Projektion und Wahn

Das Dossier »Schuld und Erinnerung« demonstriert die Unmöglichkeit, binären Denkmustern zu entkommen.

Die AutorInnen des Dossiers »Schuld und Erinnerung. Die Shoah, der Nahostkonflikt und die Linke« sind angetreten, eine Kritik an einer linken Solidarität mit Israel zu leisten, die durch die bloße Umkehrung der zuvor auf die PalästinenserInnen gerichteten identifikatorischen Projektionen gekennzeichnet sei. Ihr zentraler Vorwurf lautet, dass dabei dieselben binären Denkmuster reproduziert würden.

Tatsächlich hat es sich in der linken Debatte um den Nahostkonflikt bislang als nahezu unmöglich erwiesen, die Ressentiments, die bei jeder neuen Eskalation des Konfliktes auftreten, zu vermeiden. Daraus folgt allerdings, dass sich die AutorInnen an ihrem eigenen Anspruch messen lassen müssen. Leider trifft ihre Aussage, dass »die Anfang der neunziger Jahre noch möglichen komplexeren Betrachtungsweisen anscheinend nur ein kurzes Aufflackern des kritischen Denkens waren, die wieder binären Positionen Platz gemacht haben«, auch auf ihren eigenen Essay zu.

Das zeigt sich bereits im Gestus des Textes. Sowohl antiimperialistischen Antizionisten als auch der von ihnen so genannten »Sharon-Linken«, die sich solidarisch mit Israel erklärt, werden »binäre Positionierungen« vorgeworfen. Da die Kritik sich vor allem gegen die proisraelische Fraktion richtet, muss sie als Gegnerin identifizierbar werden.

So werden »einige in der Jungle World erschienene Artikel, das Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus und die an den antiarabischen Rassismus der Liste Pim Fortuyn erinnernden Polemiken diverser Antideutscher« sowie die Zeitschrift konkret als die üblichen Verdächtigen angeführt, um eine »bedingungslose Solidarität mit Israel und generell der Judenheit« jener Linken zu kritisieren, die »den Nahostkonflikt nur als Projektionsfläche« benutzten.

Tatsächlich wird das Adjektiv »bedingungslos« nur von einer bestimmten Strömung um die Zeitschrift Bahamas als Bekenntnisticket benutzt. Auf Differenzierung wird in dem Beitrag schon hier verzichtet. Nur so ist es möglich, den Gegensatz zwischen den scheinbaren Projektionen einer »Sharon-Linken« und dem aufklärerischen Denken, wie es die AutorInnen für sich beanspruchen, zu konstruieren. Der unterstellte kritiklose Schulterschluss mit jeglicher israelischen Regierungspolitik gerät zu einer Nebelwand, hinter der alle berechtigten Fragen nach den Aporien bei der Begründung einer grundlegenden Notwendigkeit von linksradikaler Solidarität mit dem Staat Israel verschwinden.

Der bedenkenlose Gebrauch von Begriffen, die nur zum Abrufen von Reflexen und Ressentiments geeignet sind, setzt sich in den Thesen der AutorInnen zum Nahostkonflikt und der Shoah fort. Eine zentrale Aussage zur »links-deutschen Trauerarbeit« offenbart die ganze fatale Tendenz ihres Beitrags: »Die Rechte und das Leiden der PalästinenserInnen werden für diese eigenwillige deutsche Vergangenheitsbewältigung geopfert. In diesem verworrenen Rollenspiel sind die Juden nur noch eine metonymische Figur, in der die Ermordeten von gestern die Unterdrücker von heute überlagern.«

Nicht nur, dass dadurch der von den AutorInnen doch explizit zum Gegenstand ihrer Kritik erklärte Täter-Opfer-Dualismus wieder restituiert wird, schlimmer noch: Man kann sich nur schwer dem Eindruck entziehen, dass sich hinter »die Ermordeten von gestern überlagern die Unterdrücker von heute« als »metonymische Figur« (also der Ersetzung eines Begriffes durch einen anderen für den gleichen Gegenstand) die alte antizionistische Formel von den zu Tätern gewordenen jüdischen Opfern verbirgt.

