Lieber zum Parteitag
Am 23. November 1992 um 0.31 Uhr klingelt das Telefon der Polizeiinspektion Mölln. Der Anrufer meldet sich mit den Worten: »In der Ratzeburger Straße brennt es. Heil Hitler!« Eine halbe Stunde später folgt ein weiterer Anruf, diesmal bei der Freiwilligen Feuerwehr: »In der Mühlenstraße brennt es. Heil Hitler!«
Was hinter den Anrufen steckt, wird den Beteiligten schnell klar. Denn es ist die Zeit, in der es in Deutschland in jeder Woche in Asylunterkünften brennt. Allein vom Januar bis zum November 1992 zählt die Polizei 1 900 rechtsextremistische Gewalttaten, darunter 606 Brandanschläge und 15 Sprengstoffattentate. 13 Menschen sterben. In der Nacht zum 23. November kommen weitere drei Tote hinzu. Die rechtsextreme Gewalt hat sich neue Ziele gesucht. In Mölln sind es keine Asylbewerber oder Flüchtlinge, die angegriffen werden, was von der Bundesregierung und von Teilen der Bevölkerung bis dahin mehr oder weniger offen toleriert wird. Es sind so genannte Gastarbeiter, Migranten aus der Türkei, die seit Jahrzehnten in Deutschland wohnen, in Schleswig-Holstein, in Mölln. Damit ist auch endgültig klar, dass die fremdenfeindlichen Pogrome kein reines ostdeutsches Problem sind.
Die Bewohner des Hauses in der Ratzeburger Straße können sich retten. Doch in der etwa einen halben Kilometer entfernten Mühlenstraße gingen die Täter besonders perfide vor. Sie schütteten zunächst Benzin ins Treppenhaus, zündeten es an und warfen dann einen Molotow-Cocktail auf die Rückseite des Hauses. Den Bewohnern im ersten Stock ist der Fluchtweg versperrt, einige versuchen, sich mit einem Sprung aus dem Fenster zu retten. Einige verletzen sich schwer, darunter eine Mutter, die ihren Säugling aus dem Fenster geworfen hat, um hinterherzuspringen. Für die 51jährige Bahide Arslan, die zehnjährige Yeliz und die 14jährige Ayse jedoch kommt jede Hilfe zu spät. Sie sterben in den Flammen.
Kein einziges Mitglied der Bundesregierung lässt sich in den Tagen nach dem Attentat in Mölln blicken. Bei der Trauerfeier für die Ermordeten glänzt der schleswig-holsteinische Ministerpräsident und SPD-Vorsitzende Björn Engholm ebenso mit Abwesenheit wie Bundeskanzler Helmut Kohl, der den Parteitag der Berliner CDU für wichtiger erachtet als einen »Beileidstourismus«, wie es der Regierungssprecher Dieter Vogel nennt.
Der Affront gegen die Angehörigen der Toten und alle in Deutschland lebenden türkischen Migranten ist folgerichtig. »Die Neonazis toben - die Hintermänner sitzen oben«, ist bei der Beisetzung der drei Ermordeten in der türkischen Provinz Samsun auf Spruchbändern zu lesen. Vor allem die CDU und die CSU haben systematisch den Boden für die rassistischen Gewalttäter bereitet und dabei ihren Koalitionspartner FDP ebenso unter Zugzwang gesetzt wie die oppositionelle SPD.
Ein Jahr vor dem Attentat in Mölln verschickt der damalige CDU-Generalsekretär Volker Rühe Musterpresseerklärungen an alle Kreisverbände und fordert sie auf, das Thema »Asylmissbrauch« auf die Tagesordnung zu setzen. Als Deutschland nach den rassistischen Ausschreitungen im September 1991 in Hoyerswerda von einer Welle fremdenfeindlicher Übergriffe erfasst wird, schlagen sich die Bundesregierung und die SPD offen auf die Seite der Täter und bekämpfen die Opfer.
Bereits im Oktober 1991 vereinbaren sie, dass abgelehnte Asylbewerber schneller abgeschoben werden sollen. Im Juni 1992 folgt das »Asylbeschleunigungsgesetz«, das der Republikanische Anwaltsverein ein »Kampfgesetz gegen Asylbewerber« und einen »Angriff auf den Rechtsstaat« nennt. Genau drei Monate vor dem Brandanschlag in Mölln verkündet Engholm erstmals, dass er bereit ist, das Grundrecht auf Asyl preiszugeben.
Als der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, anmerkt, dass sich die rechten Gewalttäter durch die Asyldebatte und die Nachlässigkeit der Sicherheitsbehörden in ihrem Tun ermutigt sehen könnten, wird er niedergemacht. »Unhaltbar« und »abwegig« seien die Vorwürfe, sagt der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Norbert Geis.
Dass Juden im neuen Deutschland ebenso wenig erwünscht sind wie Migranten und Asylbewerber, erfährt Bubis, als er nach den Krawallen in Rostock-Lichtenhagen im September 1992 die Hansestadt besucht. Ein Bürgerschaftsabgeordneter der CDU, Karlheinz Schmidt, sagt es ihm ins Gesicht: »Ihre Heimat ist Israel.«
Keine zwei Wochen nach dem Möllner Brandanschlag und ausgerechnet am Tag, an dem in München 400 000 Menschen mit einer Lichterkette gegen rassistische Brandanschläge protestieren, einigen sich die Union, die FDP und die Sozialdemokraten auf den nächsten »Asylkompromiss«. Mit der Drittstaatenregelung bekommen Flüchtlinge praktisch keinen Zugang mehr zum Asylverfahren.
Kein halbes Jahr später ist die Union am Ziel. Am 26. Mai 1993 schafft eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ein Grundrecht faktisch ab: das im Grundgesetzartikel 16 festgelegte Recht auf Asyl.
Neun Tage zuvor hat in Schleswig der Prozess gegen die mutmaßlichen Täter von Mölln begonnen. Zwei ortsbekannte Naziskins müssen sich vor dem Oberlandesgericht verantworten. An ihnen soll nun nachgeholt werden, was die deutsche Justiz bis dahin versäumt hat: rechtsextreme Mörder auch als solche zu behandeln. Der damalige Bundesanwalt Alexander von Stahl zieht das Verfahren an sich.
Nach Tausenden von Straftaten mit Dutzenden von Toten hält es die Bundesanwaltschaft erstmals für nötig, sich um rechte Gewalttäter zu kümmern - wegen der besonderen Bedeutung des Falles und des »weltweiten Aufsehens, welches die Straftaten hervorriefen«. Die Neonazis Lars Christiansen und Michael Peters werden schließlich zu Höchststrafen verurteilt. Der 25jährige Peters erhält eine lebenslange Haftstrafe, der 19jährige Christiansen zehn Jahre. Für das Gericht handelt es sich um moralisch verwahrloste Einzeltäter.
Doch die Morde von Mölln wären vielleicht nicht verübt worden ohne die mehr oder weniger offene Sympathie der Polizei, der Regierung, der Opposition und vieler Bürger für die rechten Gewalttäter. Peters und Christiansen waren schon in Rostock-Lichtenhagen dabei. Kaum zurück in Mölln, wollte Peters das anwenden, was er in Rostock gelernt hatte. Zusammen mit drei anderen Nazis versuchte er, in der Gegend von Mölln drei verschiedene Flüchtlingsunterkünfte anzuzünden, was die Polizei verhinderte. Verhaftet wurde er trotzdem nicht. Eine Woche vor den Morden in der Mühlenstraße lehnte der zuständige Richter einen Haftbefehl gegen Peters ab.