Umzug eines linken Buchladens in Los Angeles

Die Midnight-Crisis

Der legendäre linke Buchladen Midnight Special in Santa Monica muss umziehen und weiß nicht, ob er das verkraftet.

Ein grauer Morgen in Santa Monica. Es ist noch früh genug, um ohne Ticket parken zu können. Die Wohnungslosen, die auf der Promenade der 3. Straße übernachtet haben, packen jetzt ihre Sachen und ziehen weiter. Die Promenade ist eine Art bessere Fußgängerzone, die in einer gigantischen Mall endet. Im Einkaufszentrum ist es noch ruhig. Ein paar Stunden später kaufen hier sorgfältig geschminkte Frauen und gut gekleidete Männer in sauberen hellen Turnschuhen in den Filialen weltumspannender Ketten saubere helle Turnschuhe.

Wir befinden uns noch nicht im höchsten Preissegment von Los Angeles, aber schon die Mittelklasse muss sehr genau hinschauen, was im Einkaufskorb landet, damit es an der Kasse keine böse Überraschung gibt. Die künstliche Idylle wird nur von den zahlreichen Obdachlosen irritiert. Santa Monica gibt sich jedoch liberal, hier dürfen die Leute auf der Straße schlafen, wenn ein Kunde sich jedoch gestört fühlt, greifen die Sicherheitskräfte natürlich ein.

Inmitten dieser Ruhezone des America Incorporated liegt der Buchladen Midnight Special. Zum Namen gibt es eine schöne Geschichte. Der Legende nach fuhr ein Zug nahe dem Sugarland Gefängnis von El Paso/Texas um Mitternacht nach Norden. Die ausschließlich schwarzen Gefangenen glaubten, dass derjenige, dem das Scheinwerferlicht des Mitternachtszuges durch die vergitterten Fenster schien, der nächste sei, der freigelassen würde, wie es ein altes Blueslied verkündet. Etwa zur selben Zeit gab es im Staat Texas einen Gouverneur, der zum Tode verurteilte Gefangene gelegentlich um Mitternacht begnadigte, wonach Begnadigungen fortan Midnight Special genannt wurden.

Midnight Special auf der Promenade der 3. Straße ist eine Institution. In Los Angeles ist er die Anlaufstelle für kritische Journalisten, Autoren, Wissenschaftler und Studenten. All diejenigen kommen hierher, die abseits des Mainstream Positionen suchen, Literatur gegen den Krieg und für Persönlichkeitsrechte. Feministische Theorie und Praxis sowie Texte, die sich mit den antirassistischen Kämpfen in der Geschichte und der Gegenwart beschäftigen, machen einen Großteil der Bestände aus. Ansonsten gibt's Lyrik, Publikationen über Medien, dies und das. Momentan stehen neue Bücher, die sich mit dem 11. September beschäftigen, im Schaufenster. Auf dem Cover eines großen Bildbandes prangt der Titel: »You are being lied to«. Das Buch listet Propagandalügen der US-Medien auf.

»Ich will nicht, dass dieser Buchladen ein Refugium in dieser Welt ist«, sagt Margie Ghiz in einem ruhigen Moment, »ich will, dass dies die Welt selbst ist.« Sie glaubt an die Funktion einer linken Gegenöffentlichkeit und hofft, dass durch die Bücher, Zeitungen, Plakate, Gesprächskreise, Lese- und Filmabende die offizielle Version der Wahrheit kontrastiert werden kann. Früher habe es ein vergleichsweise dichtes Netzwerk linker und alternativer Medieninitiativen gegeben. Die Blütezeit einer dissidenten politischen Kultur waren die siebziger Jahre. »Es gab solche Läden im ganzen Land. Hier haben wir das erste Mal eine andere Geschichte der USA erzählt. Nun sind wir die letzten in Los Angeles.«

Tatsächlich haben sich die Protestbewegungen und Initiativen zerstreut, nachdem sie einige ihrer Ziele erreicht hatten. So wurde die affirmative action als Quotenregelung für Schwarze in staatlichen Institutionen, zum Beispiel den Universitäten, etabliert. »Nach dem Krieg«, sagt Margie und meint damit Vietnam, »ging es mit der Mobilisierung abwärts. Wir hatten einiges erreicht und haben nicht verstanden, dass es nur ein Anfang war.« Der Aktivismus hat die bleierne Zeit kaum mehr erreicht. Heute ist in Kalifornien die Praxis von affirmative action längst Vergangenheit, in den nächsten Wochen wird der Supreme Court über das Gesetz insgesamt zu urteilen haben.