Dass mit dem Vorwurf des Antizionismus sehr vorsichtig umzugehen ist, zeigt das Vorgehen der Zeitschrift Bahamas, die ihn in denunziatorischer Weise gegen alle richtet, die nicht absolut ihre Position bestätigen. Ein Beispiel dafür liefert die Kampagne gegen den Autor Stefan Vogt, bei der ein gefälschtes Zitat (»Israel ist eine Katastrophe«) aus einem Artikel (vgl. Jungle World, 22/02) verwendet wird.

Dass der Vorwurf dennoch im Fall des in der vorigen Woche erschienenen Dossiers berechtigt ist, erweist sich an der Wiederkehr des antizionistischen Vokabulars für Israels Palästinenserpolitik (Staatsterrorismus, Apartheid, Militärdiktatur ...) ebenso wie am »Verschwinden« des palästinensischen Antisemitismus als eines nicht auf einen Opferstatus rückführbaren Faktums. Was die AutorInnen durch ihren ausschließlichen Blick auf die PalästinenserInnen als Opfer ausblenden, lässt sich auch an einem Vergleich mit dem türkisch-kurdischen Konflikt verdeutlichen.

Es ist noch nicht allzu lange her, dass die kurdische Nationalbewegung um die PKK wegen einiger völkisch-nationalistischer Aspekte ihrer Ideologie und damit zusammenhängenden antisemitischen Tendenzen von einem Teil der radikalen Linken in Deutschland kritisiert wurde. Und das zu einem Zeitpunkt, als der türkische Staat einen brutalen Krieg in Kurdistan führte und die Anhänger der PKK in Deutschland erheblichen Repressionen ausgesetzt waren.

Eine nicht unerhebliche Rolle spielte in dieser Kritik die Tatsache, dass die PKK dazu übergegangen war, Selbstmordaktionen zu propagieren. Meist waren dies Selbstverbrennungen, einige Selbstmordanschläge richteten sich ausschließlich gegen die türkischen Sicherheitskräfte, wie zum Beispiel im Fall einer jungen Kurdin, die sich in eine Militärparade stürzte und in die Luft sprengte.

Selbst zu einem Zeitpunkt, als die türkische Armee weit brutaler vorging als die israelische, als es täglich zu Opfern unter der Zivilbevölkerung kam, Hunderte von Dörfern zerstört und ganze Landstriche systematisch verwüstet wurden, Todesschwadronen kurdische Menschenrechtsaktivisten, Intellektuelle und Politiker ermordeten, kam kein Anhänger der PKK auf die Idee, sich in einem Istanbuler Café in die Luft zu sprengen, um dort möglichst viele Zivilisten zu töten. Das aber ist bei palästinensischen Selbstmordbombern die Regel.

Selbst die Tamil Tigers in Sri Lanka, die zumindest in der deutschen Linken in einem weitaus höheren Maße diskreditiert sind als die PKK, haben ihre zahlreichen Selbstmordanschläge vor allem gegen die staatlichen Sicherheitskräfte und nicht gegen die singhalesische Zivilbevölkerung verübt.

Dennoch stand für nationalismuskritische Linke auch im Fall der PKK außer Frage, dass mit der »patriotischen« Aufopferung für das nationale Kollektiv der emanzipatorische Gehalt einer Befreiungsbewegung hinfällig geworden war und dass dies keinesfalls mit dem Opferstatus der Unterdrückten »erklärt« werden konnte.

