DDR-Filme auf der Viennale

Das ist ja ein Dschungel

Das Wiener Filmfestival Viennale widmet dem Defa-Filmemacher Jürgen Böttcher eine umfassende Werkschau, in der man die DDR noch einmal besichtigen kann.

Die DDR, Anfang der sechziger Jahre. Kaum ein Zuschauer interessierte sich noch für die Produktionen der Defa, international spielte der DDR-Film nahezu keine Rolle mehr. Das schreckte die Partei auf, die die Filmkünstler für den Publikumsschwund verantwortlich machte: »Die Kenntnisse vieler Filmschaffenden von Problemen unseres Lebens, mit denen sich Millionen Menschen beschäftigen, sind unzureichend.« Das Vertrauen zwischen den Filmkünstlern und der Parteiführung stand also nicht wirklich in voller Blüte.

So wird gleich die erste Arbeit des jungen Defa-Regisseurs Jürgen Böttcher, der im Stil des Neorealismus gedrehte Spielfilm »Drei von Vielen«, im Jahr 1961 verboten. »Drei von Vielen« erzählt von den jungen Wilden eines Freundeskreises aus Dresden. »Es war der erste und letzte Versuch, einen authentischen Film über eine besondere Freundschaft junger Kerle zu drehen, über ihre Arbeit, ihre Freizeitmalerei in ihrem Milieu, über ihre Familien und - etwas verschämt - die Liebe auch«, so Böttcher. Horst Sindermann, zu jener Zeit hauptamtlicher Mitarbeiter des ZK der SED, empörte sich: »Das ist ja ein Dschungel, Böttcher hat wohl in Chicago gedreht oder in Mainz gedreht. Wo leben wir denn?«

So pendelte die Karriere des 1931 in Strahwalde, einem Dorf in der Oberlausitz geborenen Regisseurs und Malers, des Sohnes eines Lehrers, den die Nazis 1937 in den Ruhestand zwangen, bis zum Ende der DDR ständig zwischen Verbot und Anerkennung. Für seine »privatistischen« und »negativen« Filme konnte Böttcher aber jeweils mit »positiven« Industriereportagen Abbitte leisten.

So entstand etwa »Ofenbauer« als Wiedergutmachung für »Drei von Vielen«. Es war vor allem der Dokumentarfilm, von dem sich die SED-Propaganda eine »objektive« und »positive« Gestaltung des Arbeitsthemas erwartete. Das Genre sollte die Wirklichkeit »besonders wirklich« wiedergeben. In »Ofenbauer« setzte Böttcher auf Cinéma vérité mit belehrendem Off-Kommentar im Sinne der voice of god, die alles plant und voraussieht, er konnte gerade noch den Einsatz der Musik Beethovens abwenden.

»Stars«, so der gleichnamige Film von 1963, sind für Böttcher die Frauen einer Brigade des Berliner Glühlampenwerks. An ihnen, die täglich eine monotone, von der Öffentlichkeit unbeachtete Arbeit leisten, entdeckt er eine besondere Schönheit. Schön sind für ihn die Schlagfertigkeit, ihre bei aller Belastung durch Arbeit und Familie erkennbare Heiterkeit, ihre Freundlichkeit und Solidarität.

Die Defa-Produktionen der sechziger Jahre hätten das Potenzial gehabt, das Publikum zurückzuerobern, denn sie zeigten die alltäglichen Schwierigkeiten und Probleme, mit denen sich die Bevölkerung identifizieren konnte. Doch die Parteiführung verhinderte diesen Neuanfang. So fiel auch Böttchers erster Spielfilm »Jahrgang 45« der »Säuberungsaktion« während des berüchtigten 11. Plenums des Zentralkomitees der SED im Dezember 1965 zum Opfer. Nahezu sämtliche in dieser Zeit entstandenen Defa-Produktionen, die sich fast alle mit Gegenwartsthemen befassten, wurden verboten, die Verantwortlichen bestraft oder aus dem Filmbetrieb entfernt. Die Defa widmete sich anschließend Indianerfilmen, in denen Rothäute von gierigen weißen Amerikanern ausgebeutet wurden.

1967 drehte Böttcher zur Rehabilitierung von »Jahrgang 45« den Film »Der Sekretär«, eine Dokumentation über Arbeiterinnen einer Brigade in der Berliner Glühlampenfabrik Narwa. »Grimmers Frauen« sollte der Film ursprünglich heißen. Er zeigt schöne Bilder, Studien der arbeitenden Frauen, konzentrierte, heitere Gesichter. Doch nicht die Frauen stehen im Mittelpunkt, sondern der Parteifunktionär Grimmer. Er kümmert sich um das Arbeitsklima und um die Weiterbildung, ein wenig Betriebspsychologe, ein wenig Betriebsrat, und doch bleibt er immer der Parteisekretär. Er ist eine Figur, wie sie sonst eigentlich nur in DDR-Spielfilmen vorkam: ein SED-Funktionär, freundlich, sachlich, sympathisch und vor allem auf der Suche nach der menschlichen Dimension des Sozialismus.