Margie Ghiz, in L.A. geboren und in Santa Monica aufgewachsen, übernahm einen kleinen Buchladen und siedelte ihn in der der 3. Straße an, wo sich damals alternative Cafés, Schmuckläden und Bars drängelten. Durch Tausende Stunden freiwilliger Arbeit wurde der Midnight Special aufgebaut und etabliert.

»Der Besitzer des Hauses, Wally Marks, hat unsere Subventionierung durch niedrige Mieten als Verpflichtung der Szene gegenüber verstanden.« Nur so konnten sie überleben. Margie nennt ihren Vermieter Marks einen linken Kapitalisten. »Er behauptete oft: 'Ich habe einen Traum und du führst ihn aus.'«

Dieser Traum ist in der Promenade der 3. Straße demnächst ausgeträumt. Der Midnight Special muss sich nach einer neuen Bleibe umsehen. Die junge Generation der Marks-Familie hat das Ruder übernommen und die Geschäftsbedingungen geändert. Zuungunsten der Mieter natürlich. »Es ist eine Sensation, dass Noam Chomsky mit seinem Buch '9/11' in die Bestsellerlisten der New York Times kommen konnte«, wundert sich Margie. »Vielleicht haben wir einen Beitrag dazu leisten können.«

Margie verkaufte in ihrem Laden in einem halben Jahr fast 1 300 Exemplare dieses Buches. Den Bestseller der Poplinken, »Empire« von Toni Negri und Michael Hardt, wusste die an tradioneller linker Literatur geschulte Buchhändlerin zunächst nicht so recht einzuschätzen. So schickte sie das Werk erst mal an verschiedene Leute in den Gefängnissen, die es lesen und für sie bewerten sollten. Erst als die inhaftierten Gewährsleute ihr Okay gaben, eroberte das postmarxistische »Empire« die Auslagen des Ladens, in dem das »Kommunistische Manifest« noch immer ein Renner ist.

Ob in dieser Stadt, in der über 90 Sprachen gesprochen werden und die von Menschen aus aller Welt besucht wird, ein paar Außenseiterpositionen Platz haben, hängt auch von der Existenz solcher Läden wie Midnight Special ab. Doch die Zukunft des Ladens ist keineswegs gesichert.

Margie Ghiz ist sich darüber im Klaren, dass der Umzug sie in eine Existenzkrise stürzen könnte. Und noch gibt es kein Ersatzquartier. Zwar hat sie ein paar wohlwollende Briefe erhalten, in denen ihr von verschiedenen Stellen versichert wird, dass man ihr gerne bei der Suche nach einem neuen Ladengeschäft behilflich sein wolle, aber Lösungen gibt es nicht.

Sogar vom Bürgermeister der Stadt Los Angeles bekam sie ein nettes und nichts sagendes Schreiben. Die Angebote, die sie bisher geprüft hat, entpuppten sich als Nieten. In einer Mall protestierten andere Geschäftsleute gegen die Ansiedlung des linken Projekts. Ein anderes Mal, als sie Stadtplanern erläuterte, was sie an Miete zu zahlen in der Lage ist, verstanden diese das als Beleidigung.

»Wir sind zwar an Obdachlosenprojekten hier beteiligt, aber wir hängen nicht an Santa Monica.« Allerdings, so gibt sie zu, hat sich der Laden auch deshalb halten können, weil Santa Monica reich ist. Die Käufer akzeptieren etwas teurere Bücher, sie wissen, dass sich ein unabhängiger Buchladen nicht die Preise der Handelsketten leisten kann.

Draußen ist es immer noch grau, aber die Promenade hat sich belebt. Neben dem Midnight Special verkündet ein Schild am Bauzaun, dass hier in Kürze die Filiale einer großen Café-Kette eröffnet.