Dass die Leiden der kurdischen Bevölkerung durch solche Kritik nicht ignoriert wurden, war zumindest einer kritischen Linken jenseits der antiimperialistischen Freunde unterdrückter Völker durchaus vermittelbar. Um wie viel mehr muss das erst gelten, wenn sich der völkisch bzw. religiös inspirierte Todeskult als antisemitisch aufgeladene Mordtat gegen ein halluziniertes jüdisches »Feindkollektiv« richtet? Wenn also nicht einmal vor bekannten Treffpunkten linker und friedensbewegter Israelis in Tel Aviv oder, wie in der vergangenen Woche, einem linken Kibbuz, dessen BewohnerInnen für den Rückzug Israels auf die Grenzen von 1967 und einen unabhängigen Palästinenserstaat eintreten, zurückgeschreckt wird?

Der israelisch-palästinensische Konflikt darf zwar sicher nicht auf den Antisemitismus und die Shoah reduziert werden, er kann aber auch nicht einmal ansatzweise ohne beide gedacht werden. So findet die Vergleichbarkeit der beiden Konflikte natürlich ihre Grenze im Antisemitismus und der Shoah als einer Ursache der Gründung Israels im Gegensatz zur Gründungsgeschichte der türkischen Republik.

Bezeichnend ist jedoch die unterschiedliche öffentliche Reaktion auf das staatliche Vorgehen in den beiden Fällen. Die Türkei ist, wie viele ähnlich autoritär strukturierte Staaten, trotz der jahrzehntelangen blutigen Unterdrückung der Kurden und permanenter Menschenrechtsverletzungen noch nie von internationalen Institutionen und der »zivilgesellschaftlichen« Öffentlichkeit derart verurteilt und als Staat delegitimiert worden wie Israel. Niemals hat sich ein dem Antizionismus vergleichbarer »Antikemalismus« als eigenständiges Ideologem herausgebildet, der die Türkei mit derselben schlafwandlerischen Sicherheit ins Zentrum aller Weltkonflikte stellen würde, wie es mit Israel allein in der letzten Zeit, von Durban über den 11. September bis zu den GlobalisierungskritikerInnen, geschehen ist.

Es bleibt unverständlich, dass diese Rolle Israels als »Jude unter den Staaten« in einem Text völlig ausgeblendet wird, dessen Mitautor Klaus Holz in seinen Arbeiten zum Antisemitismus betont, dass die »Deutung des 'Zionistenstaates' durch die semantische Form des nationalen Antisemitismus strukturiert (wird), die den 'Juden' unweigerlich als Gegenprinzip zur Norm 'ein Volk, ein Staat, eine Nation' darstellt. Das gilt vor und nach der Gründung des Staates Israel.« (Die Figur des Dritten in der nationalen Ordnung der Welt, in: jour fixe initiative berlin (Hg.): Wie wird man fremd?, S. 42)

In ihrem Bemühen, eine ahistorische und ihrerseits auf eine »Schuldabwehr und eine Relativierung der Shoah« hinauslaufende Gleichsetzung des Antisemitismus von PalästinenserInnen und in der arabischen Welt mit dem eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen zu kritisieren, verstellen sich die AutorInnen zudem den Blick auf wesentliche Berührungspunkte zwischen beiden.

Nicht nur, dass in den entsprechenden Passagen des Textes statt von Antisemitismus verharmlosend vom »Antizionismus in der arabischen Welt und vieler PalästinenserInnen« gesprochen wird, als gäbe es nicht zahlreiche dokumentierte Belege für die Popularität von antisemitischen Stereotypen und Verschwörungstheorien in der arabischen Welt. Ausgeblendet wird auch die Vernichtungsdrohung gegen Israel, die im Islamismus bzw. im palästinensisch-arabischen Antizionismus als »semantische Form des nationalen Antisemitismus« enthalten ist, sich aber vielleicht über die »Semantik« allein nicht erschließen lässt.

Gemeint ist die dem modernen Antisemitismus in seiner Ausprägung als völkischem Antikapitalismus eigene Heilserwartung, dass sich mit dem Verschwinden der Juden die »Kälte« der abstrakten kapitalistischen Vergesellschaftung auflösen und das Glück in der völkischen Gemeinschaft verwirklichen würde. In einem ähnlichen Sinne ist in der Jihad-Ideologie des Islamismus die »Wiederherstellung der Islamischen Gemeinschaft« an das Verschwinden Israels geknüpft.