Böttchers 23minütiger Kurzfilm »Wäscherinnen« (1972) entstand in der Großwäscherei Rewatex in Berlin-Spindlersfeld. Die Wäscherei ist eine Ausbildungsstätte für junge Mädchen. Im Diskurs mit den Lehrausbildern und mit der strapazierten Technik, die den Stundenrhythmus bestimmt, bricht immer wieder etwas von ihrem widersprüchlichen Affekt hervor. Noch nicht verschüttete jugendliche Grazie und Dreistigkeit treffen auf die Anpassung an die Monotonie des Berufsalltags und die betriebliche Hierarchie.

Im 1976/77 gedrehten Film »Im Lohmgrund« sind Böttcher und sein Kameramann Thomas Plenert der Alltagspraxis, wie aus täglicher Arbeit Kunst entsteht, auf der Spur. Kunst wird darin sichtbar als ein alltäglicher Arbeitsprozess. Einen Sommer lang beobachteten sie Steinbildhauer, die im »Lohmgrund« ihre Figuren aus dem Stein schlagen, und zeigen alltägliche Handgriffe künstlerischer Produktion. Der Film zeigt schwitzende Männer in komischen Badehosen, die lässig-heiter am Stein arbeiten. Von der gesamtstaatlichen Aufgabe der Kunst ist keine Rede, es gibt nur Alltagsreden übers Wetter oder über die wilden Apfelbäume. Die Defa-Filmemacher rückten von nun an verstärkt Einzelschicksale und Ausschnitte des DDR-Lebens in den Vordergrund. So fand der »dokumentare Realismus« in den siebziger Jahren immer mehr Anhänger unter den jüngeren Regisseuren. Zum Hauptgegenstand der Filme wurde die Frage nach der Möglichkeit, Glücksansprüche im DDR-Alltag zu verwirklichen. Die Partei beobachtete das Entstehen dieser neuen filmischen Bewegung mit Unbehagen, vermutete man doch sogleich eine oppositionelle »Plattform«.

Böttcher erneuerte seine Arbeitsweise immer wieder. Für »Rangierer« (1984) filmte er Bahnarbeiter während einer besonders zermürbenden Nachtschicht, in der keine Zeit zum Reden blieb, auch um politische Selbstzensur bei Filmern und Gefilmten zu umgehen und außerdem die Konzentration bei der Arbeit zu vermitteln.

Böttchers Klassiker des DDR-Dokumentarfilmes, »Die Küche« (1986), beobachtet den Alltag von Küchenfrauen in der Rostocker Neptunwerft. Mit großer Intensität schildern Böttcher und Plenert die Arbeit in der Großküche. Sie beobachten die Frauen bei ihrer täglichen Arbeit, die geschickten Handgriffe an den schweren Kesseln, ein Lächeln im Vorübergehen, das unendliche Gleichmaß der Vorbereitung, der Zubereitung und der Ausgabe des Essen. Doch keine der Frauen wird vorgestellt, keine spricht in die Kamera über sich oder ihre Arbeit.

»Konzert im Freien« heißt Böttchers neuester Film, der im Jahr 2001 fertig gestellt wurde. Der Film geht auf einen Auftrag des ehemaligen Defa-Dokfilmstudios zurück, bei dem Böttcher zu DDR-Zeiten angestellt war. Zwischen 1981 und 1986 sollte er den Aufbau des Marx-Engels-Forums, des damals ehrgeizigsten Denkmalprojekts der DDR-Regierung, mit der Kamera begleiten. Das Material, »wenig repräsentative Szenen« wie etwa das Durchsägen einer gipsernen Friedrich-Engels-Figur, blieb jedoch liegen.

Die alten Bilder zeigen etwa die Bildhauer Werner Stötzer und Ludwig Engelhardt bei Zigarettenpausen und werden mit neuen Szenen eines Konzerts zweier herumtutender Free-Jazzer verbunden. In einer experimentell-komischen Collage wird das Denkmal von den Klassikern Marx und Engels in die Gegenwart entlassen; die Welt flaniert, Graffiti setzen Marken der neuen Inbesitznahme. Der Film führt zusammen, ohne zu versöhnen. Wir sehen die Bildhauerin Margret Middell bei der Arbeit an ihrem Bronzerelief zum Thema »Die Würde und Schönheit freier Menschen«, darauf folgen Bilder von dem postmodernen Ikonenchic hinterher jagenden Touristen, die sich auch mal gerne auf Marxens Schoß setzen. Doch jenseits des blanken Dualismus von »alt« und »neu« lauert hartnäckig die noch unversöhnlichere Frage: »Schöne, neue Welt?«

Die Viennale fand zum ersten Mal 1960 statt und ist das größte internationale Filmfest Österreichs. Die Viennale '02 endet am heutigen Mittwoch.