Literatur: Luther Blissets »Q«

Lies das, Multitude!

»Q«, der historische Abenteuerroman des italienischen Autorenkollektivs Luther Blissett war im Land, wo die Zitronen blühen, ein Bestseller. Jetzt liest man es auch hier.

Ist das ein Gewusel: Surrealisten, Situationisten, Lettristen, Neoisten, Fluxus, Dada. Alle und alles vereinigt in einem Buch von rund 800 Seiten. Nicht schlecht für den kleinen Kreis der Eingeweihten, der das zu decodieren weiß. Der Rest liest »Q« von Luther Blissett andersrum: Wui, das war eine wilde Zeit damals im 16. Jahrhundert, das kann sich ja heute kaum einer mehr vorstellen. Da wurde Revolution gemacht und Gegenrevolution, dass es einem nur so um die Ohren pfiff. Kein Wunder, dass ein Luther Blissett das Szenario in einem Interview mit dem NDR denn auch mit den Worten »Shakespeare im Wilden Westen« beschrieb.

Wild, wild south war schon, als ich zum ersten Mal Luther Blissett begegnete, 1995 in Bologna. Zu dritt wollten wir ihn treffen, doch an der ausgemachten Wohnadresse fehlte jede Spur von ihm. Ohne uns in dieser Stadt der Arkaden auszukennen, suchten wir einen der Plätze auf, die nach Begegnung aussahen, und bestellten Café und Cornetti. Am Nebentisch saß Luther. Er hieß Meran, was zwar auch nicht sein richtiger Name war, aber vermutlich sein Geburtsort. Meran stellte uns einen weiteren Luther vor. Einen Piraten, der sich in den Ätherwellen von Radio Sherwood und ähnlichen Sendern wieder einmal auf der Flucht vor der Staatsmacht befand. Das war Federico, unser Gastgeber bzw. Luther Blissett. Als wir in die Wohnung zurückkehrten, hing an der Zimmertür ihr Porträtfoto: schwarzweiß, streng, bürokratisch - Blissett sah aus wie die Bulldogge des rumänischen Zentralkomitees.

Die Antwort auf die alte Germanistenfrage, wie Text und Autor zusammenhängen, ist bei Luther Blissett zum Projekt geworden, das selbst Redakteure des amtlichen Imkerblattes inzwischen begriffen haben. Es geht um die identity, stupid! Das merkt man am Romanhelden: einem Freigeist an den verschiedenen Fronten der Reformation, der unter den Namen Brunnengert, Niemanson, Schaliedecker usw. auftritt. Und das sieht man an Blissett selbst, dem Decknamen für Kunst, Kultur und Kalauer. Nach Aussagen der vier angeblich echten »Q«-Autoren machen sie lediglich 0,04 Prozent des Gesamtprojekts aus. (Falls ich von »ihnen« überhaupt sprechen darf und nicht einer Identitätslogik auf den Leim gehe, die sowieso die Wurzel vielen Übels ist.)

Who is Q? Und wer ist Luther?

Italien fiel beim Erscheinen des Romans 1999 natürlich erstmal voll darauf rein. Wer verbirgt sich denn nun wirklich hinter dem Autorenpseudonym? Und kann man überhaupt kollektiv schreiben? So lauteten die Fragen. Der beliebteste Autorenkandidat war Umberto Eco. Er hatte in »Der Name der Rose« schon Versteckspielqualitäten in historischer Umgebung bewiesen. Wie die Blissetts in einem Interview erklärten, unterscheidet sich ihr Projekt jedoch sehr deutlich von jenem Umberto Ecos.

Während er einen semiotisch stimmigen Roman konstruieren wollte, bezeichneten sie sich selbst als »Experten der Medienmanipulation«, die in der Lage sind, einen Roman zu schreiben, der sich 100 000 Mal verkauft. Gesagt, getan. Wie so oft erwies sich die italienische Linke als massenkompatibel und innovativ - siehe die Sozialforen oder Negri. »Q« entwickelte sich zum Überraschungsbestseller des Jahres. (Im deutschsprachigen Raum wurden nach Angaben des Verlages bisher erst 25 000 Exemplare verkauft.) Dass es dennoch etwas mit der Affinität zu Eco auf sich hat, beweist die beliebte Rubrik »Kunden, die dieses Buch gekauft haben, haben auch diese Bücher gekauft« im Online-Bookshop von Amazon. Unter den gelisteten Werken befindet sich Ecos »Baudolino«.

Für die Cowboys und Gendarmen der Identität geht's in »Q« jedenfalls ums Eingemachte: Moderne gegen Antimoderne, Aufklärung gegen Backlash, Utopien versus Restauration, all das verpackt in die wirre Zeit des 16. Jahrhunderts von Reformation und Gegenreformation in Europa. »Q« ist ein wirklich kurzweiliges Politbuch, das als Manual für die Gegenwart gelesen werden kann (Obacht, Multitude!), aber auch als historischer Abenteuerroman. Mit utopischen Wiedertäufern, standhaften Bauernaufständen, aufmüpfigen Handelsleuten und Buchdruckern, kurz aufflackernden Momenten der Freiheit, zahlreichen vernichtenden Niederlagen.

