

Nun saß er wieder da, der Baumgart, diesmal in der Rolle des Schriftstellers, und trug eine Erzählung vor, mit der er im Jahr 1960 bei einer Tagung der Gruppe 47 durchgefallen war. Denn damals musste jedes Kamel durch dies Nadelöhr, die Tagung der Gruppe 47, erzählte er freimütig. Wer ein Schriftsteller werden wollte, erzählte er, musste sich von und vor der Gruppe 47 demütigen lassen. Ich empfand nicht allzu viel Mitleid, als ich das hörte. Heute lassen sie sich in Klagenfurt demütigen, und doch ist niemandem dort ein Unrecht geschehen, denn alle Kamele wollen doch immer durchs Nadelöhr.

Die Erzählung war sehr altmodisch, aber ganz gefällig und geschmackvoll geschrieben, sie handelt von einer Dame, die sich verjüngen will, in einen Schlachthof gerät und dort, was jedenfalls nahe gelegt wird und sich der Leser oder Hörer ausmalen soll, versehentlich geschlachtet wird.

Erst sagte die anwesende Literaturkritikerin, Ursula März, etwas darüber, wie sich hier Fiktion von Fiktion unterscheide, dann sagte der anwesende Literaturwissenschaftler, Heinrich Detering, etwas darüber, wie gefällig und geschmackvoll das geschrieben sei. Dann sagte der Moderator, Hubert Winkels, dass diese Erzählung ihn an die Todesfabriken der Nazis erinnere.

Auch mich, und ich fragte mich, was ich davon halten soll, dass eine Dame sich verjüngen will, in eine Todesfabrik gerät und dort, was nahe gelegt wird und der Leser oder Hörer sich ausmalen soll, versehentlich geschlachtet wird. Doch schon ging es am Wannsee um den abwesenden Kritiker Marcel Reich-Ranicki, dem zu Baumgarts Büchern einmal eingefallen war zu sagen, Kritiker, die Schöne Literatur schrieben, erhöhten nur das Gebirge des Mittelmäßigen, das ja schon hoch genug sei. Der Schriftsteller Baumgart, dem vielleicht nicht gleich ein gefälliger Roman oder auch nur eine geschmackvolle Erzählung über Reich-Ranicki einfiel, besann sich, 1965, glaube ich, darauf, auch der Kritiker Baumgart zu sein, und schrieb etwas Abfälliges über Reich-Ranicki im Spiegel, das, merkte er an, obwohl es ausgesprochen »milde« sei, allseits Empörung hervorgerufen habe. Und mit dieser Anmerkung wollte er es auch genug sein lassen, jedoch nicht Winkels, der darauf bestand, weiter über Reich-Ranicki zu reden.

Gleich war ein angeregtes Wannseegespräch im Gange, und alle waren sich einig, dass der Reich-Ranicki damals schon so »brutal«, wie Winkels sagte, geschrieben habe, wie er noch heute schreibe. Er habe eben, bemerkte Baumgart, die Prinzipien des Sozialistischen Realismus dem Westen aufpfropfen wollen, mit der »aufregenden« Literatur des jungen Walser und anderer habe er, Reich-Ranicki, nichts anfangen können. Ein Rätsel auch, weshalb er von Anfang an so viel Erfolg hat haben können. Als er, Baumgart, damals gegen Reich-Ranicki im Spiegel geschrieben habe, habe Hans Mayer ihn, Baumgart, gleich für einen Antisemiten gehalten und nicht mehr mit ihm an einem Tisch sitzen wollen, doch dann habe sich Mayer mit Reich-Ranicki zerstritten und gleich darauf alles, was er, Baumgart, gegen ihn, Reich-Ranicki, geschrieben hat, doch gut gefunden usw. Ich schaltete aus.

Und es fiel mir wieder ein, dass Baumgart vor seiner Lesung von einem Besäufnis mit seinem alten Freund Martin Walser erzählt hatte, und ich fragte mich, während ich langsam kaute, ob einer von diesen Wannsee-Literaten etwas Brutales bei Walser hat entdecken können? Im »Tod eines Kritikers«? Nein, bestimmt nicht. Und den Suhrkamp-Verlag gibt es auch noch immer, dachte ich. Ist auch nur einer der sensiblen Suhrkamp-Autoren aus diesem Verlag ausgetreten, weil er die Brutalität nicht länger ertragen konnte? Nicht bekannt. Immerhin kündigte der Verlagsleiter nun an, wenn Walser die bereits geschriebene Fortsetzung von »Tod eines Kritikers« bei Suhrkamp herausbringen wolle, werde er sich dem möglicherweise ein wenig widersetzen. Das bedeutet bereits äußerste Tapferkeit in einer Literatenszene, von der sich im Übrigen viel Schlechtes, aber doch auch dies eine Gute sagen lässt, dass sie nämlich nicht mehr Beachtung für sich beanspruchen kann als eine Schuhplattlertruppe. Und doch sähe die Welt, ginge die deutsche Literatur restlos unter, ein wenig besser aus.