Ost-Erweiterung der EU

Die zweite Vereinigung

Falls die Iren im Referendum am kommenden Samstag den Vertrag von Nizza nicht ablehnen, steht die Europäische Union vor der größten Erweiterung seit ihrer Gründung. Mit der Aufnahme der zehn neuen Mitgliedsstaaten wird die EU nicht nur weit nach Osten ausgedehnt, sondern sie erfährt auch einen Bevölkerungszuwachs von über 20 Prozent.

Doch die neue Größe hat auch ihren Preis. Die erweiterte Union wird ein beträchtliches Wohlstandsgefälle aufweisen, das die bisherigen sozialen und ökonomischen Unterschiede zwischen den west- und den südeuropäischen Mitgliedsstaaten weit übertrifft. In der künftigen Union werden Hi-Tech-Regionen wie Mailand oder München zum gleichen Staatenverbund gehören wie die Industrieruinen in der Gegend um Lodz. Die Diskrepanz wird noch größer, wenn in ferner Zukunft auch noch Rumänien, Bulgarien und vielleicht sogar die Türkei dazugehören.

Und selbst wenn der Beitritt wie geplant funktioniert, stehen den Kandidaten die schwersten Herausforderungen noch bevor. In Polen etwa dürfte sich jeder dritte Beschäftigte in der Landwirtschaft und in der Schwerindustrie damit abfinden müssen, in der künftigen EU überflüssig zu sein. In den baltischen Republiken, in Tschechien oder in Ungarn sieht es nicht viel anders aus.

Hinzu kommt wohl eine Anhebung der Lebenshaltungskosten auf das westeuropäische Niveau, während sich die Billiglöhne vermutlich kaum verändern werden. Schließlich sind sie einer der wenigen so genannten Standortfaktoren, um mit der westlichen Konkurrenz mithalten zu können. Die Union wird daher nicht nur größer, sondern auch ärmer werden. Es ist nicht abzusehen, dass sich daran so schnell etwas ändern wird.

Mit den Folgen der Erweiterung für die östlichen Staaten beschäftigen sich auch die Finanzminister der EU am letzten Oktoberwochenende. Schon jetzt ist klar, dass sie sich in der Frage der Finanzierung kaum einig werden. Vor allem Deutschland sperrt sich, weiterhin die hohen Agrarsubventionen mitzutragen, während Frankreich dafür kämpft, sie so lange wie möglich aufrechtzuerhalten.

Die Haltung von Bundeskanzler Gerhard Schröder stößt dabei in der Union auf Unverständnis. Immerhin setzte sich Berlin am vehementesten für die Erweiterung ein. Und jetzt, wo es um ihre Finanzierung geht, pocht Schröder auf das nationale Interesse.

Dabei wird Deutschland am meisten von der Erweiterung profitieren. So stiegen die deutschen Ausfuhren in die zehn neuen Beitrittsländer allein im letzten Jahr um 4,4 Prozent auf 60,1 Milliarden Euro, während der deutsche Außenhandel insgesamt im gleichen Zeitraum zurückging. Mittlerweile macht das Handelsvolumen mit diesen Ländern rund neun Prozent des gesamten deutschen Exports aus, fast soviel wie der Warentauscch mit den USA.

Mit der Erweiterung stellt sich daher auch die Frage, welche politischen Konsequenzen die endgültige »Wiedervereinigung Europas« (EU-Kommissionspräsident Roman Prodi) nach sich zieht. Vor allem kleinere Mitgliedsländer wie Irland fürchten, künftig weniger Einfluss zu besitzen, wenn das Machtzentrum der Union wirtschaftlich und politisch weiter nach Osten verschoben wird. Sie ahnen schon, was diese Entwicklung bedeuten kann. Die künftige EU wird nicht nur größer und ärmer, sie wird auch deutscher sein.