Gleichzeitig wird die Geschichte zweier Erzfeinde geschildert. Da ist der Erzähler, der geradezu penetrant die Ideale von Freiheit und Widerstand verkörpert, und da ist sein reaktionäres, aber um nichts weniger verschlagenes Pendant »Q«, der Meisterspion des Großinquisitors und späteren Papstes Gian Pietro Carafa.

Getrennt und doch gemeinsam balgen sie sich durch das Tollhaus Europa, um ihren Ideen zum Sieg zu verhelfen. (Bis zum unweigerlichen Showdown.) Sinnerfülltes Leben, Selbstbestimmung der Massen, die Möglichkeit zu radikal Neuem auf der einen Seite. Der Glaube an die göttliche Ordnung, an den sozialen Sinn von Tradition und Überlieferung auf der anderen. »Was geschehen ist, wird wieder geschehen. Was man getan hat, wird man wieder tun. Es gibt nichts Neues unter der Sonne.« Was da so schwer nach dem 20. Jahrhundert klingt, stammt aus dem Alten Testament, Buch Kohelet (oder: Quohelet) - und ist das implizite Prinzip von »Q« und all seiner Helferlein.

Fußball mit Karen Elliot

Die persönliche Begegnung mit Luther Blissett war wirklich nett. Zu Hause in Wien interessierte das aber kaum jemanden. Theorie musste her. Wir lasen uns Wissen über Guy Debords »Gesellschaft des Spektakels« an. Und schrieben aufgeregte Artikel mit Sätzen wie: »Zentrale Idee der Situationisten war und ist die Konstruktion von Situationen. In unserer Welt des Medienspektakels, in der ständig künstliche Situationen geschaffen werden, wollen die Situationisten das auf ihre Weise tun: der Welt der Bilder ihre eigene Fratze vorhalten.«

Falsch war das nicht. Und ein paar Brosamen sozialen Kapitals haben sich so auch ergeben. U.a. wurden wir Jahre später zu einem Fußballspiel auf drei Tore eingeladen. Trialektik, kollektives Pseudonym und »Psychogeographie« führten in Österreich des Weiteren zu einer Durchquerung von Graz - die Route scharf mit dem Lineal gezogen - und zum heiteren Identitätsspiel eines ehemaligen Untergrundphilosophen unter dem Namen Karen Elliot.

Während »Q« auf die Unabänderlichkeit des Schicksals pocht und paradoxerweise alles tut, damit das auch wirklich so bleibt, stimmen beim Romanhelden Handeln und Absicht überein. Er nimmt die Geschichte in die Hand, treibt sie voran, macht sie. Und sie ihn. Warum das alles passiert, bleibt irritierend ungeklärt. Worin liegt eigentlich die Motivation dieses Handlungsreisenden in Sachen Freiheit?

Aktives Pfadfindertum

Diese Irritation verspürte ich schon bei der ersten Begegnung mit Luther Blissett in Bologna. Diese kindliche Freude, über ein Geheimwissen zu verfügen, das nicht bloß als Distinktionsgewinn verbucht werden kann, sondern wie zum Hohn die Wissenden erst mit einer Identität versorgt. Eine Art Pfadfinder- und Pfadverwirrerromantik, die alles Weibliche ausschließt. Schon damals in Bologna war kaum eine Frau zu finden, die sich aktiv an der Subversion qua Verwirrungsheckmeck beteiligt hätte.

Auch die Frauenfiguren von »Q« sind vergleichsweise blass oder ganz ausgefallen. Sie kommen vor als Unterstützerinnen der handelnden Revolutionäre: »stark, energisch, mit stolzem Busen«, wie es Ulrich Hartmann aus dem Italienischen übersetzte. Oder sie führen einen Puff in Venedig, was an weiblicher Partizipation auch schon alles ist. Freiheitshelden oder Freiheitsfeinde, gemeinsam sind ihnen die Eigenschaften: männlich, intellektuell, heterosexuell. Sie sind immer zur Stelle, wenn irgendwo in Europa ein Zipfel Freiheit am Horizont erscheint. Und immer fort, wenn aus der liebevoll abwertend beschriebenen Masse der Bauern oder Städter (»derb, aber ehrlich«) gerade wieder ein paar um einen Kopf kürzer gemacht werden.

Da braucht man gar nicht auf die Idee einer heimlichen Seelenverwandtschaft zwischen »Q« und dem Helden zu verfallen (oder darüber zu spekulieren, dass es sich um dieselbe Person handelt), um zu sehen, dass man dieses Buch zu Weihnachten keinem Mädchen schenken sollte. Es ist eindeutig was für Jungs.

Luther Blissett: Q. Piper, München 2002, 799 S., 22,90 Euro