Slavoj Zizesk »Die Revolution steht bevor«

Lehn dich an Lenin

Verliert euch nicht in partikularen Kämpfen, fordert Slavoj Zizek in seinem neuen Revolutionsreader.

Im Februar 2001 fand sich im Feuilleton der Zeit die überraschende Überschrift: »Von Lenin lernen«. Darunter zog Slavoj Zizek gegen die Hegemonie liberaler Ideologien zu Felde. Auf einem sehr roten Buch der Edition Suhrkamp steht nun: »Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin«. Haben wir etwas übersehen?

Optimismus des Intellekts, Teil zwei. Dass Zizek »Empire« als das Kommunistische Manifest des 21. Jahrhunderts apostrophierte, ist hinlänglich zitiert worden. Selbst wenn das Werk Negris und Hardts in den Fußnoten nicht genannt wird, bezieht sich Zizeks neues Buch darauf. Was »Empire« nicht leisten wollte, eine Handlungsanweisung zu geben, sucht Zizek in gewisser Weise nachzutragen.

Seine Rückkehr zu Lenin aber ist minimalistisch. Lenins Konzept, so Zizek, ist heute völlig inadäquat, zudem gescheitert. Der Begriff des Leninismus sei ein stalinistischer und mithin abzulehnen. Ein authentisches Proletariat, das sich nach einem Aufstand nicht blenden ließe, gibt es nicht. Trotzdem beharrt Zizek anders als Negri / Hardt auf der Unterscheidung zwischen einem materiell und einem immateriell produzierenden Proletariat. In den Produktionsstätten des multinationalen Kapitals finden sich die Ausgebeuteten, die Klasse, an der nach Marx »kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin verübt wird«. Und im Gegensatz zu »Empire« fordert Zizek eine neue revolutionäre Partei im Kampf gegen die kapitalistische Globalisierung, weil die neuen sozialen Bewegungen nicht »universell« seien.

Den Begriff des »Universellen« setzt Zizek gegen jenen des »Partikularen« ab. »Ein Plädoyer für die Intoleranz« (1998), auf das Zizeks Kritik an der globalisierungskritischen Bewegung aufbaut, explizierte beide Begriffe. Die partikularen Kämpfe, worunter Zizek postmoderne Identitätspolitiken versteht, sind nicht in der Lage, am Kapitalismus als solchem zu kratzen. Vielmehr werden sie vom Kapital integriert, dem segmentierte Gruppen neue Marktnischen eröffnen.

Im Lob hybrider Identitäten sieht er eine Ideologie postmoderner TheoretikerInnen; ein so genannter einfacher Mensch sieht den großen Spielraum möglicher Subjektivitäten weniger begeistert. Zizek plädiert für ein »Universelles«; immer dann, wenn ein Teil der Bevölkerung, der keinen Anteil an den gesellschaftlichen Entscheidungen hat, sich mit dem Ganzen identifiziert, agiert er im Geiste der Universalität. Er lässt sich keinen Platz in einem System zuweisen, das er sprengen will.

Von daher formuliert Zizek: »Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ist der Schurke ein neokonservativer Verteidiger des freien Marktes, der in aller Härte alle Formen der gesellschaftlichen Solidarität als kontraproduktiven Sentimentalismus zurückweist, während der Narr ein multikulturalistischer 'radikaler' Gesellschaftskritiker ist, der durch seine albernen Prozeduren dazu ausersehen ist, die bestehende Ordnung zu 'subvertieren', in der Tat aber als ihr Supplement dient.«

»Die Revolution steht bevor« ist ein brillanter (und zudem hervorragend übersetzter) Essay, voller dialektischer Pointen und Polemiken, aber auch voller höchst suggestiver Fragen. Zizek verschmelzt in seinem Denken den Marxismus und die Psychoanalyse Lacans, darin den Lehren Herbert Marcuses zeitversetzt strukturell durchaus ähnlich. Beide betreiben eine Kritik der Toleranz, die Marcuse repressiv nannte. Gegen diese Toleranz, die alles tolerieren kann, weil sie nichts ernst nehmen muss, plädiert Zizek auch für einen Kampf um ideologische Hegemonie. Marcuse hatte Ähnliches im Sinne, die Toleranz gegenüber der extremen Rechten muss gebrochen, die der Linken gegenüber gestärkt werden. Sein Kriterium der Unterscheidung ist geschichtlich: ob eine Bewegung dem Status quo oder emanzipatorischen Zielen verschrieben sei.

