Opfer ohne Alibi
Eigentlich taten Silvio Meier und seine Freunde nur das, was die Antifa immer gefordert hatte und was inzwischen auch Wolfgang Thierse gerne anmahnt, nämlich eingreifen und nicht wegschauen. Im U-Bahnhof Samariterstraße in Berlin-Friedrichshain trafen sie auf rechte Jugendliche, einer davon trug einen Aufnäher: »Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein.« Silvio Meier soll den Jugendlichen darauf angesprochen haben, es kam zu Handgreiflichkeiten.
In der Folge zückten die jungen Nazis ein Messer und stachen auf den 27jährigen und seine Begleiter ein. Silvio Meier starb an den Folgen der Stiche. Der damals 21jährige Ekkehard S. und der 25jährige Jörn F. wurden schwer verletzt. »Jetzt haben wir es euch gezeigt, ihr linken Säue«, sollen die Täter noch gerufen haben. Niemand half den Angegriffenen im U-Bahnhof, weder Passanten noch Mitarbeiter der BVG. Es war der 21. November 1992.
Der Mord wurde verübt in einer Zeit, in der die Zahl rassistischer Übergriffe und Morde in Deutschland rasant zunahm. Erst im August desselben Jahres hatten normale Bürger und jugendliche Neonazis das Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen gestürmt und teilweise abgebrannt. Zwei Tage nach dem Tod von Silvio Meier brannte ein von Türken bewohntes Haus in Mölln.
Neonazistische Gruppen und Parteien, wie die im Februar 1995 verbotene Freiheitliche Arbeiterpartei (FAP), trieben in Berlin offen ihr Unwesen, plakatierten ihre rassistischen Botschaften und griffen Leute an, die ihnen nicht passten; Antifa-Gruppen organisierten Nachtwachen in den Stadtteilen, um Übergriffe zu verhindern. Der Mord in der U-Bahnstation Samariterstraße, die eine Grenze zwischen dem von Linken bewohnten Stadtteil Friedrichshain und der Nazihochburg Lichtenberg markierte, war ein Schock für die Hausbesetzerszene und die Linke in Berlin.
In der Folge geschah das, was in den neunziger Jahren, und nicht nur damals, üblich war. Der politische Hintergrund der Tat wurde bestritten. Im Radio war die Rede von einem »Bandenkrieg«, die Polizei sprach von einer »Jugendschlägerei«. »Es war die Strategie der Polizei, den Fall zu entpolitisieren«, sagt Ekkehard S. heute. »Sie ermittelten gegen uns wegen gemeinschaftlicher schwerer Körperverletzung. Sie wollten die Aussage erpressen, dass die Aktion keinen politischen Hintergrund gehabt habe.«
Diese Ermittlungen wurden später zwar eingestellt, vor allem weil einer der Täter die Aussage widerrief, Silvio Meier und seine Begleiter hätten mit einer Gaspistole geschossen und selbst das Messer gezückt. Das Vorgehen erwies sich jedoch als praktikabel. Ermittlungen gegen Opfer wurden zu einer besonderen Spezialität der deutschen Behörden.
So konnte man Verwirrung stiften und die Öffentlichkeit in die Irre führen; dasselbe Konzept wurde 1996 auch nach dem Brandanschlag auf das Asylbewerberheim in Lübeck, bei dem zehn Menschen ums Leben kamen, erfolgreich angewandt. Damals wurde gegen den Heimbewohner Safwan Eid ermittelt und nicht gegen die verdächtigen Jugendlichen aus Grevesmühlen, von denen sich einer, Maik Wotenow, später u.a. gegenüber Lübecker Polizeibeamten und dem Spiegel (Ausgabe vom 13. Juli 1998) zur Tat bekannte.
Das jüngste Beispiel für Ermittlungen gegen Betroffene lieferte das sächsische Pirna, wo nach monatelangen Angriffen auf eine Döner-Imbissbude nicht den Rechtsextremen, sondern der türkischen Familie, die sich gegen die Angriffe wehrte, der Prozess gemacht wird. Der Vorwurf an die Sendilmens lautet: »gemeinschaftliche schwere Körperverletzung«. (Jungle World, 9/02 und 25/02) Seit März ist der Prozess ausgesetzt, weil offensichtlich Verbindungen zu dem Verfahren gegen die Skinheads Sächsische Schweiz (SSS) bestehen.
Obwohl die Polizei im Fall Silvio Meier anfangs die Version des Tathergangs verbreitete, die die rechten Jugendlichen ihr erzählt hatten, kam es doch noch zu einem Prozess gegen die Täter. Die Jugendkammer des Kriminalgerichts Berlin-Moabit verurteilte im Herbst 1993 Sandro S. zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten, die Mitangeklagten, der 18jährige Sven M. und der 17jährige Alexander B., erhielten Freiheitsstrafen von drei Jahren und sechs Monaten bzw. von acht Monaten auf Bewährung.
»Das Urteil war ein völlig normales Urteil«, sagt Ekkehard S. »Es war auch nie unser Ziel, die Leute möglichst lange in den Knast zu bringen. Wir fanden es richtig, dass das Jugendstrafrecht angewandt wurde. Wir wollten die politische Bedeutung des Falls aufzeigen, was uns vor Gericht leider nicht gelang. Im Nachhinein, in der Öffentlichkeit aber schon.«
Seit 1993 wird zum Jahrestag des Mordes an Silvio Meier in Berlin demonstriert. Meistens galt die Demonstration nicht nur dem Gedenken an Silvio Meier, sondern richtete sich auch gegen die rassistischen Zustände in Deutschland und gegen die Infrastruktur der Nazis, wie etwa 1998 gegen das »Café Germania« in Lichtenberg, einen damals bedeutenden Nazitreffpunkt. Auch wegen der entschlossenen Demonstration musste das Café eine Woche später schließen.
In diesem Jahr findet die Demonstration unter dem Motto statt: »10. Todestag von Silvio Meier - Faschistische Strukturen zerschlagen - Gegen NPD und 'Anti-Antifa'.« Sie führt zu einer Filiale der NPD in der Josef-Orlop-Straße und wendet sich außerdem gegen die Kameradschaft Tor aus Lichtenberg, die nach Angaben der Antifaschistischen Aktion Berlin (AAB) bereits mehrfach Namen von Linken per Steckbrief veröffentlicht habe. »Feindaufklärung« nennen die Nazis ihre Anti-Antifa-Arbeit.
Ekkehard S. wird auf jeden Fall zur Demo kommen. Er geht jedes Jahr mit, auch wenn es »persönlich schwierig ist, schließlich erinnert man sich nicht gerne daran«. Er hofft, dass es sich auch weiterhin nicht um eine reine Gedenkdemo handele. »Die Antifa sollte nicht locker lassen«, findet er. Und wie wird sich die Polizei wohl verhalten, wenn sie das Büro einer Partei schützen muss, die nur deshalb noch nicht verboten werden kann, weil so viele ihrer führenden Mitglieder V-Männer des Verfassungsschutzes sind?