Dokfilmfestival in Leipzig

Der Ochse versteht den Juden nicht

Aus den Tiefen der Archive stammen die Filme zur jüdischen Identitätssuche in Mittel- und Osteuropa, die auf dem Leipziger Dok-Festival gezeigt wurden.

Bei den Retrospektiven und Sonderreihen des Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm, das in diesem Jahr zum 45. Mal stattfand, fühlt man sich manchmal wie auf einem Blockseminar in der Uni, weil man sich in wenigen Tagen ganz viele Filme zu einem bestimmten Thema anschaut.

Im letzten Jahr gab es eine Reihe mit palästinensischen Filmen, in diesem Jahr gab es u.a. eine Sonderschau mit Filmen kurdischer Regisseure aus der Türkei, dem Irak und Iran sowie eine »Der zerbrochene Spiegel« betitelte Sonderreihe mit 18 Filmen, die sich mit der »jüdischen Identitätssuche in mittel- und osteuropäischen Dokumentarfilmen« beschäftigte.

Deren Thema war eine Welt, die der nationalsozialistischen »Endlösung der Judenfrage« zum Opfer fiel, und die Kultur des Ostjudentums, »die sich trotz ständig drohender Pogrome, diskriminierender Ghettoisierung und großem sozialen Elend jahrhundertelang (...) behauptet hatte« (Hans-Joachim Schlegel), auch wenn viele Ostjuden in der Hoffnung auf Arbeit und bessere Lebensbedingungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ihre Shtetl verließen, nach Berlin, England und New York zogen und sich dort oft zu assimilieren versuchten oder nach Palästina auswanderten, um im Gelobten Land ihr Glück zu finden.

Auch viele derer, die blieben, lösten sich von den alten jüdischen Traditionen und versprachen sich viel vom Sozialismus, sie engagierten sich häufig im linken jüdischen Bund oder in der bolschewistischen Internationale.

Der Filmhistoriker Hans-Joachim Schlegel hat in den Archiven Ost- und Mitteleuropas viele Filme entdeckt, die von der jüdischen Aufbruchstimmung zu Beginn des letzten Jahrhunderts berichten. Ähnlich wie in den Werbestreifen der zionistischen Bewegung sieht man auch in polnischen und frühen sowjetischen Streifen Bilder von jüdischen Pionieren, die voller Optimismus die ihnen jahrhundertelang verbotene Bauernarbeit verrichten. Nicht nur in Palästina, sondern auch auf der Krim, wohin viele Juden zogen.

Frühe sowjetische Filme wie Abram Rooms »Juden auf der Scholle« (1925) zeugen von den »geradezu messianischen Hoffnungen, die die vom Zarismus besonders brutal unterdrückten Juden auf die revolutionäre Vision einer Gesellschaft internationalistischer Brüderlichkeit setzten«, kommentiert Schlegel.

Wladimir Majakowski und Viktor Sklovskij waren Drehbuch-Co-Autoren der inszenierten Dokumentation, die von Juden berichtet, die aus der Armut ihres Shtetl fliehen und auf die Krim ziehen. Fleißige Juden machen das Land urbar. Häuser werden gebaut.

In einer Szene wird das Dach eines Hauses abgenommen, um das Innere zu zeigen. Man sieht einen Juden mit einem Ochsen arbeiten. Die Filmtexte sind lakonisch: »Der Ochse zieht einen Strich unter das alte Leben«, »Der Ochse versteht den Juden nicht, der Jude versteht den Ochsen nicht. Das war früher. Jetzt ist es so: Der Jude versteht den Stier und der Stier versteht den Juden.«

In dem 20minütigen Kulturfilm »Birobidzan« von Michail Sluckij (1932) geht es um sowjetische Juden, die ins fernöstliche Birobidzan aufbrechen, das 1934 den Status eines »autonomen jüdischen Gebietes« erhält. Die jüdischen Werktätigen erschließen das Gebiet, es wachsen die Kolchosen, die junge Hauptstadt wird errichtet, eine jüdische Tradition und Religion gibt es nur noch im Theater, das auf der Seite des atheistischen Fortschritts steht.

Die Bilder gleichen denen des polnischen Regisseurs Aleksander Ford, der in dem quasidokumentarischen Spielfilm »Sabra« (1933) von jüdischen Pionieren erzählt, die sich in Palästina ein Stück Land kaufen, es besiedeln und dabei in Konflikte mit arabischen Palästinensern geraten. Die Juden im Film sind fleißig, mutig und zivilisiert; die Araber dagegen wirken wie eine rassistische Karikatur, sie sind verschlagen, gewalttätig, faul und abergläubisch.

Während die Juden nach Wasser graben, führen sie absurde Regentänze auf. Am Ende dieses seltsamen Films gibt es noch eine Viertelstunde Propaganda mit Bildern aus Tel Aviv und von jüdischen Sportlern, die nie die Latte beim Hochsprung reißen. Der Regisseur war später Initiator des polnischen Nachkriegskinos und Mitautor von »Majdanek«, des ersten Dokumentarfilms über die Befreiung eines Nazi-KZ.

Lenins Konzept der freiwilligen Landwirtschaftskooperativen hatte zahlreiche an einer besseren Welt interessierte Amerikaner, Kanadier, Deutsche, aber auch linke Juden aus dem kolonialisierten Palästina angezogen. Die Utopien scheiterten in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre am brutal durchgesetzten zentralstaatlichen Totalitarismus Stalins.

Filme gegen Antisemitismus und Rassismus verschwanden mit dem Hitler-Stalin-Pakt 1938 aus den Kinos. Das 1941 gegründete Jüdische Antifaschistische Komitee, dessen prominente Mitglieder (u.a. Ilja Ehrenburg, Sergej Eisenstein, Solomon Michoels) auch in den USA für den Krieg gegen Nazideutschland Geld sammelten, wurde 1948 verboten, die Mitglieder wurden verfolgt, interniert oder umgebracht, wie auch die jüdischen Ärzte, die für das Politbüro tätig waren.

Semen Aranovic berichtet in seiner 140minütigen Dokumentarfilmrecherche »Das große Konzert der Völker« (1991) über die stalinistische Judenverfolgung. Nachdem Stalin die Inguschen und andere Völker vernichtet habe, habe er einen Holocaust an den Juden geplant, der nur durch den Tod des Diktators verhindert worden sei.

Als Laie dachte man auch nach dem Film, dass man mit dem Begriff Holocaust vielleicht etwas vorsichtiger umgehen sollte, als Zuschauer fühlte man sich etwas überfordert, verlor zuweilen den Faden, weil zu viele verschiedene Zeitzeugen fast ununterbrochen reden, als Kritiker hatte man manchmal den Eindruck, die Filmeinspielungen etc. dienten nicht so sehr einem ästhetischen als einem pädagogischen Zweck.

In anderen Filmen geht es um den englischen Geschäftsmann Nicholas Winton aus Prag, der im Jahr 1939 669 Kinder meist jüdischer Herkunft vor der drohenden Vernichtung rettete und nach London brachte; um georgische Juden, die ihr über 2 000 Jahre altes Shtetl Oni in Richtug Israel verlassen usw.

Es ist alles ja immer auch so viel und so gedrängt. Ein Jahrhundert des Antisemitismus, der ja nicht aufhört, Exodus, Neuanfänge. Manchmal ist man gelangweilt, manchmal fühlt man sich überfordert, oft ist man berührt, und an einem Abend war es erleichternd, mit der israelischen Filmemacherin Michal Avid zu sprechen, die so lustig über die russischen Emigranten sprach, die allesamt Klavierlehrer seien.