Zizek kritisiert mit Lenin den Staat als solchen. In der parlamentarischen Demokratie kann über die Form des Zusammenlebens, eben weil sie auf dem Kapitalismus beruht, nicht verhandelt werden. Die Sozialdemokratie des Dritten Weges stellt die Frage nach der neoliberalen Globalisierung nicht explizit, antwortet auf deren Auswirkungen mit multikultureller Toleranz. Und sowohl die extreme Rechte als auch die Linke werden aus der parlamentarischen Demokratie ausgeschlossen.

Angesichts der desolaten Lage der heutigen Linken fordert Zizek einen Kampf um die Zulassung zum politischen Feld. Die extreme und populistische Rechte stellt ja zuweilen die Frage nach dem multinationalen Kapital. Ihre Antworten sind rassistisch, antisemitisch, kurz: sie sind das Gegenteil der Emanzipation. Aus diesem Grund soll die Linke die Ethik durchaus politisieren. In Österreich, wo Haiders FPÖ an die Regierung kam, trat eine Phalanx von Autoren auf, die sich übers Moralisieren der Linken echauffierte; das habe mit sachlichen Argumenten nichts zu tun. Aber gerade das ethische Argument, dass es einfach nicht angehe, mit dem Nationalsozialismus zu kokettieren, dass Rassismus, Sexismus, Homophobie und Antisemitismus keinen Platz der Verantwortung bekommen dürften, müsse stark gemacht werden, um die Rechte »als ethisch böse, als moralisch unakzeptabel, als den auszugrenzenden Paria« zu denunzieren. Wirkliche Toleranz, so die untergründige These Zizeks wie Marcuses, kann es erst in der befreiten Gesellschaft geben.

Das »Reale« ist bei Zizek scheußlich. Nietzsche sagte einst: »Die Wahrheit ist hässlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn.« Zizek würde sagen, wir haben Ideologien und gesellschaftliche Utopien. Der 11. September hat in dieser Lesart die ideologische Realität des Westens gesprengt, indem ins Bild kam, wie »real« gelitten und ausgebeutet wird, in der Welt, in der wir immer stärker im Virtuellen leben. »Man darf die Realität nicht für eine Fiktion halten - man muss in der Lage sein, in dem, was wir als Fiktion erleben, den harten Kern des Realen zu erkennen, den wir nur dann aushalten können, wenn wir ihn fiktionalisieren.«

Zizek zieht die folgende Parallele: Auf dem XX. Parteitag der KPdSU mit der gar nicht so geheimen Geheimrede Chruschtschows über Stalins Verbrechen wurden einige Anwesende ohnmächtig, einer erlag einem Herzinfarkt. Weil der »große Andere« (die symbolische Ordnung Lacans), an den der eigene Glauben delegiert wird, verschwindet. In diesem Sinn sollen zeitgenössische Hegemoniekämpfe versuchen, den »großen Anderen« der kapitalistischen Globalisierung zu stürzen.

Mit dem Fall der Mauer und dem Beginn der Herrschaft der erdballumspannenden Freiheit wurde der Linken nicht zuletzt ihre Sprache genommen. Die alte Sprache und die alte Grammatik freilich sind für die Beschreibung zeitgenössischer Gesellschaft weitgehend inadäquat geworden. Negri und Hardt forderten außer einem WeltbürgerInnenrecht, freier Migration, einem Grundeinkommen und der Kontrolle über die Medienproduktion eine neue Sprache für die Linke, die unterschiedliche Kämpfe vernetzen und die Fragen der Zeit richtig stellen soll.

Und Lenin? Dessen Wahnsinn beschwört Zizek, der ein wenig davon wohl auch für sich selbst reklamiert. In den Aprilthesen forderte Lenin 1917 die Revolution, und wurde für verrückt erklärt. Heute findet sich in ihm, wie 1914, als sich die europäische Sozialdemokratie dem Kriegswahn verschrieb, »das einzigartige Aufscheinen der Wahrheit der Gesamtsituation«. Was Zizek an Lenin rettet, ist, über Lenin beispielsweise auch im akademischen Rahmen, wo Zizek zitiert werden darf, zu sprechen. Lenin bleibt als Signifikant, »der eine Reihe allgemeiner Gedanken in einen wahrhaft subversiven Theorieentwurf verwandelt«.

Slavoj Zizek: Die Revolution steht bevor. Suhrkamp, Frankfurt 2002, 190 S., 9 Euro.