Natürlich dürfen solche Berührungspunkte nicht überinterpretiert werden und zu einer falschen Gleichsetzungen der Palästinenser mit den Nationalsozialisten führen. Sie sollten aber auch nicht einfach ignoriert werden.

Wie sehr sich die AutorInnen über solche Differenzierungen hinwegsetzen, zeigt sich schließlich in der unterschiedlichen Bewertung unangemessener NS-Vergleiche, je nachdem, ob sie von proisraelischer oder propalästinensischer Seite kommen. So erwähnen sie die unglaubliche Entgleisung des Schriftstellers José Saramago, nach dessen Ansicht über Ramallah der »Geist von Auschwitz« schwebe. Natürlich wollen die AutorInnen mit einem solchen Vergleich nichts zu tun haben, führen aber ausgerechnet über dessen Zurückweisung den Begriff der »Apartheid« ein. Schließlich schreiben sie: »Wenn Saramagos Worte Kritik verdienen, so verdient die Banalisierung der Geschehnisse in den besetzten Gebieten im Namen der Erinnerung an Auschwitz unsere Entrüstung.« Saramago verdient also Kritik, eine im allgemeinen auf rational verhandelbaren Urteilen über »falsch« und »richtig« beruhende Form der Auseinandersetzung.

Die »Banalisierung der Geschehnisse in den besetzten Gebieten im Namen der Erinnerung an Auschwitz« - was immer damit genau gemeint ist - jedoch »verdient unsere Entrüstung«, fügt dem kritischen Urteil also genau jenen moralisch-emotionalen Überschuss hinzu, der für gewöhnlich das Ende des Verhandelbaren signalisiert. Zuletzt billigen sie Saramago auch noch prinzipiell ehrenwerte Motive zu, schließlich »verleiht Saramago nur seinem Entsetzen über die israelische Besatzungspolitik mit einem falschen historischen Bild Ausdruck«.

Das ergibt einen moralisch binären Bewertungsmaßstab für NS-Vergleiche, der natürlich zu Ungunsten Israels ausfällt, anstatt Saramagos Entgleisung dem einzig möglichen Urteil der Kritik auszusetzen, dass sie genau jenen Punkt eines Totalausfalls jeglicher Reflexion ausmacht, den Max Horkheimer und Theodor W. Adorno treffend als »pathische Projektion« bezeichnet haben.

So bestätigt sich auch hier der Eindruck, dass die als »Selbstverständlichkeit des linken Internationalismus« deklarierte »Solidarität mit den PalästinenserInnen« gegen die israelische Politik zu einem Rückfall auf alte linke Deutungsmuster gerät. Das ist umso ärgerlicher, als das Anliegen, eine aus der Erinnerung an Auschwitz gewonnene antideutsche Identitätspolitik zu kritisieren, unbedingt zu teilen ist. Denn diese Identitätspolitik arbeitet mit zu Tickets geronnenen Formeln wie dem Begriff der »bedingungslosen Solidarität«, um mit der fast schon systematisch betriebenen Verwischung der Grenze zwischen Kritik und persönlicher Diffamierung politische Hegemonie im antideutschen Spektrum durchzusetzen.

Dass die AutorInnen beim Versuch, den schlechten linksdeutschen Traditionen eine differenziertere Haltung entgegenzustellen, selbst wieder in binäre Täter-Opfer-Muster verfallen, kann daher kein Anlass zu auftrumpfender Selbstvergewisserung sein. Die Schwierigkeit, dem Teufelskreis binärer Wahrnehmungsmuster zu entkommen, kann nur überwunden werden, indem die Aporien einer aus dem Fortwirken und der ständigen Erneuerung des modernen Antisemitismus unter kapitalistischen Verhältnissen begründeten Solidarität mit Israel angesprochen und ausgetragen werden, ohne das kritische Denken durch den Rückzug auf vermeintlich aufklärerische Gewissheiten zu beschwichtigen.