Sara Paretskys »Ihr wahrer Name«

Die Erinnerung trügt und betrügt

In Sara Paretskys Krimi »Ihr wahrer Name« geht es um echte und falsche Verfolgte der Shoah.
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Die Amerikanerin Sara Paretsky gehört inzwischen auch hierzulande zu den bekannten Kriminalautorinnen. Ihre Heldin Vic Warshawski war in den siebziger Jahren Chicagos erste Privatdetektivin mit Lizenz. Jetzt ist sie wieder unterwegs, in ihrem nunmehr zwölften Fall. »Total Recall« heißt der im Jahr 2001 in den USA veröffentlichte äußerst rasante Krimi, der jetzt unter dem Titel »Ihr wahrer Name« auf deutsch erschienen ist.

Erst einmal fängt die Geschichte für Warshawski als scheinbar harmloser Routinefall an, nämlich mit dem Auftrag, den Versicherungsbetrug an einer schwarzen Arbeiterfamilie aufzuklären. Isahiah Sommers hat die Privatdetektivin angeheuert, damit sie herausfindet, was mit der Versicherungssumme seines kürzlich verstorbenen Vaters passiert ist, die angeblich schon vor zehn Jahren ausgezahlt worden sein soll. Die Spur führt zur Versicherung Ajax.

Gleichzeitig passiert jedoch etwas Verwirrendes. Warshawskis beste und älteste Freundin, die ihr zeitweise auch als Ersatzmutter diente, die stets kontrollierte und beherrschte Ärztin Lotty Herschel, verliert völlig die Fassung, als in einem Fernsehinterview ein Mann behauptet, er habe das Geheimnis seiner Herkunft lösen können. Er sei Paul Radbuka, ein jüdischer Überlebender der Shoah, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Kind in London gelebt habe und von seinem Stiefvater, einem Nazi, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen nach Amerika gebracht worden sei. Er sucht seine Familie und ist überzeugt, in Lotty und ihren Freunden seine Verwandten gefunden zu haben.

Vic Warshawski gerät sehr schnell zwischen die Fronten zweier rivalisierender Bürgerrechtsgruppen. Da ist zum einen die Organisation des schwarzen Aktivisten Alderman Durham und zum anderen die seines orthodoxen jüdischen Gegenspielers, Joseph Posner, dem sich Radbuka angeschlossen hat. Die Aktionen beider Gruppierungen richten sich gegen die Versicherungsgruppe Ajax. Es geht um die Beiträge jüdischer Opfer des Holocaust sowie die finanziellen Reserven, welche die Versicherung auf Kosten schwarzer Sklaven erwirtschaftet haben soll.

Die beiden Fälle, die zunächst gar nichts miteinander zu tun haben, werden auf unterschiedlichen Ebenen miteinander verquickt. Der Schlüssel zur Lösung scheint in Lottys Geschichte zu liegen. Die Freundschaft der beiden Frauen ist einer harten Bewährungsprobe ausgesetzt, denn Lottys Überlebensstrategie ist es, sich nicht mit der Vergangenheit zu konfrontieren. Gegen deren ausdrücklichen Willen beginnt Vic die Vergangenheit ihrer Freundin zu erforschen.

Die charismatische Vic deckt auf, dass Lotty als junges Mädchen vor dem Ausbruch des Krieges mit einem der vielen Kindertransporte von Wien nach England gebracht wurde. Viele jüdische Familien versuchten damals, ihre Kinder in letzter Minute auf diese Weise zu retten. So auch Lottys Familie, von der - außer ihrem kleinen Bruder - niemand überlebte. Nach ihrer Ausbildung zur Ärztin emigriert sie nach Amerika und macht dort Karriere.

Und wer ist dieser Paul Radbuka wirklich, der sich öffentlich als Opfer des Holocaust darstellt? An ihn ist nur unter großen Schwierigkeiten heranzukommen, denn seine ehrgeizige Hypnosetherapeutin, die ihm beim Entschlüsseln seiner Vergangenheit hilft, blockt alle Versuche der Kontaktaufnahme aus medizinischen Gründen ab. (Der Fall Benjamin Wilkomirski lässt grüßen.)

Sara Paretsky ist Historikerin und hat zehn Jahre als Managerin in der Versicherungswirtschaft gearbeitet. Dieser Hintergrund ermöglichte es ihr, einen faszinierenden Krimi zu schreiben. Sauber und detailgenau recherchierte sie die unterschiedlichen Milieus des jüdischen Lebens in Wien und erkundete, wer auf welche Weise von der Notlage der Juden finanziell profitierte, sowie die Geschichte der Kindertransporte und deren Bedingungen.

Auch weiß sie vieles darüber, wie in der Nachkriegszeit in England Mediziner ausgebildet wurden und wie der Stand der psychoanalytischen Forschung zu überlebenden Kindern ist. Dabei stützt sie sich auf die Lektüre von Anna Freuds Aufzeichnungen über den Umgang mit einer Gruppe überlebender Kinder sowie auf neuere Forschungen über die Psychodynamik bei Therapien, bei denen es um erfundene jüdische Biografien (das so genannte Wilkomirski-Syndrom) geht.

Selten hat jemand diese Themen, die sonst meist nur durch fachwissenschaftliche Publikationen bekannt sind, so gut in die Alltagssprache übertragen und noch nie hat daraus jemand eine Krimihandlung gemacht.

Die Schwächen des Buches zeigen sich nur am Rande, wenn es um »Ilse Koch, die Wölfin« geht. Hier sind der Verfasserin einige Fehler und Ungenauigkeiten unterlaufen. Warum aus den osteuropäischen jüdischen DPs (displaced persons) »Vertriebene« werden, unter denen im deutschen Sprachraum eine ganz andere Personengruppe bezeichnet wird, ist nicht verständlich.

Trotzdem ist »Ihr wahrer Name« der beste der bisher zwölf Vic-Warshawsky-Krimis und für alle, die gern Krimis zu jüdischen Themen lesen, ein Must.

Sara Paretsky: Ihr wahrer Name. Piper Verlag, München 2002, 492 S., 19,90 Euro